Читать книгу Staunen - Josef Bill - Страница 12
ОглавлениеZappen, innehalten, schauen
Auf dem Fußballfeld wird der Ball mit den Füßen gespielt – abends beim Fernsehen spielen viele mit den Fingern auf der Wähltaste. Man zappt, d. h., man wechselt schnell und dauernd den Kanal. Das Wort, das aus dem englischen Sprachraum kommt, bedeutet dort so viel wie löschen oder – in Westernfilmen – jemanden abknallen. Wer zappt, der sucht. Oft findet er nichts oder er weiß eigentlich gar nicht, was er sucht. Aber er zappt herum in der Hoffnung, dass er irgendwann etwas findet, das ihn interessiert oder womit er – groteskerweise beim allgemeinen »Zeitmangel« – sich die Zeit vertreiben kann. Mit den steigenden Auswahlmöglichkeiten werden wir immer mehr, könnte man meinen, zu einem Volk von »Zappelphilippen«. Vor der »Glotze« sitzen und herumzappen und sich nicht mehr die Zeit gönnen, in Ruhe oder gar »andachtsvoll« etwas anzuschauen. Es ist, als gewinne man zu Wirklichkeiten immer mehr das Verhältnis von Touristen, die alle möglichen Objekte schnell »in den Kasten der Kamera« bannen, fotografieren, blitzen, um es dann später vielleicht bei irgendeiner Gelegenheit schnell durch den Vorführapparat zu jagen. Situationen werden »objektiv« festgehalten. Aber was bloß geknipst ist, wird immer seltener zu einer »Sehenswürdigkeit«. Zum wirklichen Schauen und Staunen braucht es ein Innehalten, um der Einladung »Schau mal« folgen zu können.
Es ist bezeichnend, dass ein Roman mit dem Titel »Entdeckung der Langsamkeit« große Beachtung gefunden hat. Immer wieder werden Einladungen zur »Entschleunigung« ausgesprochen, weil alles immer schneller und gehetzter wird. In einem Jahr bekommen wir mehr Informationen geliefert als frühere Generationen in einem ganzen Leben. Alles ist in Gefahr, inflationär zu werden: Worte, Bilder, Menschen. Wie an der Kasse im Kaufladen alles möglichst schnell registriert wird, so sind wir in Gefahr, Wirklichkeit überhaupt immer mehr nur noch zu registrieren, um auf dem neuesten Stand der Information zu sein. Die Zeit, eine Nachricht im wörtlichen Sinn wahr-zunehmen, wird immer kürzer. Die Halbwertzeit des Verfalls, der Überholtheit von Nachrichten nimmt immer mehr zu. In Peter Handkes Roman »Der Chinese des Schmerzes« wird von einem arbeitslos gewordenen Mann berichtet, der auf einmal Zeit hat. Der beschaulich gewordene Mensch drückt seinen neuen, sozusagen gesegneten Zustand in religiöser Sprache aus: Dass das Zeithaben eintrat, »war eine Seltenheit: was üblich ›im Stand der Gnade‹ genannt wurde, sollte vielleicht ›im Stand des Zeithabens‹ heißen.«3
Wenn die folgende Gegen-Geschichte von der Unfähigkeit zu staunen nicht wahr ist, so ist sie doch gut erfunden; aussagekräftig ist sie auf jeden Fall. Ein Mann, der sich immer sehr cool gab, ließ sich durch nichts richtig beeindrucken; jedenfalls tat er so. Als ihn einige Bekannte zu den weltberühmten Iguazú-Wasserfällen führten – einem einzigartigen Naturschauspiel, manchem aus dem Jesuiten-Film »Mission« bekannt –, erhofften sie, dass er davon doch angerührt sein würde. Weit gefehlt, seine Reaktion war: »Na und? Wasser, das nach unten fällt.« – So kann man es auch sehen und sogar exakt ausdrücken. Vom Ursinn des Wortes »Sehenswürdigkeit« ist da freilich nichts geblieben. Wenn nichts mehr oder immer weniger mit den Augen gewürdigt wird, dann wird wohl der schnelle Hingucker selber immer würdeloser. Vielleicht reicht es noch zu einem Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, in wie wenig Zeit man sensationell viele »Weltwunder« gesehen hat. Das sind dann sicher mehr als die sieben Weltwunder der Antike. Mehr an Lebensqualität ist es freilich nicht. Es kann schließlich dazu führen, dass man niemanden mehr »eines Blickes würdigt«.
Neben den zeitkritischen Anfragen ist aber auch zu sehen, wie viel an seelischer Gesundung im ruhigen Verweilen in der Natur von Menschen gesucht wird. Wie die Natur betrachtet und bewundert werden kann, zeigen Serien wie »Terra X« und »Elefant, Tiger und Co«. Auch viele einzelne Filme führen »die Wunder der Natur« in Nahaufnahme und Zeitlupe vor Augen. Auch Bildbände gibt es in Hülle und Fülle, manchmal mit sprechenden lyrischen Worten garniert. Auch Dauer-Sendungen wie »nano« lassen mitunter einfach staunen über die Wunder von Technik und Kultur. Die Angebote sind vielfältig. Da liegt es mehr beim Einzelnen, ob er nur eilt oder auch verweilt.