Читать книгу Die Fuge der Liebe - José Luis de la Cuadra - Страница 7
Endenich bei Bonn, Irrenanstalt, ab 4.März 1854
ОглавлениеHerrliche Musik erklingt. Engelsflöten, zarte Violinen, dazwischen choralartige Gesänge, welche seine Gedanken umjubeln. Der Mann fühlt sich am Ende seiner Reise angekommen. Hier ist ihm wohl. Er wird umsorgt von Aerzten und Wärtern. Vor allem Johannes, sein bevorzugter Wärter, hat es ihm angetan. Ein Jüngling fast, mit lieben und freundlichen Augen. Er sorgt sich um ihn, wie seine Ehefrau es getan hätte. Dies gibt ihm Sicherheit. Der Wärter liest jeden Wunsch von seinen Lippen. Er ist umtriebig und will ihm den Aufenthalt in der Nervenheilklinik des Doktor Ferdinand Reichherz so angenehm wie möglich gestalten.
Der andere Aufpasser, der Franz, der gefällt ihm gar nicht. Er ist älter, autoritär und mit zu starkem Ego ausgestattet. Diese Haare, wild und lang, ölig und ungepflegt. Er hat den bösen Blick. Seine Augen starren ihn an. Als wisse er etwas von ihm, als hege er niederträchtige Gedanken. Er will ihm seinen Willen aufdrängen. Ja, dieser Wärter hat ihn erkannt, das ist es. Er weiss, wo er herkommt und wer er ist. Er weiss um seine Schande, um seine Erniedrigung. Er kennt seinen Schmerz und seine Sehnsucht nach Erlösung. Der Mann ist immer erleichtert, wenn sich Franz wieder entfernt. Er möchte ihn am allerliebsten nicht mehr sehen.
Der Patient ist froh, dass er seine Familie durch die unberechenbaren Sinnestäuschungen nicht mehr gefährdet. Er weiss seine Nächsten in Sicherheit. Sein Entscheid, alles hinter sich zu lassen und seinen eigenen Weg zu gehen, erweist sich als richtig. Seine Liebe, die er für Frau und Kinder empfindet, ist nicht erloschen. Im Gegenteil, sie ist fast bis zur Unerträglichkeit gewachsen und droht ihn zu erdrücken. Seine Familie braucht Ruhe nach den Aufregungen der letzten Zeit, seinem Umhertigern, seinen Gewaltausbrüchen und seinen Verzweiflungsschreien.
Er hat Vertrauen zu seinen Aerzten. Er will alles zu seiner Genesung beitragen. Mit seinem Thema, der Engelsmelodie, will er die teuflischen Kräfte der Sinnestäuschungen besiegen. Die Musik wird über das Böse triumphieren.
Eine grandiose Komposition: die Erhöhung des Guten durch eine gewaltige Fuge. In bisher unerreichtem Kontrapunkt. Eine Armee synchroner Klänge. Die mächtigste instrumentale Waffe, welche die Menschheit je gekannt hat. Ein Weg zum inneren Frieden und zur Freisetzung schöpferischer Energien. Eine vollkommen neue Art des Seins!
Das Umfeld ist ideal. Im Gesellschaftszimmer nebenan steht ein Flügel, ein schöner Pleyel. Er möchte, dass er gestimmt wird. Die Ruhe und Idylle der Privatklinik, die ihn beherbergt, ist kaum zu übertreffen. Die Nervenanstalt ist ein wahres Kleinod. Sie liegt in einem prächtigen Park. Gestern hat er sich in Begleitung seines ‚guten’ Wärters, Johannes, dort umgesehen. Schatten spendende Bäume, gepflegte Hecken, lauschige Bänke an kühlenden Teichen inmitten von Weinreben. Und diese Aussicht! Er kann das ganze Siebengebirge sehen. In der Ferne erhebt sich der Kreuzberg mit dem Kreuz und der Barockkirche.
Der Mann weiss, dass er sich in unmittelbarer Nähe von Bonn befindet. Dort wurde für sein grosses Vorbild Ludwig van Beethoven ein Denkmal errichtet. Er wird um Erlaubnis bitten, das Monument auf dem Münsterplatz zu besuchen.
Viele Gedanken kreisen im Kopf des Patienten. Endlich, nach Tagen, vielleicht einigen Wochen seit seiner Ankunft in der Klinik ist er voller Tatendrang, ein Zeichen, dass er sich auf dem Weg der Besserung befindet.
‚Wo könnte ich mein Werk besser vollenden als hier? Hier kann ich die Tonfolge des himmlischen Themas weiter bearbeiten und den Schlüssel zur Verwirklichung der Fuge finden. Ich brauche Noten, viele Noten!’
Warum kriegt er keine Noten? Morgen wird der Patient seiner Frau einen Brief schreiben und sie um Notenblätter bitten. Erstmals nach seiner Abreise von zu Hause wird er sich an sie wenden, ihr ein Lebenszeichen senden. Ihm ist unbegreiflich, weshalb man ihm den Kontakt mit der Aussenwelt und seiner Familie verbietet. Die Befürchtung eines Rückfalls bei der geringsten Aufregung scheint ihm übertrieben. Will seine Frau ihn nicht mehr? Soll er weggeschlossen werden?
Er fühlt sich genug stark, um seine Vorhaben durchzusetzen. Seine Ehe steht auf dem Spiel. Die Zusammenarbeit mit seiner Gattin ist äusserst wichtig. Sie muss die Kontakte zu seinen Verlegern aufrecht halten. Sie muss seine Werke dem Publikum vorstellen. Sie ist seine Botschafterin.
Im Aerztezimmer der Anstalt für Behandlung und Pflege von Gemütskrankheiten und Irren sitzen Dr. Ferdinand Reichherz und sein Assistent Dr. Ulrich Sperreisen an einem Tisch. Die Stimmung ist ernst. Beide tragen dunkle Anzüge, den weissen Hemdkragen um den Hals geschlossen, verziert mit einer schwarzen Kragenbinde.
Die Gestalt von Dr. Reichherz ist von feiner und nobler Art, der Ausdruck seiner Augen verrät analytische Schärfe. Dr. Sperreisens Gesichtszüge sind gröber. Er hat eine Glatze und zwei Haarbüschel über den leicht abstehenden Ohren. Er hat die Krankenakte des neuen Patienten vor sich aufgeschlagen.
„Ich begreife dieses Krankheitsbild einfach nicht“, beginnt der Assistent mit der Diskussion.
„Ich habe den Musiker jetzt viele Tage beobachtet und mit ihm etliche Gespräche geführt. Natürlich vor allem an seinen guten Tagen. Du weisst ja, dass er zeitweise gar nicht zugänglich ist. Es gibt Tage, an denen er sperrig und mürrisch, ja abweisend sein kann. Man darf ihm dann nicht zu nahe kommen, weil er sich leicht erregt und wirres Zeug spricht. Er klagt oft über ihn verfolgende Stimmen, üble, dämonische Gestalten und über lärmige Musik in seinem Kopf. Andererseits scheint er Momente des Glücks zu erleben, lächelt und berichtet über schönste und lieblichste Klänge, die sein Inneres überfluten. Es wird berichtet, dass er schon seit seiner Jugend unter Stimmungsschwankungen bis hin zur Melancholie gelitten hat. Daneben soll er immer wieder durch höchst inspirierende Eingebungen beseelt worden sein.
Sag mir, was soll ich von den wahnhaften Vorstellungen halten, welche er in seinen guten Phasen als Sinnestäuschungen klar erkennt? Steht das nicht in krassem Widerspruch zu der gängigen Lehrmeinung, dass ein wirklicher Wahn durch den Patienten eben gerade nicht als solcher erkannt wird? Auch die akustischen Missempfindungen in Form von quälenden Klangbildern kann er klar von den schöpferischen Melodien abgrenzen, die ihn ein Leben lang begleitet haben und die wohl Voraussetzung für sein unermüdliches Schaffen sind. Ich kenne keine Geisteskrankheit, die einem solchen Bild entspricht!“
„Mein Lieber, natürlich hast du in gewisser Weise Recht, dass das Krankheitsbild des Meisters schwierig einzuordnen ist. Aber auch ein manisch-depressives Zustandsbild kann wahnhafte Formen annehmen. Die Grenzen zum Wahn sind keinesfalls scharf. Ein Wahn kann in lichten Momenten durchaus als Irreführung erkannt werden. Ein Musiker verfügt über eine Empfindungsgabe, die - entschuldige die Anmassung - weit über die Deine hinausgeht. Es erstaunt daher nicht, dass unser Patient seine Sinnestäuschungen in luziden Momenten als solche erkennt und klangliche Halluzinationen als schöpferisch empfindet. Es könnte auch sein, dass er seine Musik innerlich hört, bevor er sie niederschreibt. In diesem Fall wären es gar keine Halluzinationen.
Ich gebe zu, dass sein Geisteszustand in keines der uns bekannten Krankheitsschemen passt. Allerdings wissen wir, dass Genialität und Geisteskrankheit nicht immer klar voneinander getrennt werden können. Was wäre die Welt ohne Wahnsinn? Ich meine, sie wäre eine Einöde!“
„Du meinst also, unser Patient müsste in weitestem Sinne als normal gelten?“
„Nun, was heisst hier normal? Bist du normal? Bin ich normal? Ist ein Komponist, der nahezu Uebermenschliches leistet, normal? Nach meiner jahrelangen Erfahrung mit Geisteskrankheiten und sogenanntem Irresein bin ich zur Ueberzeugung gelangt, dass es keine strikte Grenze zur Normalität gibt. Viel mehr kann sich diese Grenze mit zunehmender Schöpfungskraft und Genialität eines Menschen sogar auflösen.“
„Und weshalb - gestatte die ketzerische Frage - befindet sich dieser geniale Mensch überhaupt in unserer Klinik, der Anstalt für Geisteskrankheiten und Irresein?“
„Nun, mich beunruhigt etwas ganz Anderes: es sind die über Jahre zunehmenden Erscheinungen wie körperlicher Zerfall, Schwindelzustände, Schwerfälligkeit der Sprache, Schüttelanfälle und innere Unruhe mit unkontrolliertem Bewegungsmuster. Auch die Veränderungen der Persönlichkeit mit den bis zur Aggressivität führenden Erregtheitszuständen machen mir Sorgen.
Es ist, wie wenn sich hier eine Krankheit über die andere schieben würde. Es wird unsere Aufgabe sein, sehr differenziert nach den Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten zu suchen. Ich möchte Dich bitten, täglich Buch zu führen über Bewusstheitszustand, Temperatur, Puls und Beschaffenheit der Exkremente. Lass dem Patienten grösstmögliche Freiheit bezüglich Bewegung, musikalischem Schaffen und Ernährung. Lass ihn aber für längere Spaziergänge, vor allem ausserhalb des Klinikgeländes, von einem Wärter begleiten. Direkte Familienkontakte müssen vermieden werden. Zwischen den Eheleuten könnten erneut Konflikte ausbrechen. Du kennst die Ueberforderung der Gattin in letzter Zeit. Sie beansprucht Zeit für ihre eigene Karriere. Der Meister muss absolute Ruhe haben und von jeglicher Aufregung abgeschirmt sein. Und fast hätte ich es vergessen: beobachte peinlichst genau seine Pupillen auf ihre Grösse und auf Unregelmässigkeiten der Form!“
„Ich nehme an, dass du einverstanden bist, wenn ich zur Reinigung der Körpersäfte wirksame Abführmittel wie Bitterholz und Kolombowurzel verabreiche. Bei Tobsuchtsanfällen gedenke ich, Brechwurzeltee einzusetzen. Zur Ableitung der inneren, fehlgeleiteten Strömungen schiene mir das Anlegen einer künstlichen Eiterwunde, einer Fontanelle, nützlich.“
„Du hast mein vollstes Vertrauen. Ich schlage vor, dass wir uns wöchentlich zu einer Besprechung treffen. Und noch etwas: Anfragen seiner Ehefrau bezüglich des Gesundheitszustandes ihres Gatten solltest du nur nach Rücksprache mit mir beantworten. Sie ist begreiflicherweise sehr besorgt und es ist ihr peinlich, dass der geniale Musiker an einem so hässlichen Leiden erkrankt ist. Sie fürchtet um seinen - und wie mir scheint auch um ihren Ruf. Sie will sogar seine letzte Komposition, deren Thema er als von einem Engel eingegeben glaubt, unter Verschluss halten. Es ist verständlich, dass sie sein kompositorisches Werk durch sein Leiden beeinträchtigt sieht.“
„Alles klar. Nur noch ein Letztes: wir sollten im Aufnahmebuch eine vorläufige Diagnose vermerken.“
„Schreib: Melancholie mit Wahn. Auch wenn ich da meine Zweifel habe.“
Der Wärter Johannes steht an der Schwelle zum Gesellschaftszimmer und lauscht den Klängen, die vom Flügel her die Anstalt durchfluten. Schon stundenlang sitzt der Meister am Klavier und bearbeitet die Klaviatur in beängstigender Art und Weise. Noch nie hat der Pfleger Derartiges gehört. Sanfte und leise Töne, schwingende Melodien, dann abrupte und gewaltige Ausbrüche, dissonante Akkorde in gegenläufigen Skalen. Dabei scheint die gebückte Gestalt das Instrument überwältigen zu wollen. Bedrohlich kracht es in der Klavierbank und Johannes befürchtet, der Musiker könnte das Gleichgewicht verlieren und zu Boden stürzen. Die Szene gleicht einem Kampf gegen Titanen.
Wilde Schreie durchschneiden die Harmonien. Ungepflegte Haare wirbeln durch die Luft und Schweisstropfen besprinkeln die Tasten. Eine unangenehme Ausdünstung breitet sich aus. Dazwischen greift der Meister in ausfahrenden Bewegungen zur Feder und kritzelt Zeichen in die Notenblätter, die ihm seine Gattin zugesandt hat. Der Wächter macht sich Sorgen. Sein Patient hat heute weder gegessen noch getrunken. Den Tee hat er als vergiftet bezeichnet und das Glas zu Boden geworfen.
Nach unverständlichen Selbstgesprächen und stereotypem Wippen des Oberkörpers ist er heute Morgen plötzlich von seinem Bett aufgestanden und ins Gesellschaftszimmer gestürzt. Dort hat er sich an das Instrument gesetzt und vornüber gebeugt geweint. Mehrmals sind seine kräftigen Finger über die Tasten geglitten, ohne sie zu berühren, um dann in verzweifelter Gestik in den Schoss zurückzufallen. Erst nach mehreren Weinkrämpfen hat sich der Künstler beruhigt. Dann, nach einem unverständlichen Wortschwall, dieser deutlich artikulierte Satz:
„Oh himmlische Engel, leitet meine Kraft in dieses Werk“!
Und seit diesem Moment hat der Komponist das Instrument ohne Unterbruch bearbeitet und die Irrenanstalt in Schwingung versetzt.
Mit einem Satz stürzt Johannes nach vorne und kann den rhythmisch krampfenden und wild um sich schlagenden Musiker gerade noch auffangen. Der Wächter ist stark. Er kann den Patienten mit seinen Armen umschlingen und ihn sanft zu Boden legen. Dort hält er ihn fest, damit er sich nicht verletzt, bis der Mann in einen tiefen Schlaf fällt. Er hebt ihn auf und trägt ihn liebevoll ins Bett. Johannes hat Tränen in den Augen und holt sich einen Stuhl. Dort wacht er bis sein Patient die Augen aufschlägt. Er holt ein Glas Tee und setzt es dem Meister an die Lippen. Diesmal trinkt er. Auf seinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. Johannes lächelt auch.