Читать книгу Die Fuge der Liebe - José Luis de la Cuadra - Страница 12
Berlin, St. Michael Kirche, ein Park am Oranienplatz, 12. Juni 2010
ОглавлениеEs war mir gelungen, nach meiner Rückkehr nach Berlin richtig auszuspannen. Ich hatte lange Spaziergänge gemacht, hatte die Charlottenburg besucht und war im ehemaligen Ostteil Berlins herumflaniert. Vor der Musikhochschule Berlins war ich lange stehen geblieben und hatte meine Gedanken nochmals durch vergangene Zeiten fliessen lassen. Ich spürte Wehmut, aber auch Dankbarkeit, eine so kostbare Zeit in dieser Stadt verbracht zu haben.
Vor der St. Michael Kirche, ganz in der Nähe meiner Pension, sass ich mit dem Rücken zur mächtigen Kirchenwand schon den ganzen Nachmittag am Boden. Hier fand ich zum ersten Mal die Musse, über die letzten Tage nachzudenken. Ich war noch immer traurig, dass ich meinen Freund und Mentor nicht mehr lebend angetroffen hatte. Diese schicksalhafte Wendung hatte etwas in meinem Innern verändert. Mein Aufenthalt in Berlin bekam eine ganz andere Bedeutung. Der ursprüngliche Enthusiasmus war einer leisen Erwartungsangst gewichen. Ich konnte das Geschehene immer noch nicht richtig einordnen und hinterfragte meine Visionen des melancholischen Mannes, der immer wieder da und dort auftauchte und der mich an ein Portrait Robert Schumanns erinnerte.
Eine tiefe Verbundenheit mit diesem Komponisten begleitete mich zwar seit Jahren. Aber was bedeutete es, wenn er sich in mein Leben zu drängen versuchte? Ich hatte viel über seine letzten Lebensjahre gelesen. Alkoholmissbrauch, Angstanfälle, Verstimmungen, Schlafstörungen, Ehekrise, das letzte von acht Kindern unterwegs, Entmachtung als städtischer Musikdirektor in Düsseldorf. Dann - so die Ueberlieferung - Sturz in den Rhein in selbstmörderischer Absicht. Einweisung in eine Irrenanstalt.
Die Historiker waren sich uneinig über die Ursache seiner geistigen Verwirrung. Unklar war auch, inwieweit sein Gemütszustand das kompositorische Werk beeinflusst hatte. War ich durch den Tod seines berühmten Nachkommen dermassen betroffen, dass ich ebenfalls begann, an Sinnestäuschungen zu leiden? Allerdings beruhigte mich die Tatsache, dass ich in der Lage war, das Erlebte als mögliches Trugbild zu entlarven. Durch mein Medizinstudium wusste ich, dass wahnhafte Wahrnehmungen vom Kranken kaum je in Zweifel gezogen wurden. Und trotzdem hatten die Ereignisse in mir den Samen des Zweifels gelegt und ich begann mich ernstlich um meine geistige Gesundheit zu sorgen.
Auch die flüchtige Begegnung mit Eli hatte mich verwirrt. Den mir zugesteckten Zettel mit der Tonfolge wollte ich nicht wieder aus meiner Jackentasche hervorholen. Ich wusste nicht warum, aber etwas in mir wehrte sich dagegen. Als gäbe es danach kein Zurück mehr. Als würde mein Schicksal durch eine beängstigende Entdeckung eine bedrohliche Wendung nehmen.
Schliesslich siegte aber die Neugier und ich griff in meine Tasche und holte den zerknitterten Zettel hervor. Ich betrachtete die eigentümliche Notenspirale lange. Nein, es ergab sich kein Sinn, keine Logik aus diesem Tongefüge. Es waren zweifellos Notenköpfe, aber es fehlten die absolute Tonhöhe und die Richtung der Klangfolge. Man konnte keine Musik darin entdecken, auch nicht eine spezifische Melodie. Die Noten schienen in Eile und ohne System, ja, in widersinniger Abfolge niedergeschrieben. Weshalb hatte mir Eli diesen Zettel überbracht? Wollte sie mir etwas mitteilen? Und wo war sie überhaupt?
Neben mir hatte sich ein jüngerer Mann mit Bierdose und Zeitung hingesetzt. Er schien verwahrlost und ich konnte seinen schweissigen Körpergeruch wahrnehmen. Plötzlich fiel mein Blick auf die Schlagzeile seiner Zeitung: Einbruch in der Wohnung des verstorbenen Musikprofessors Siegfried Gottesmann, Motiv und Täter unbekannt.
Meine Ruhepause war beendet. Ich konnte es nicht fassen. Sollten sich die Ereignisse noch einmal überschlagen?
„Entschuldigen Sie bitte, könnten Sie mir für einen Augenblick die erste Seite ihrer Zeitung überlassen?“
„Hm“ war alles, was ich von meinem Sitznachbarn hörte. Aber er reichte mir das gewünschte Blatt. Ich suchte verzweifelt nach mehr Angaben über den Vorfall. Offenbar war die Wohnung richtiggehend verwüstet worden. Die Polizei wusste nicht, wonach die Täter gesucht hatten. Es waren keine Wertgegenstände abhanden gekommen. Die Enkelin des Musikprofessors war Zeugin des Einbruchs gewesen und noch in Anwesenheit der Kriminalpolizei plötzlich verschwunden! Gemäss den ersten Ermittlungen sollten die Täter - es seien zwei gewesen - einen Koffer voller Noten mitgenommen haben. Mein Puls raste wild.
„He, ist Ihnen nicht gut?“ So viel Aufmerksamkeit hatte ich meinem Nachbarn nicht zugetraut.
„Doch, doch, ich meine ..., vielen Dank für das Zeitungsblatt.“
Ich erhob mich eilends. Nachdem ich mich vergewissert hatte, dass der Notenzettel wieder in meiner Jackentasche ruhte, entfernte ich mich in Richtung Oranienplatz. Im Park setzte ich mich auf eine Bank. Die Sonne warf ihre letzten Strahlen auf die Hecken und Büsche der Anlage und ein milder Frühsommerwind frischte die noch deutlich spürbare Hitze auf.
Und dann kam sie daher, direkt auf mich zu. Schon aus der Ferne konnte ich ihre mädchenhafte Gestalt erkennen. Sie hielt den Kopf vornüber geneigt und das schwarze Haar fiel trotzig über ihr Gesicht. Ein eng anliegendes, gelbes T-Shirt betonte ihre kleinen Brüste. Die zerfetzte Jeans-Hose bedeckte kaum die Hälfte der schlanken Beine. Eli war barfuss und ihr Gang glich dem einer Raubkatze kurz vor dem Absprung. Als sie vor mir hielt, hob sie ihre Mähne mit der linken Hand und blickte mich mit ihren tiefgrünen Augen an.
Da stand sie und sagte ... nichts! Ich fühlte mich leicht unwohl und rückte etwas zur Seite, um ihr Platz zu machen. Aber sie stand einfach nur da und ihre Pupillen glitzerten in der untergehenden Abendsonne. Ich war unfähig, auch nur ein Wort über meine Lippen zu bringen und betrachtete dieses unfassbar schöne und unnahbare Wesen. Ich glaubte, mich in ihre Augen zu stürzen und mich darin zu verlieren. Bevor ich mich wieder fasste, verhallte in meinem Inneren eine der Kinderszenen von Robert Schumann: bittendes Kind.
Die Situation wurde langsam unerträglich. Es musste einfach ein Wort fallen.
„Eli!“
„Ja ... .“
„Schön, dich zu sehen.“
„Ja.“
„Wo kommst du her, wie hast du mich gefunden?“
„Ich komme aus den Untiefen des menschlichen Daseins und habe dich schon bei deiner Ankunft in der Pension Rosenblum vom Park aus gesehen.“
„Nun, willst du dich nicht neben mich setzen und mir erzählen, wie es dir geht?“
„Nein, es geht dich nichts an, wie es mir geht.“
„Weshalb suchst du mich denn auf?“
„Ich weiss es nicht, ich war gerade in der Gegend.“
„Es tut mir Leid, dass dein Grossvater gestorben ist, ich wollte ihn besuchen.“
„Mir tut es nicht Leid, ich habe ihn umgebracht.“
„Was ..., wie ..., was sagst du da?“
„Ich sage, was du gehört hast. Er war ein Scheusal.“
„Sag das nie wieder, ich bitte dich!“
„Ich sage was ich will. Du hast ihn nur von seiner guten Seite her gekannt. Ich spreche nicht von seiner genialen Musikalität.“
„Ich habe erfahren, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist.“
„Es ist mir scheissegal, was du erfahren hast. Ich weiss, was ich getan habe. Ich bin ein Ungeheuer.“
„Eli ..., nun, bitte setz dich jetzt zu mir, sonst gehe ich auf der Stelle weg. Du hast mir einen Zettel mit einer merkwürdigen Notenschrift zugesteckt und ich will wissen, was es damit auf sich hat.“
Unbeholfen liess sich Eli am äussersten Ende der Bank nieder und verschränkte ihre Arme wie ein Schulkind in ihrem Schoss. Dann sagte sie wieder nichts mehr. Sie sass einfach da. Ich war verzweifelt.
„Eli, ich kann mit der Notenschrift nichts anfangen.“
„Ich auch nicht.“
„Woher hast du sie denn?“
„Mein Grossvater hat mir diese Noten hingekratzt und den Zettel vor meine Füsse geworfen. Just bevor ich ihn in den Tod stiess.“
„Und warum hat er das getan?“
„Weil ich ihn bis zum Aeussersten geärgert habe. Ich drängte ihn, mich endlich in sein Wissen über eine verschollene Fuge Robert Schumanns einzuweihen. Ich weiss, dass er im Begriff war, die einzigartige Tonfolge zu entdecken, die meinen Ahnen zu seiner letzten Komposition gebracht hat. Du hast an der Gedenkfeier gehört, dass dieser Fuge eine archetypische Kraft zugesprochen wird. Angespornt durch Hinweise in einem Brief Schumanns experimentierte mein Grossvater unermüdlich an einem Urthema. Es sollte ihm ermöglichen, das Grundgerüst der bis heute unentdeckten Komposition neu zu erschaffen. Fragmente dieses Themas habe ich ihn unzählige Male spielen gehört, und an bestimmten Stellen wurde ich durch eine eigenartige Kraft berührt. Ich spürte immer, wenn er sich der richtigen Klangfolge näherte. Aber dieser sture Bock wollte nie mit mir über dieses wichtigste aller Werke Schumanns sprechen. Als Spross dieses Musikerstammes hatte ich doch das Recht, in dieses Geheimnis eingeweiht zu werden.“
„Du hast dich mit ihm kurz vor seinem Tod gestritten?“
„Und wie! Ich habe ihn im Streit umgebracht. Ich habe ihn so lange gestossen, bis sein Dickschädel auf seinem Flügel zertrümmerte.“
„Und kurz zuvor hat er dir diese Notiz zugeworfen?“
„Ich habe den Zettel erst aufgehoben, als alles vorüber war.“
„Du hättest ihn also nicht umbringen müssen. Zumindest nicht, falls die Notenschrift tatsächlich die Information enthält, die du verlangt hast.“
„So ist es. Dabei wollte ich gar nicht so viel. Ich wollte nur mit ihm von Mensch zu Mensch darüber sprechen. Ich wollte einfach nur seine Enkelin sein.“
Eli hatte sich etwas entspannt. Sie sass nicht mehr so verkrampft und schülerhaft neben mir. Ich glaubte sogar, eine winzige Bewegung in meine Richtung wahrzunehmen. Als ich sie anblickte, kullerte eine kleine Träne aus ihrem linken Auge und ich konnte einen von ihr ausgehenden, frühlingshaften Duft wahrnehmen. Der Duft war grün, wie ihre Augen. Es war zum Verrücktwerden, aber ich konnte ihre Augen riechen.
„Eli, wäre es nicht einfacher, die verschollene Fuge zu suchen, als sich ob einer mysteriösen Tonfolge aufzureiben?“
„Wenn du mir sagst, wo ich suchen soll, so bin ich dabei.“
„Wo ist der Brief, den Schumann an seine Gattin geschrieben hat?“
„Keine Ahnung.“
„Wo könnte er sein?“
„Keine Ahnung. Zu Hause? In der Musikhochschule? Ich weiss es nicht.“
„Warum denn in der Musikhochschule?“
„Mein Grossvater hat dort viel unterrichtet. In seinem Unterrichtszimmer führte er eine gewaltige Bibliothek mit musikalischen Schriften, Noten, Akten und Dokumenten der Hinterlassenschaft Schumanns. Es gibt dort Schränke, die er stets verschlossen hielt.“
„Hast du Zugang zu dieser Bibliothek?“
„Weiss nicht. Müsste ich versuchen.“
„Aber um Himmels Willen, Eli, du bist doch die einzige Hinterbliebene dieser Musikerfamilie! Du wirst auch die Erbin der Hinterlassenschaft deines Grossvaters sein.“
„Es würde mich nicht erstaunen, wenn Gottesmann sein gesamtes Vermögen und all seine musikhistorischen Dokumente einer Stiftung oder dem Schumann-Haus vermacht hätte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er seine Versagerenkelin berücksichtigen wollte.“
„Von welchem Schumann-Haus sprichst du?“
„Nun, von der ehemaligen Heilanstalt in Bonn-Endenich.“
„Du meinst die Irrenanstalt, in welcher Schumann seine letzten zwei Lebensjahre verbracht hat?“
„Genau diese.“
„Aus dieser Nervenklinik hat Schumann doch den Brief an seine Gattin geschrieben. Und an demselben Ort hat er noch komponiert. Vielleicht sollte man einmal dort vorbeischauen.“
„Josch, du....“
„Ja, was?“
„Guten Abend, Herr Vonstahl. Ihre Hausmutter aus der Pension Rosenblum sagte mir, ich würde Sie im Park antreffen. Mein Name ist Hubert Bärmann, Kriminalkommissar der Kriminalinspektion Berlin Mitte. Ich suche Frau Elisabeth Schrag, die Enkelin des verstorbenen Siegfried Gottesmann. Sie sollen womöglich wissen, wo sie sich aufhält.“
„Ja klar. Da sitzt sie ja vor Ihnen.“
Ich drehte mich zu meiner Gesprächspartnerin um: Da war niemand mehr.
„Nun, ich meine....., da sass sie eben noch .“
„Herr Vonstahl, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie mir die Anschrift von Frau Schrag geben könnten. Es handelt sich um den Todesfall Gottesmann und um den Einbruch in seiner Wohnung. Sie haben sicher darüber gelesen. Frau Schrag sollte mir bei der Inventarisierung der verwüsteten Wohnung behilflich sein. Es gibt sonst niemanden, der sich im Heim des Musikers auskennt.“
„Ich wäre Ihnen gern behilflich Herr Kommissar, aber wie Sie sehen, ist die Gesuchte gerade verschwunden. Man könnte sagen, sie meidet Sie wie der Teufel das Weihwasser. Beim besten Willen kann ich Ihnen nicht sagen, wohin sie entwichen ist. Und noch viel weniger weiss ich, wo sie sich normalerweise aufhält. Die Frau ist so flüchtig wie der Duft des Frühlings und so unfassbar wie der Wind.“
Kommissar Bärmann stutzte und wölbte erst seinen imposanten Bauch gegen mich, dann sah er sich im Gebüsch hinter der Bank um. Aber da war auch nichts. Ich war nicht erstaunt. Langsam gewöhnte ich mich an die flüchtigen Begegnungen mit diesem Geschöpf. Eine Spur Hilflosigkeit breitete sich in mir aus. Wir hatten unsere Konversation nicht zu Ende geführt und ich fühlte mich kaltgestellt.
„Herr Vonstahl.“
Der Kriminalpolizist hatte sich wieder vor mir aufgestellt. Sein Körper war wirklich imposant. Dagegen schien sein Kopf zu klein und ich konnte keinen Hals sehen. Die Birne steckte wie aufgesetzt in seinem massigen Leib und sein Brustkorb seufzte und ächzte bei jedem Atemzug.
„Woher kennen Sie diese seltsame Frau?“
„Ich war Schüler des Professors und kenne sie flüchtig von früheren Jahren.“
„Sie sassen aber recht vertraut beieinander.“
„Ich bitte Sie, Herr Kriminalkommissar, wollen Sie mir eine ungebührliche Vertrautheit unterstellen? Wir haben ein Gespräch über ihren berühmten Ahnen geführt, weiter nichts.“
Hubert Bärmann wirkte amüsiert und rieb an seiner knolligen Nase.
„Wollen Sie damit sagen, dass zwischen Ihnen beiden nichts läuft?“
„In der Tat, zwischen uns läuft nichts. Und wenn Sie es ganz genau wissen wollen: Mit dieser Frau kann gar nichts laufen, denn sie ist absolut unnahbar und verknorzt. Verstehen Sie mich?“
„Nun, ich habe etwas Mühe, Sie zu verstehen, wenn man bedenkt, wie schön diese Frau ist.“
„Sie können es ja gerne mal bei ihr versuchen. Aber ich warne Sie, es könnte gefährlich werden. Schützen Sie allemal Ihre Männlichkeit!“
„Wie Sie meinen, Herr Vonstahl. Ich überlasse Ihnen meine Anschrift und Telefonnummer für den Fall, dass Sie zweckdienliche Angaben zum Fall Gottesmann zu machen haben. Ich bitte Sie zudem dringend, mich umgehend zu benachrichtigen, wenn Sie Kenntnis vom Aufenthaltsort Ihrer flüchtigen Dame bekommen.“
Damit verabschiedete sich Kriminalkommissar Bärmann und wankte breitbeinig davon.
Ich betrachtete seine Karte und beschloss, noch etwas auf der Bank sitzen zu bleiben. Ich musste meine Gedanken sammeln und die Unterhaltung mit Eli verarbeiten. Das Rascheln der Blätter in der Abendbrise besänftigte meine aufkommende Unruhe. Ich entspannte mich und versuchte, mir Klarheit über die unterbrochene Konversation zu verschaffen.
Wusste Eli wirklich nicht, wo der Brief Schumanns an seine Gattin war? Hatte ihr Grossvater eine spezielle Verbindung zur ehemaligen Nervenheilklinik in Endenich unterhalten? Es schien doch merkwürdig, dass sie von allem einfach nichts zu wissen vorgab. Spielte sie mit mir? Oder spielte sie gar ein Doppelspiel? Meinte sie, dass ich irgendwelche Informationen besass, die sie unbedingt brauchte? Schliesslich war sie ja auch beim Wohnungseinbruch zugegen gewesen. Hatte sie selbst auf der Suche nach dem Brief oder anderen Dokumenten die Unordnung in der Wohnung herbeigeführt? Und hatte sie wirklich ihren Grossvater umgebracht oder sich das nur eingebildet? Warum die Erwähnung des Schumann-Hauses? Lag die Lösung in der ehemaligen Irrenanstalt?
Meine Gedanken fingen an zu kreisen und plötzlich fühlte ich mich in alte Zeiten zurückversetzt. Ich malte mir die berüchtigte Nervenheilanstalt aus, wo Schumann Briefe und Kompositionen verfasst hatte. Ich stellte mir vor, dass das Gebäude verlassen auf einem Hügel stand, umgeben von Bäumen, die sich im Wind beugten. Gekrümmte Gestalten schleiften sich mühsam im Klinikpark umher. Einige wild gestikulierend, andere in sich gekehrt. Wärter standen herum und beobachteten ihre Patienten. Im Obergeschoss des Gebäudes standen Fenster offen und schlugen leicht hin und her. Aus diesen Räumen strömten Klavierklänge in den Park. Eindringlich heftige Musik. Dazwischen sanfte Akkorde, vibrierende Saiten, Flötengesänge. Wer konnte aus einem Flügel solche Töne hervorbringen? Mein Kopf wurde von einer Welle fast überirdischer Melodien erfasst und ich schien leicht zu schwanken. Ein Gefühl von Leichtigkeit wollte mich hinweg ziehen. Auf einer Wolke reiner Seligkeit liess ich mich treiben.
Plötzlich wurde ich von einem unheimlichen, bedrohlichen Klangschall ergriffen. Eine dissonante Gegenströmung bahnte sich ihren Weg durch herrliche Tonschöpfungen. Es schien, als wären die Saiten des Flügels plötzlich verstimmt und kämpften mit aller Gewalt gegen die lieblichen Klänge der beseelten Harmonien. Dieses titanische Aufbäumen der Musik wollte mich zerreissen, als ich plötzlich fühlte, wie jemand neben mir mich sanft an den Arm stiess.
„Eli!“
Ich blickte neben mich. Oh nein. Nicht schon wieder. Eine gebückte Gestalt, den Kopf auf den linken Arm gestützt, den Blick geradeaus, sass neben mir. Mit seiner rechten Hand schien der Mann beruhigend nach mir greifen zu wollen. Doch er zögerte oder konnte nicht. Er war gehemmt, wie gelähmt. Der fremde Herr konnte mich nicht erreichen und doch gab es eine intensive Verbindung zwischen uns. Es war wie eine Klangbrücke. Eine vertraute Melodie verband uns. Für einen Moment glaubte ich, verrückt zu werden. Ich musste mich halten, mich fest an die Bank klammern, um nicht in die Unendlichkeit zu stürzen.
Und dann fühlte ich wieder deutlich das kühle, rettende Holz der Bank. Erleichtert fand ich zurück in die wirkliche Welt. Ich blickte mich um und stellte fest, dass ich allein auf der Bank sass. Eine humpelnde Gestalt verschwand hinter den Bäumen gegen das aufkeimende Abendrot.
Ich wischte mir die Augen, um klarer zu sehen. Der Schweiss drückte durch die Poren meiner Stirne. Panische Angst ergriff mich. Angst, ich könnte die Kontrolle verlieren. Stand ich vor einer Spaltung meiner Persönlichkeit? War ich im Begriff wahnsinnig zu werden? Hatte ich echte Halluzinationen oder waren es harmlose Tagesträume? Konnte ich Musik nicht nur hören, sondern sehen? Konnte mein Gehirn Melodien hervorbringen ohne mein bewusstes Dazutun? Und was hatte das alles mit einer mysteriösen Fuge Robert Schumanns zu tun? Wer oder was löste in mir diese abgrundtiefen Gefühle aus? Steckte Eli dahinter?
Meine Auszeit in Berlin entwickelte sich langsam zum Albtraum und ich musste mich entscheiden, ob ich hier wirklich weitermachen wollte oder ob es nicht besser wäre, meine Koffer zu packen und in die Schweiz zurückzukehren. Aber irgendwie steckte ich schon mitten drin. Irgend etwas hatte von mir Besitz ergriffen. Ich wusste nicht, ob es Robert Schumann war, die verschollene Fuge oder die Faszination, die von Eli ausging. Ich zweifelte keinen Moment daran, dass, was auch immer auf mich zukommen sollte, mein Leben in seinen Grundmauern erschüttert würde.
Und so begann ich allen Zweifeln und Aengsten zum Trotz konkrete Pläne zu schmieden. Als erstes wollte ich mich über die Endenicher-Zeit Robert Schumanns informieren. Es musste sicher Krankenakten über die letzten zwei Lebensjahre des Musikers in der Irrenanstalt geben. Jede Klinik führte Aufzeichnungen über ihre Patienten.
Ich beschloss, am nächsten Tag dem Bibliothekssaal der Akademie der Künste am Robert-Koch-Platz einen Besuch abzustatten. Da ich keine Ahnung hatte, ob ich Eli je wiedersehen würde, konnte ich mir so zumindest ein Bild darüber machen, ob an der Geschichte der Fuge etwas war. Den Patienten hatte man sicher beobachtet und sicher waren auch seine Aktivitäten dokumentiert worden. Sollte Eli ruhig ihren mysteriösen Tonfolgen nachgrübeln. Ich würde zumindest etwas Handfestes vorzuweisen haben.
Als ich mich von der Bank erhob, um zu meiner Pension zu gehen, schien es mir, dass ich in einiger Entfernung die beiden Verleger von H. und B. eifrig diskutierend unter einem Baum stehen sah. Was machten die denn hier? Wurde ich beobachtet? Hatten sie mich mit Eli zusammen gesehen? Interessierten sie sich für mich, für sie, oder für uns beide? Oder für die Fuge? Fragen über Fragen.
Ich war nun wirklich zu müde, um mich weiteren Unannehmlichkeiten auszusetzen. Ich kehrte zur Pension zurück, wo Frau Rosenblum damit beschäftigt war, den Eingang mit Blumen zu schmücken.
„Guten Abend Herr Vonstahl. Wie schön, Sie wieder einmal zu sehen. Sicher konnten Sie den traumhaften Abend geniessen. Nun, was ich noch sagen wollte, zwei Herren mit den Namen Gnadnoth und Sauerkampf haben sich nach Ihnen erkundigt.“
„Schön.“ Wirklich schön. Das hatte gerade noch gefehlt. Die beiden waren also tatsächlich hinter mir her. Langsam überraschte mich gar nichts mehr.
„Guten Abend, Frau Rosenblum. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit und schlafen Sie wohl.“
Rasch öffnete ich die Türe zu meinem Zimmer und sank erschöpft auf mein Bett. Am nächsten Morgen hatte ich das eigenartige Gefühl, dass jemand meinen Koffer durchwühlt hatte. Es fehlte aber nichts.