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ОглавлениеStaunen – Annäherung durch die Sprache
Wenn man sich etwas erklären will, dann bringt einen die Sprache selber auf eine wichtige Spur. Es sind alltagssprachliche Redewendungen, die einem dabei helfen können, oder auch Auskünfte von Wörterbüchern. Der Blick auf die Sprache zeigt vor allem die verschiedenen Einfärbungen und Bedeutungsverschiedenheiten je nach Situation und Kontext. Besonders wird auch deutlich, dass es verschiedene »Stärkegrade« an Staunen gibt – vom leichten Überraschtsein bis zu sprachlosem, überwältigendem Kontakt mit einer neuen Wirklichkeit bzw. einer neuen Sehweise. Letzteres drückt Ignatius von Loyola im Blick auf sein stärkstes geistliches Erlebnis mit den Worten aus: »dass ihm schien, als sei er ein anderer Mensch und habe eine andere Erkenntnisfähigkeit, als er zuvor hatte« (BP 30).1 Es gibt das alltägliche Stutzen bis zum mystischen, alles übersteigenden Begegnen mit der Tiefe des Seins und der Ursprünglichkeit aller Wirklichkeit. Doch jetzt ein Blick ins Lexikon und auf alltägliche Redewendungen. »Staunen« bedeutet nach dem Etymologischen Wörterbuch von Kluge »sich wundern« oder »verwundert blicken« und wurde erst im 18. Jahrhundert als Schweizer Mundartwort in die Hochsprache übernommen. Es bedeutet eigentlich vor sich hinträumen, vor sich hinstarren und ist ähnlich zu verstehen wie starren. Steif und starr sein vor Staunen bzw. mehr noch vor Erschrecken. Das Gemeinte ist hier wohl einfach: Wer staunt, der bleibt stehen und schaut und hält inne. Staunen ist eine Art »Stau«, könnte man sagen – für gutwillige Autofahrer im Stau auch mal die Gelegenheit, nicht nur touristisch zielorientiert an allem vorbeizufahren, sondern zu schauen und dabei auch einmal ins Staunen zu geraten – mitten im Stau. Über die Auskunft des Lexikons hinaus lässt sich leicht eine Reihe von Synonymen im ganz normalen Sprachgebrauch entdecken, die dem, was wir mit »staunen« ausdrücken wollen, vergleichbar oder ähnlich ist. Staunen kann heißen: überrascht, bestürzt, verwundert sein. Es kann jemand sagen: Ich bin ratlos gewesen, ich habe nur noch große Augen gemacht, das hat mir die Stimme oder die Sprache verschlagen; ich war zutiefst betroffen, ich habe einen Moment gestutzt, all dies ging mir über meinen Verstand; zu meiner großen Überraschung lief alles ganz anders als vermutet; ich war ganz verblüfft, verwundert, überrascht; ich war zutiefst beeindruckt, ja ganz überwältigt.
Im »Open Thesaurus«, einem freien deutschen Wörterbuch für Synonyme, bei dem, wie es heißt, »jeder mitmachen kann«, steht eine ganze Sammlung: »angaffen, aus dem Staunen nicht mehr herauskommen, bestaunen, bewundern, erstaunt sein, mit offenem Mund dastehen, nicht schlecht staunen, erst einmal nichts zu sagen wissen, staunen, verwundert anstarren, sich wundern, wer beschreibt mein Erstaunen, als …, doof gucken, Glotzaugen machen, Bauklötze staunen, große Augen machen, den Mund nicht mehr zubekommen, entgeistert, fassungslos, ungläubig den Kopf schütteln, sich verwundert die Augen reiben, erstaunt sein über …, verdattert sein, von den Socken sein, perplex, platt.« Ob der Vielfalt der Formulierungen könnte man auch noch hinzufügen: »Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich …«
Sicherlich ließen sich noch weitere Sprachbilder und Ausdrücke finden, die in ihren Nuancen immer wieder Neues und leicht Verändertes betonen, letztlich aber auf das Eine hinweisen: da ist etwas, was man nicht einfachhin versteht und gleich und leicht einordnen kann, was den bloß erklären wollenden Verstand zumindest zunächst übersteigt. Als Spruchweisheit gesagt: »Wer über manches nicht den Verstand verliert, der hat gar keinen.« – Tiefer gefasst schreibt Paulus im Brief an die Philipper vom »Frieden Christi, der alles Begreifen übersteigt« (Phil 4,7).