Читать книгу Die Fuge der Liebe - José Luis de la Cuadra - Страница 6

Berlin, Charlottenstrasse, 6. Juni 2010

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Ein warmer Frühlingstag kündigte sich an. Die ersten Sonnenstrahlen drängten sich zwischen die Häuserreihen. Am Gendarmenmarkt strich ein leiser Wind durch die Bäume und die Vögel ermunterten sich gegenseitig in ihrem Morgenkonzert. Unweit davon, in Richtung Unter den Linden, bewegte sich im 2. Stock eines gutbürgerlichen Wohnhauses ein offenes Fenster sanft hin und her, als wollte es den neuen Tag willkommen heissen. Die anderen Fenster waren noch fest verschlossen. Es war Sonntag und die geschäftigen Bewohner Berlins genossen noch ihre verdiente Nachtruhe.

Ein Vogel hatte es sich auf dem Fenstersims des offenen Fensters bequem gemacht und blickte unruhig nach allen Seiten. Er schien den seltsamen Geruch wahrzunehmen, der dem Zimmer entwich. Und auch das leise Schluchzen, das im frühmorgendlichen Vogelgezwitscher beinahe unterging. Mit einem sanften Flügelschlag hob der Vogel ab und suchte das Weite.

Eli sass zusammengekauert in einer Ecke des Musikzimmers und weinte, den Kopf vornüber, gleich einem Häufchen Elend. Ihr Körper zitterte. Trotz ihrer 24 Jahre hätte eine aussenstehende Person die zusammengekrümmte Gestalt für ein Kind halten können. Eli war nur mit einem ausgefransten T-Shirt und einer ausgelaugten Jeans-Hose bekleidet. Die Füsse waren nackt und schmutzig. An einem Ohrläppchen hingen drei Piercings und ebenso war der linke Lippenwinkel mit einem schillernden Ring durchstossen. Wenn Eli den Kopf anhob, erkannte man ein schlankes, feines Gesicht mit tiefgründigen, grünen Augen. Der Blick wirkte verloren, in die Unendlichkeit gerichtet, als gebe es keine Grenzen.

Eli weinte um ihren Grossvater. Ohne aufzublicken sah sie ihn deutlich vor sich, wie er, bäuchlings ausgestreckt, von der Klavierbank bis über die Tasten und weit in den offenen Flügel hinein dalag. Seine Finger hatten sich tief in die Saiten des Pianofortes verkrallt, als wollten sie nach etwas greifen. Die Notenbank lag am Boden. Ein Durcheinander von Notenheften türmte sich daneben wie hingeschmissen.

Eine offene Wunde an der Schläfe des Toten war rot gefärbt und eine dünne Blutspur suchte sich einen Weg über den Resonanzboden des alten Musikinstruments. Es war eine Szene wie aus einer anderen Welt, aus einer alten, vergangenen Welt. Ein Toter, der sich nicht von seinem Klavier trennen konnte, der sich dagegen wehrte, die Welt seiner Musik zu verlassen, sich verzweifelt an die Saiten klammerte, denen er während seines Lebens Klänge entlockt hatte.

Es war Musikprofessor Siegfried Gottesmann von der Musikhochschule Berlin, der Erbe einer wahren Dynastie von Musikern. War es nicht ein schöner Tod für einen Pianisten, inmitten der Klänge seines Instruments zu sterben? Und doch zeichneten die groteske Haltung des Mannes und seine verkrampfte Gestik ein Bild voller Dramatik. Ein Gemälde aus den finsteren Tiefen menschlicher Existenz. Man konnte den Aufschrei der umklammerten Klaviersaiten beinahe hören. Als wollten die drahtigen Klangkörper ein Geheimnis zurückhalten.

Eli schluchzte leise vor sich hin.

„Ich habe ihn umgebracht. Wie konnte es geschehen? Was ist in mich gefahren? Diese Wut. Ja, er hat mich gequält. Mit seiner Geheimnistuerei. Mit seiner Besserwisserei. Mit seinem Anspruch, über mich zu bestimmen und zu richten. Diese Erniedrigungen. Ich bin eine erwachsene Frau, promovierte Kunsthistorikerin. Er hatte kein Recht, mich wie ein Mündel zu behandeln, auch wenn er mich grossgezogen hat.

Ist es meine Schuld, dass sich meine Mutter aus Verzweiflung das Leben genommen hat? Dass sie die Paranoia ihres Mannes nicht mehr verkraften konnte? Auch sie hast du, Grossvater, erniedrigt, weil du mit ihrer Heirat nicht einverstanden warst. Du warst schuld an der Familientragödie, die mich zur Waise gemacht hat als mein wahnsinniger Vater in der Irrenanstalt starb.

Ich entschuldige mich für alle Quengeleien und all den Aerger. Ich weiss, dass ich eine Versagerin bin, zu einer wahren Beziehung nicht fähig. Ein Luder ohne Gewissen und Perspektiven. Unmusikalisch, wie du sagtest. Trotz eines Ahnenstamms voller glänzender Starmusiker, so wie du! Deshalb hast du mich derart geknechtet, dass ich ausreissen musste und immer wieder in der Gosse gelandet bin. Und doch bin ich stets zu dir zurückgekehrt, habe für dich gesorgt.

Ich habe dich bewundert und geliebt. Stundenlang bin ich in der Küche gesessen und habe deinem Klavierspiel gelauscht, mich in deine Klänge hineinzufühlen versucht. Ich habe mich in deiner Musik verloren. Oft glaubte ich mich in einer anderen Welt, fühlte diese andere Seite in mir, die heile Seite. Oh, diese wunderschöne, tiefsinnige Welt, die mir deine Tonschöpfungen bedeutet haben! Wie oft haben sie mich vor dem sicheren Absturz bewahrt! Vor dem Abgleiten in die tiefsten Schichten meines zerstörerischen Wesens. Du hast das nie wahrnehmen wollen und mich immer wieder zurückgestossen. Nur deine Musik hast du gehört. Es gab nur dieses Eine in deiner Welt. Deshalb hat dich auch deine Frau verlassen. Nur ich bin dir treu geblieben und habe deinen Verletzungen standgehalten. Welche Kraft musste ich aufbringen, um meine inneren Gegensätze zu versöhnen! Die heile Gefühlswelt der Musik gegen die zerstörerischen Triebe meiner Schattenwelt.

Nun sitze ich hier und muss meine Tat rechtfertigen. Ein einziges Mal wollte ich mich selbst sein. Ein einziges Mal wollte ich dir sagen, dass ich ein Mensch bin. Dass du mich respektieren, mich an deinem Leben teilnehmen lassen musst. Ich habe sonst niemanden auf dieser Welt. Du warst immer meine Welt. Es gibt keine andere. Nur mein Alter Ego, vor dem ich mich dermassen fürchte, vor dem ich immerzu flüchten muss, welches mich bedrängt und mich in archaische Tiefen zieht.

Deine Musik, die du deinem Instrument zu entlocken wusstest, haben mich oft vor dem Absturz bewahrt. Warum wolltest du nichts begreifen? Warum musste ich so laut werden, bis ich meiner selbst nicht mehr Herr war? Warum hast du zugelassen, dass ich die Kontrolle verloren habe? Wie konnte es geschehen, dass ich dich soweit getrieben habe, bis du bäuchlings über dein Instrument gestürzt bist? Mein Freund, welche Hand hat dich gerichtet“?

Es klingelte an der Türe. Doktor Edmund Jachertz wusste, dass die Wohnung nie verschlossen war. Durch das Klingeln kündigte er jeweils seinen ärztlichen Besuch an, der ihn einmal pro Woche zu seinem Freund und Patienten führte. Der Musiker war schon lange herzkrank. Ein schwieriger, eigenwilliger Patient, der seine Medikamente selten so einnahm, wie er sie ihm verschrieben hatte. Seine Gesundheit interessierte den Komponisten und Lehrer überhaupt nicht. Er hatte seine eigenen Ideen über Sinn und Unsinn des menschlichen Lebens. Für ihn gab es nur die eine Passion, die seine Existenz erträglich machte: seine tägliche Arbeit am Klavier.

Meistens hörte der Professor die Türklingel nicht, ging sie doch in seinen brillanten Läufen unter. Wenn er in seine Musik vertieft war konnte ihn kein Erdbeben vom Spielen abhalten. Einmal hatte der Patient ihm erklärt, dass sein Flügel ein ganz spezielles Instrument sei, ohne näher darauf einzugehen. Und wirklich, ein vergleichbares Pianoforte hatte der Arzt noch nie gesehen.

Heute war es ganz still. Dies wunderte Dr. Jackertz nicht, hatte er den Patienten doch bereits gestern besucht. Es war eine Notfallvisite gewesen. Professor Gottesmann hatte einen erstmaligen Angina pectoris Anfall und er musste dem herzkranken Musiker, der sonst eher unter Herzasthma litt, dringend zur Hospitalisation raten. Es hatte ihn nicht erstaunt, dass der eigenwillige Meister dies sofort ablehnte. Dies war auch der Grund, weshalb er ihn sogar an einem Sonntagmorgen besuchte.

Er hatte sich Vorwürfe gemacht und schlecht geschlafen. Er hätte mehr insistieren oder einfach die Ambulanz bestellen sollen. Die Situation war gefährlich. Seine Ausbildung als Arzt hatte ihn immer gelehrt, dass ein erstmaliger Angina pectoris Anfall zu einem Herzinfarkt führen konnte. Deshalb beschlich ihn nun ein ungutes Gefühl.

Nach seiner Weigerung, sich einweisen zu lassen, hatte er ihm eingeschärft, sich ruhig zu verhalten und viel zu liegen. Und die Enkelin Elisabeth Schrag hatte ihm versprochen, bei ihrem Grossvater über Nacht zu bleiben. Er wusste zwar, dass die beiden immer wieder heftig aneinander gerieten, hatte aber doch der sanften und fürsorglichen Seite der Enkelin vertraut. Er mochte sie. Sie hatte etwas Faszinierendes an sich, ohne dass er sich erklären konnte, was es war. Etwas Volatiles und zugleich Tiefgründiges. Wenn man in ihre grünen Augen sah, glaubte man, darin zu versinken oder die Ewigkeit zu erblicken.

Mit seinen 67 Jahren durfte er sich solche Ueberlegungen erlauben. Erstaunt war er, dass die junge Frau immer noch die Nähe zu ihrem Grossvater suchte und nie in Begleitung eines jungen Herrn gesehen wurde. Wohl spielte ihre schwierige Jugend eine Rolle.

„Eli, was um Himmels Willen ...“. Dr. Jachertz’ Augen weiteten sich, als er auf die Gestalt am Boden starrte. Sie schien zu schlafen. Ihre Hände waren zu einem Krampf erstarrt und zwischen ihren blassen Fingern hielt sie ein Stück Papier fest umklammert. Sie atmete unregelmässig, und jedesmal beim Ausatmen quälte sich ein ächzendes Geräusch aus ihren Lungen. Dr. Jachertz ärztliches Gehör registrierte ein Bronchialasthma.

„Eli, wach auf! Was ist los?“ Er schubste sie leicht. Ein tiefer Seufzer entwich. Dann schlug Eli die Augen auf, nur einen kurzen Augenblick, um sie sogleich wieder zu schliessen. Der Arzt erkannte für einen kurzen Augenblick das Entsetzen in ihren Augen. Und plötzlich nahm er den seltsamen Geruch war, der sich vom anderen Ende des Musikzimmers her ausbreitete. Ein ihm bekannter Geruch. Wie ein Blitz traf ihn die Vorahnung. Er hatte es befürchtet.

Er stürzte zum Flügel und sah seinen Freund in den Saiten seines Instruments verkrallt liegend. Er war tot. Mitten in seiner Lieblingstätigkeit aus dem Leben gerissen! Der Arzt bemerkte die klaffende Wunde an der Schläfe, offenbar durch Aufprall des Kopfes am Flügelrahmen verursacht. Er berührte die Stirne seines Patienten. Sie war kalt. Die Augen am seitlich abgedrehten Kopf waren weit aufgerissen, wie von Panik erfüllt. Dr. Jachertz versuchte, die weissblau verfärbten Finger von den Saiten zu lösen. Unmöglich, vollständige Leichenstarre! Man würde warten müssen, bis die Zersetzung des Muskelkrampfes einsetzte. Der Tod musste wenige Stunden zuvor eingetreten sein, erst nachdem der Musiker mit dem Kopf aufgeschlagen war, da sich eine Blutstrasse auf dem Resonanzboden abzeichnete. Es schien dem Arzt klar: terminales Kammerflimmern nach fatalem Herzinfarkt.

Betroffen richtete sich Dr.Jachertz auf, um Fassung ringend. Es war unglaublich. Der Tod hatte den Musikprofessor nur Tage vor dem 200-Jahr-Jubiläum zum Geburtstag seines berühmtesten Vorfahren, des Komponisten Robert Schumann ereilt. Die Feier in Anwesenheit zahlreicher Grössen aus Politik und Kunst sollte am 8. Juni dieses Jahres in seiner Geburtstadt Zwickau stattfinden. Siegfried hatte sich so darauf gefreut! Es wäre der krönende Abschluss eines Wirkens gewesen, das ganz der Aufarbeitung des lange unterschätzten, kompositorischen Klavierwerks seines Ahnen gewidmet war. Es würde ihm nun nicht mehr vergönnt sein, diesen Augenblick zu erleben.

„Eli, es tut mir so leid!“

Die Ecke war leer! Eli war fort. Noch glaubte er, ihre Umrisse wahrzunehmen, ihre Gestalt zu spüren. Nichts! Er hatte sie nicht hinausgehen hören. Hatte ihn sein beruflicher Stress in eine Sinnestäuschung getrieben? Er wusste, dass Menschen in Ausnahmesituationen halluzinatorische Vorstellungen entwickeln konnten. Hatte die Sorge um seinen Freund und Patienten seine Wahrnehmung dermassen gestört, dass er sich eingebildet hatte, Eli am Boden kauernd zu sehen? Oder war er durch den Toten am Klavier so in Anspruch genommen, dass er den Türschlag nicht hörte, als Eli die Wohnung verliess? Und warum wäre sie überhaupt geflohen?

Dr.Jachertz schritt leicht benommen zum Telefon und bestellte den Leichenwagen für morgen. Bis dahin sollte es möglich sein, die verkrallten Finger von den Saiten zu lösen. Sicherheitshalber schloss er das Fenster, um die Innentemperatur des Zimmers hoch zu halten. Dies würde die Zersetzung der Muskulatur beschleunigen. Dann nahm er den Wohnungsschlüssel und schloss die Türe hinter sich ab. Die warme Vorsommerluft und das Kindergeschrei in den Strassen holten den Arzt in das normale Leben zurück.

In einiger Entfernung, im Stadtteil Kreuzberg, irrte eine junge Frau durch die Gassen. An fröhlichen Sonntagsmarktständen vorbei, gedankenverloren und sich vor den Blicken der Passanten verbergend, die schwarze Mähne tief im Gesicht. Sie trug keine Schuhe und hatte schmutzige Füsse. In einem nahen Park setzte sie sich auf den Boden und vergrub ihren Kopf zwischen den Knien. In den Fingern hielt sie verkrampft ein Stück Papier. Ein Passant blieb stehen.

„Brauchen Sie Hilfe, junge Frau?“

Ein Grunzen. Die Frau hob langsam den Kopf und blickte den Fremden an.

„Scheren Sie sich zum Teufel!“

Der Passant staunte ob der Antwort und noch wegen etwas anderem: die junge Frau hatte grüne Augen. So grüne Augen hatte er noch nie gesehen. Verstört entfernte er sich.

Eine Stunde später stand die junge Frau vor der Haustüre eines baufälligen, mehrstöckigen Hauses. Sie drückte stürmisch auf die Klingel neben einem Schild, auf dem stand: Frau Eliane Weingarth, Doktor für Psychiatrie und Psychotherapie, Schwerpunkt dissoziative Störungen. Nachdem der Türöffner das Schloss entriegelt hatte, stürmte die Frau die Treppe hoch. Plötzlich hielt sie inne, bemerkte den Zettel in ihrer Hand und verstaute ihn in der Seitentasche der Jeans-Hose.

Die Fuge der Liebe

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