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ОглавлениеPlädoyer für das Staunen – das Wunder der Wirklichkeit
In einer großen Tageszeitung erschien ein Leitartikel mit der Überschrift »Plädoyer für das Staunen«. Ich war nicht wenig überrascht über das etwas ausgefallen klingende Thema und begann zu lesen. Es handelte sich bei dem Artikel um eine etwas ausführlichere Notiz über die Kasseler Musiktage und die Faszination, die sie auslösten. Es hieß da: »Plädoyer für das Staunen«, und ich fragte natürlich: Was meint eine solche Überschrift? Es hieß da unter anderem: »Die Natur, den Sinnen unmittelbar zugänglich, liefert den Verständniszugang zur Musik. Doch nicht die Erkenntnis ist das Ziel, sondern das Staunen in Umkehrung der These des Aristoteles, dass das Staunen am Anfang der Philosophie stehe. Den Menschen in den Zustand des Staunens zu versetzen ist das Ziel der Kunst, die der Natur folgt. Das Staunen aber ist das Verhältnis des Menschen zur Welt als Schöpfung, in der sich ein unfassbarer Schöpfer offenbart« (FAZ vom 3. November 2016).
Wie man dies auch genauer denken und kommentieren mag, Staunen gehört zum Wesensbestand jedes Menschen und weist zugleich über ihn hinaus. Es ist die Wahrnehmung und Reaktion auf Großes: auf Schönheit, auf Überraschung, auf Äußerungen von Liebe, auf Großartigkeit im Großen und im Kleinsten, auf das Wunder gelingender Begegnung und auf das Leben überhaupt. Zumeist ist auch das Moment der Überraschung dabei. Für gottgläubige Menschen ist Gott, die Gottesursprünglichkeit von Welt und Sein der Urgrund allen Staunens.
Das Staunen ist immer auch Tor zur Wirklichkeit; manchmal ist ein Türspalt offen und manchmal die ganze Tür sperrangelweit; manchmal wie durch ein Schlüsselloch geschaut und manchmal meeresgroß; manchmal über ein glitzerndes Sandkorn und ebenso im Blick auf eine ganze Bergwelt.
Mir scheint, dass es heute nur wenige Dinge gibt, die dem Menschen so unverzichtbar nötig sind wie das Staunen. Es ist kein Geheimnis, dass in einer Zeit ungeordneter und oft auch hemmungsloser Geschwätzigkeit viel geredet wird, ohne viel zu sagen. Die Fähigkeit und Begabung der Menschen, staunen zu können, will uns nur daran erinnern, dass unsere Sensibilität weit größer ist als das, was wir meinen, in Worten ausdrücken zu können. Es gibt tausend Dinge, die uns geistig überwältigen, ohne dass es uns gegeben wäre, sie in Worte zu fassen. Darum ist es auch nicht selten so, dass einen zumindest das große Staunen und nicht nur das kleine Stutzen sprachlos machen kann.
Staunen in der ganzen Breite und Tiefe seiner Bedeutung äußert sich auf vielfache Weise: Wir erschrecken, verstummen, ahnen etwas Geheimnisvolles, verneigen uns im Stillen vor etwas, das größer ist als wir selbst. Das deutsche Wort »staunen« meinte ursprünglich: »starren, vor Schrecken zittern, alle kräffte sinken lassen« (Grimm). Heute versteht man darunter: »Mit großer Verwunderung wahrnehmen, sich beeindruckt zeigen und Bewunderung ausdrücken« (Duden).
Staunen muss etwas zu tun haben mit einem geistigen Ergriffensein, es ist ein augenscheinliches, vielleicht sogar plötzliches Überwältigtwerden von etwas, was schön ist, begehrenswert macht und was letztlich doch nicht erfasst und begriffen werden kann.
Staunen also, dieses Überrascht- und Überwältigtsein von etwas Großem und gänzlich Unvermuteten, das ist auch Begabung, die dem Menschen geschenkt ist in der Berührung mit dem Wunder der Wirklichkeit. Der Mensch berührt in einer geschenkten Unmittelbarkeit etwas vom Wunder des Seins.
Wenn dieses Kapitel überschrieben ist mit »Plädoyer für das Staunen«, dann ist dies gleichbedeutend mit einem Eintreten für die Wirklichkeit. In der Unfähigkeit oder Schwäche zu staunen findet eine »Wirklichkeitsverkürzung« statt. Vielleicht haben sich unsere Augen oft allzu sehr an das Unbegreifliche und Wunderbare und Großartige gewöhnt, dass wir es als solches gar nicht mehr wahrnehmen und schätzen können. Das Selbstverständliche ist nach der Wahrnehmungsschwäche der größte Feind des Staunens. Vor Jahrzehnten schon hat der Theologe und Jesuit Karl Rahner einmal warnend gesagt, die Weiterentwicklung der Menschheit könne auch darin bestehen, sich zu einem »findigen Tier« zurückzuentwickeln. Und umgekehrt formuliert er einmal das oft zitierte Wort: »Der Fromme von morgen wird ein Mystiker sein, einer, der etwas erfahren hat, oder er wird nicht mehr sein.« Ob das einer ist, der, wie man gelegentlich so sagt, »nicht mehr aus dem Staunen herauskommt«?