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ОглавлениеDer Fußballgott: Staunen, Sensation und Fanatismus
Immer noch wird gelegentlich vom »Wunder von Bern« gesprochen; womit gemeint ist, dass die deutsche Nationalmannschaft 1954 im Endspiel gegen die favorisierten Ungarn sensationell in einem dramatischen Spiel die Weltmeisterschaft gewann. Damit ging für nicht wenige fast so etwas wie ein Ruck durch das vom Weltkrieg fast vernichtete deutsche Nationalgefühl. Im Mai 2019 gab es ein Spiel um den Einzug in das Champions-League-Finale zwischen dem FC Liverpool und dem CF Barcelona. Weil sich die weltweite Berichterstattung dazu oft geradezu religionsschwanger ausdrückt, sei darauf verwiesen. Es scheint, als sei die Ekstase religiösen Erlebens aus den Kirchen oder manchen so genannten charismatischen Gemeinden in die Fußballstadien gewandert: Mit einer 3:0-Schlappe aus dem ersten Spiel ging Liverpool in das Rückspiel. Ein Kantersieg gegen eine spanische Spitzenmannschaft mit absoluter Weltklasse schien unmöglich. Das Unmögliche wurde Wirklichkeit – Liverpool gewann 4:0. Manche Wortwahl in der hymnischen Berichterstattung liest sich, als hätte der Schreiber des Beitrags zuvor in einer päpstlichen Enzyklika oder einem Katechismus herumgeblättert. Einige Formulierungen zeigen, wie sehr Begriffe wie Erstaunen, Wunder, Sensation, begnadet, begeistert, jubeln, huldigen, glauben benutzt werden – nur der sonst oft zitierte »Fußballgott« fehlt in dem Bericht. Jürgen Klopps »Mannschaft begeistert die Fußball-Welt … Nach dem Wunder in der Champions League huldigt die Fußballwelt dem begnadeten Moderator Jürgen Klopp … Jetzt soll auch noch die Krönung in Madrid erfolgen … Es ist unglaublich … Britische Zeitungen reagierten mit Begeisterung und Erstaunen auf die Fußballsensation … Der Begriff ›Fußballwunder‹ war am Donnerstag auf vielen Titelseiten in Großbritannien zu lesen …«2 Die Fans von Liverpool sangen ihre berühmte Hymne »You’ll never walk alone – Du wirst nie allein gehen«. Standing ovations, nicht enden wollender Jubel waren zu erleben. Und der Trainer, der »Supermoderator« Jürgen Klopp, erklärt: »Ich habe zu den Jungs davor gesagt: Ich glaube nicht, dass es möglich ist, aber weil ihr es seid, glaube ich, dass wir eine Chance haben …«
»I am believer – Ich bin ein Glaubender«, wird ein Fan zitiert. Was aber ist ein Fan? Von seinem lateinischen Ursprung her verstanden kommt dieser Begriff aus dem religiösen Bereich. Ein Fan ist bzw. war zu römischen Zeiten ein von Gott Begeisterter, einer, der außer sich ist vor Begeisterung. Ein Ekstatiker. Auch das Wort »profan« leitet sich von dort her. Es bedeutet wörtlich übersetzt »vor dem Heiligtum«, pro fanum, also alltäglich, normal, weltlich, säkular u. ä. Die Gefährlichkeit des Fans drückt sich in den Bezeichnungen »Fanatiker« und »Fanatismus« aus. In seiner schlimmsten Form wird dieser in der Bibel mit den Worten gebrandmarkt: »Sie werden euch töten und glauben Gott einen Dienst zu tun« (Joh 16,1). Die Szenen von randalierenden Hooligans, Brandsätzen, Schlägereien, Hassgesängen zeigen, dass rund um den Fußball nicht nur Menschen dabei sind, die sich an einem Kampfspiel mit seinen »Wundern« und erstaunlichen Siegen eines vermeintlichen David über einen Goliath freuen wollen, sondern dass dabei noch ganz andere Dimensionen deutlich werden. Identitätsfindung, Gruppenzugehörigkeit, Frustration und Hassgefühle können ihr gefährliches Spiel treiben. Dies ist ein Phänomen, das sich nicht nur beim Fußball, sondern mehr und mehr auch in Ernstfällen gesellschaftlichen und politischen Zusammenlebens zeigt. Dort kann Staunen in Entsetzen umschlagen. Darüber nachzudenken und damit besser umgehen zu lernen ist wohl ebenso schwierig wie notwendig.