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Berlin Kreuzberg, Psychiatriepraxis Frau Dr. Eliane Weingarth, 11. Juni 2010

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„Ich habe ihn umgebracht!“

„Eli!“

„Ich habe ihn umgebracht!“

„Eli, nun hör mir doch zu!“

„Wie oft muss ich noch sagen, dass ich ihn umgebracht habe? Sie hören mir ja auch nicht zu. Und wenn ich Ihnen sage, dass er mich missbraucht hat, dann glauben Sie mir auch das nicht!“

„Eli, können wir denn nicht ruhig darüber sprechen und die Emotionen für einmal beiseite lassen?“

„Ich habe meine Emotionen lange genug beiseite gelassen! Wenn Sie von ihrem eigenen Grossvater jahrelang durchgefickt würden, möchte ich mal sehen, wie lange Sie ihre Emotionen beiseite lassen könnten!“

„Bitte, Eli!“

„Ja, bitte sehr, ich weiss nicht, was ich hier soll, wenn Sie mir nicht zuhören und mir nicht glauben wollen.“

Die Psychiaterin Frau Doktor Weingarth schwieg. Sie rang um Fassung. Es konnte so nicht weiter gehen. Sie musste ihre bisherige Position im therapeutischen Gespräch aufgeben. Irgendwie musste sie sich ihrer schwierigen Patientin wieder annähern, sich ihr zuwenden. Sie kannte Eli schon von ihrer Kindheit an. Und sie wusste, wie schwer es das Kind gehabt hatte. Aber vieles schien ihr unglaubhaft und wenig nachvollziehbar. Auch wechselten die üppigen Schilderungen ihrer Patientin ständig. Es gab keine Konstanz in ihren Erzählungen und zu häufig widersprach sie sich selbst. Es wurde schwierig, zwischen Wahrheit und Fiktion zu unterscheiden. Es war, als trügen zeitweise zwei verschiedene Personen einen inneren Kampf in Eli aus.

Die hochintelligente Frau verlor zunehmend die Kontrolle über ihre Emotionen. Es waren diese verwischten und kaum fassbaren Grenzen zwischen realen Begebenheiten und fantastischen Vorstellungen der Patientin, diese Verwobenheit von Normalität und Paranoia, welche der Psychiaterin Probleme bereiteten. Wo sollte sie sich selbst positionieren?

Sollte sie sich an die reale Welt halten und gegen die Patientin kämpfen oder mit der Patientin die gefährliche Reise in den Wahn wagen, um sie best möglichst zu begleiten und ihr eine Stütze zu sein? Dabei war sie im Zweifel, ob die paranoid anmutenden Erzählungen auch wahre Aspekte enthielten. Ja, sie wusste manchmal nicht, ob das geschilderte Erleben einfach ein Spiegel einer übersteigerten Intelligenz darstellte. Fast schien es ihr, als könnte Eli durch die Geschehnisse hindurchblicken und ihre Bedeutung emotional erfassen, bevor sie in ihrem Bewusstsein wahrnehmbar wurden.

Der Tod ihres Grossvaters hatte sie vorerst emotional getroffen, und als Folge davon waren alte Aggressionen losgebrochen. Sie war aber nicht in der Lage, diesen Verlust bewusst zu erleben. Deshalb war sie nach dem Ereignis in einem Zustand geistiger Verwirrung bei ihr aufgekreuzt. An diesem Sonntag hatte sie die Psychiaterin in ihrer Privatwohnung angetroffen und sie richtig gehend genötigt, mit ihr eine Therapiesitzung abzuhalten. Sie war aber unfähig gewesen, einen halbwegs zusammenhängenden Satz auszusprechen, sodass die Psychiaterin erst aus der Presse erfahren hatte, was vorgefallen war. Und von einem Mord war nicht die Rede gewesen.

„Gut, Eli, erzähl mir einfach, wie du deinen Grossvater umgebracht hast.“

Eli schloss die Augen und versuchte, das Geschehene vor ihrem inneren Auge noch einmal zu erleben. Es eröffnete sich ihr jedoch nur das seit Jahren immer wiederkehrende und sie quälende Bild: die unerträgliche Szene der Gewalt, als sie elfjährig war.

‚Nicht, Grossvater, bitte nicht, es tut weh’! Sie lag rücklings auf dem geschlossenen Flügel. Er lag auf ihr, erdrückte sie beinahe und keuchte wild zu seinen rhythmischen Bewegungen.

‚Schweig, du Miststück, du hast kein Recht, dich mir zu verweigern. Du taugst nichts, genauso wie deine Mutter, welche diesen Wahnsinnigen gegen meinen Willen geheiratet hat. Was meinst du, was für eine klägliche Kreatur einer solch abartigen Ehe entspringen musste. Nur dein Körper ist es wert, dass ich mich mit dir befasse. Dein Intellekt ist verkümmert. Die geniale Musik deiner Ahnen hat sich in deinem Kopf zum Ungeheuer gewandelt. Du widerspenstiges Ding, nicht ein einziger Ton, nicht ein einziger Musikklang lässt sich aus deinem Gehirn pressen. Wie oft habe ich dich ans Klavier gesetzt in der Hoffnung, dass noch irgend etwas aus dir zu machen wäre. Stattdessen bist du immer davongerannt und hast dich in deiner Ecke verkrochen. Deshalb nehme ich mir jetzt das Einzige, was ich dir nehmen kann!’

Was sollte sie tun? Sie liess es geschehen und ergab sich vollständig dem gewaltigen körperlichen und seelischen Schmerz. Ihr verzweifeltes Schluchzen erfüllte den Raum und schien in den Saiten des Flügels weiter zu vibrieren.

Nur im Geheimen, wenn ihr Grossvater nicht zu Hause war, setzte sie sich an den Flügel und versuchte, die Musikklänge, die sie von ihrer Ecke aus mitgehört hatte mit ihren kleinen Fingern nachzuspielen und in sich aufzunehmen. Das beruhigte sie und gab ihr Geborgenheit. Eine Geborgenheit, die sie sonst nirgends bekommen konnte. Ja, es versöhnte sie mit ihrem gewalttätigen Grossvater, der ihr nicht nur Schreckliches antat, sondern sie auch mit seiner Musik betörte und ihr mit seinen Klängen inneren Frieden schenkte. Es war diese fast unerträgliche Ambivalenz, die sie ihm gegenüber empfand, die ihre Persönlichkeit mehr und mehr spaltete.

Und immer, wenn sie ihr inneres Gleichgewicht zu verlieren drohte, eilte sie zu ihrer Psychiaterin. Aber mehr und mehr spürte sie, dass sie nicht ernst genommen wurde und dass die Therapeutin an ihren Worten zweifelte. Schliesslich begann sie selbst, ihren Erlebnissen und Empfindungen zu misstrauen. Sie stürzte sich in eine Scheinwelt und kapselte sich völlig ab. Sie liess alles über sich ergehen und schuf sich eine einzige Zuflucht, die sie vor ihrem Grossvater und der Psychiaterin geheimhielt: das Land der Tonbilder mit ihren herrlichen Harmonien. Sie brauchte nur in ihrer Zimmerecke zu lauschen, Grossvaters Musik zu verinnerlichen und die Melodien heimlich auf dem Flügel nachzuspielen. Sie war in der Lage, einmal gehörte Klangfolgen in ihrer Seele einzugravieren und zu immensen Tonnetzen zu verknüpfen, bis sie von einer unbeschreiblichen Seligkeit erfüllt wurde. Das war die Entschädigung für das Leid, das sie tagtäglich erfuhr.

Nun wurde sie durch den Tod ihres Grossvaters in die alten Verhaltensmuster zurückgeworfen. Jetzt sass sie wieder bei ihrer Psychiaterin und musste sich für das erlittene Leid rechtfertigen. In welcher Art und Weise hatte der Grossvater ihr Leben beeinflusst? Hatte er sie vernichtet oder sie zum Höchsten angespornt? Hatte er geahnt, auf welch wunderbare Pfade er sie geführt hatte? Oder hatte er es nicht wahrhaben wollen und sie deshalb gequält?

„Eli?“

„Ich glaube, ich habe ihn gestossen. Ja, ich habe ihn in den Flügel gestossen. Dabei hat er sich den Kopf aufgeschlagen.“

„Und warum hast du ihn gestossen?“

„Weil er mir die Tonfolge nicht verraten wollte, die er glaubte entdeckt zu haben. Wir haben schrecklich gestritten. Er war so stur!“

„Was hat es mit dieser Tonfolge denn auf sich, dass du sie so dringend kennen wolltest?“

„Ich glaube, es handelt sich um den Kontrapunkt einer verschollenen Fuge meines berühmten Ahnen Robert Schumann.“

Langes Schweigen. Frau Dr. Eliane Weingarth war Musikliebhaberin und recht ordentlich mit dem Werk Schumanns vertraut. Von einer verschollenen Fuge hatte sie jedoch nie gehört. Und schon war da wieder dieser Zweifel am Wahrheitsgehalt der Erzählungen ihrer Patientin. Was faselte sie da von einem Kontrapunkt einer verschollenen Fuge? Sie wusste, was eine Fuge war und sie wusste, was man unter einem Kontrapunkt verstand. Es handelte sich dabei um die gegenläufige Stimme zu einer vorgegebenen Tonfolge, die zusammen sowohl in der Vertikalen, als auch in der Horizontalen einen sinnvollen Zusammenklang ergab. Die Technik wurde seit Johann Sebastian Bach in der klassischen Musik oft angewandt. Aber wie konnte man den Kontrapunkt einer verschollenen Fuge entdecken? Es war wirklich zum Verrücktwerden mit dieser Frau. Eli schaffte es immer wieder, sie ins Abseits und in die Fassungslosigkeit zu drängen.

Die Psychiaterin atmete tief. Sie musste sich unter Kontrolle halten und durfte sich nicht blossstellen lassen. Sie sah ihrer Patientin tief in die Augen und glaubte, ein leichtes Flackern zu erkennen. Diese Augen hatten sie immer fasziniert. Heute überkam sie ein leichtes Schaudern. Sie hatte das Gefühl, dass etwas Grosses, Unheimliches im Gange war.

Es war eine Vorahnung, die sie nicht zum erstenmal überfiel. Obwohl sie als Psychiaterin mit dem Phänomen der Projektion und Gegenprojektion vertraut war, fühlte sie sich ihrer Patientin manchmal schutzlos ausgeliefert. Sie richtete sich im Stuhl auf und drückte ihren Rücken tief in die Lehne, als müsste sie um Halt ringen. Dann machte sie einige Notizen in die vor ihr liegende Krankengeschichte, um Zeit zu gewinnen und sich zu fassen.

„Was hast du nun vor, Eli? Willst du diese verschollene Fuge suchen? Ist es nicht genug, dass dein Grossvater gestorben ist? Eli, wirklich, wir kennen uns schon lange. Ich habe dir immer vertraut und immer versucht, dir zu helfen. Bisher hast du dich immer selbst aus deinen Krisen empor gerapelt. Aber diesmal ist es meine Ueberzeugung, dass äusserste Vorsicht angebracht ist. Du solltest dich ein paar Tage ausruhen, um wieder zu dir zu kommen. Die Ueberwältigung durch den Tod deines Grossvaters ist noch zu gross, um weitere Schritte zu planen. Vergiss nicht, dass deine Emotionen dich in der Vergangenheit immer wieder entzweit haben und dass du oft in trügerische Abgründe deiner Seele gestürzt bist.

Du hattest eine zwiespältige Beziehung zu deinem Grossvater. Lass dich jetzt nicht wieder zweiteilen! Lass die Fuge Fuge sein und verbeiss dich nicht in etwas, das dir nicht zusteht. Und vor allem schlag dir die Idee aus dem Kopf, dass du deinen Grossvater umgebracht hast. Wenn du an seinem Tod mitschuldig sein solltest, dann trifft ihn selbst die gleiche Schuld, nach all dem, was du wegen ihm durchgemacht hast. Einmal, nur einmal in deinem Leben befolge meinen Rat, bitte, Eli!“

„Ich muss Josch finden, er wird mir helfen, das Rätsel zu lösen.“

„Wer ist Josch?“

„Ein früherer Schüler meines Grossvaters und ein guter dazu. Er hat zwar seine Musikerkarriere an den Nagel gehängt, aber er ist hier. Er war an der Gedenkfeier zu Ehren Schumanns. Ich habe ihn gesehen.“

„Und was hat der denn mit der verschollenen Fuge zu tun?“

„Nichts.“

„Aha.“

„Er hatte einen guten Draht zu meinem Grossvater und ich glaube, ich habe einen guten Draht zu ihm. Er ist ein lieber Mensch und er hat ein empfängliches Ohr für die Tiefen der Musik. Ich weiss zwar nicht, was er heute über mich denkt. Damals spürte ich, wie sehr er mit sich kämpfte und versuchte, die schöpferische Quelle der Musik zu finden. Genau so, wie ich es immer von meiner Zimmerecke aus versucht habe. Ich fühle eine seelische Verbundenheit mit ihm. Auch glaube ich, dass er mehr über meinen Grossvater weiss als sonst jemand. Die beiden haben sich auf eine Art verstanden, die mir nicht zugänglich war. Ich habe mich die ganze Zeit über gefragt, worin ihre Gemeinsamkeiten lagen.

Als Josch abreiste fiel mein Grossvater in eine Depression, sprach fast nichts mehr und liess auch von mir ab. Irgendwie fehlte ihm die Inspiration und sein Klavierspiel wurde flach. Seine Flügelklänge erreichten mich nicht mehr und ich war traurig.

Eines Tages hörte ich eine wunderbare Klangfolge von meiner Ecke aus. Plötzlich war seine Musik wieder zum Leben erwacht und er bearbeitete seinen Flügel mit Inbrunst. Ich konnte meine Sehnsucht nach seinen Klängen wieder wahrnehmen und wurde immer begieriger, hinter sein Geheimnis zu kommen.

Ausgerechnet zwei Tage bevor Josch seinen Besuch angekündigt hat bin ich ausgerastet. Ich habe ihn in den Tod getrieben. Er hat sich so sehr auf dieses Wiedersehen gefreut. Ich weiss nicht, ob Josch mir das je verzeihen wird. Ich habe Angst, ihn zu treffen.“

„Eli, dann hab Geduld und warte ab. Du bist jetzt nicht in der Lage, konkrete Schritte zu unternehmen. Angst kann dich zu unüberlegten Handlungen verleiten. Sie ist Zeichen deiner inneren Unruhe und Verzweiflung. Wer weiss, was eine Begegnung mit diesem Josch in dir auslösen wird. Weshalb ist er zurückgekommen?“

„Ich weiss es nicht. Er kommt aus der Schweiz. Als er von hier wegging, wollte er Medizin studieren. Ich nehme an, er ist Arzt. Das passt zu ihm. Er konnte sich gut in die Menschen hineinfühlen. Einmal überraschte er mich, als ich am Flügel sass und mich im Nachspielen der Musik meines Grossvaters versuchte. Ich war damals etwa vierzehnjährig und erschrak fürchterlich, als er plötzlich hinter mir stand. Als er bemerkte, wie unangenehm es mir war, legte er mir seine Hand auf die Schulter und setzte sich neben mir auf den Klavierstuhl. ‚Ich wusste nicht, dass du Klavier spielen kannst, Eli’, sagte er zu mir in ruhigem Ton. ‚Du hast einen schönen Anschlag. Dein Spiel hat mir gefallen und mich berührt. Man kann gut hören, dass in dir das Blut deiner berühmten Ahnen fliesst. Willst du mir nicht noch mehr vorspielen?’

So etwas hatte noch nie jemand zu mir gesagt. Sie wissen ja, dass mein Grossvater meine Musikalität immer vernichtend beurteilt hat. Er wollte nie zulassen, dass es in seiner Familie ausser ihm noch andere Talente gab. Und dann diese einfühlsamen Worte seines Schülers! Ich war wie gelähmt und meine Augen wurden feucht. Ich schämte mich sehr, als die Tränen auf die Tasten kullerten. Sie können sich sicher vorstellen, dass ich ihm nicht sagen konnte, dass ich aus Freude weinte. Sicher glaubte er, dass ich Angst vor ihm hatte und deshalb in Tränen ausbrach. Es war eine verzwickte Lage und es blieb mir nichts anderes übrig, als mich verschämt davon zu stehlen. Ohne mich umzublicken, eilte ich aus der Wohnung.

Trotzdem grüsste er mich immer freundlich und versuchte nie, mich wegen meiner dummen Reaktion auszufragen. Ich hätte mir die Haare ausreissen können und es tat mir unglaublich leid, ausgerechnet einen Menschen zu verletzen, der sich meiner in aller Ehrlichkeit angenommen hatte. Dieser Schmerz steckt noch in mir, wenn ich an ihn denke, obwohl ich damals ja noch ein Kind war.“

„Hat er dich denn an der Feier auch gesehen?“

„Ich denke schon, aber wir haben nicht miteinander gesprochen.“

„Lass es sein, Eli. Lass es wirklich sein. Du bist innerlich nicht genug vorbereitet auf eine Begegnung mit diesem Josch. Eine weitere schmerzhafte und emotionale Belastung ist wirklich das Letzte, was du jetzt brauchst.“

„Sie wissen, dass ich es nicht werde lassen können. Es ist gerade der Schmerz, der mich zu ihm führen wird. Oder vielmehr eine reissende Sehnsucht nach Erlösung vom Schmerz, der mich auch immer mit meinem Grossvater verbunden hat. Erst wenn ich die Erlösung finde, werde ich zur Ruhe kommen und Josch ist der Einzige, der mir dabei helfen kann. Ich muss es tun und es ist auch meine Pflicht, das letzte Werk Gottesmanns zu vollenden. Es gibt keinen Zweifel, dass es um eine verschollene Fuge geht.“

„Eli!“

„Nein, nein!“

In diesem Moment wusste Frau Dr. Eliane Weingarth, dass sie verloren hatte und fügte sich in die Niederlage. Stoisch sah sie zu, wie die feingliedrige Frau sich erhob und ohne einen Blick auf ihre Therapeutin die Praxis verliess. Ihre Patientin würde sich, wie schon andere Male, auf eine Gratwanderung mit ungewissem Ausgang begeben.

Die Fuge der Liebe

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