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5. Dem Westen entgegen Saint Brendan of Clonfert (Bréanainn of Clonfert) (ca. 484–577) & Leif Eriksson (Leifur Eiríksson (ca. 975–1020)
Оглавление1492 – Columbus entdeckt Amerika. Dieser Konnex scheint bei allen Zeitgenossen, trotz angeblich rückläufiger historischer Bildung, unverrückbar verankert. Doch war der Genuese in spanischen Diensten tatsächlich der erste Europäer auf dem amerikanischen Festland? Bei der Beantwortung dieser Frage scheint der Betrachter zunächst an die Grenze von Mythos und Belegbarkeit, von Legende und Fakten zu stoßen. Die Namen zweier Seefahrer stehen hier an prominenter Stelle im Raum, deren Diskrepanz nicht größer sein könnte: zum einen ein irischer Mönch des 6. Jahrhunderts, von dessen tatsächlichen Reisen und Entdeckungen so gut wie nichts bekannt ist; zum anderen ein skandinavischer Stammesfürst des 11. Jahrhunderts, dessen Leistungen mittlerweile auch archäologisch abgesichert scheinen.
Beginnen wir mit dem heiligen Manne. Gemäß kultisch-liturgischer Tradition wurde Brendan of Clonfert (irisch: Naomh Breandán) 484 zu Fenit Tralee im südirischen Kerry geboren. Nach einer Erziehung in mehreren frommen Einrichtungen wurde er 512 durch den Hl. Erc zum Priester geweiht, jenen Erc, der einst St. Patrick noch selbst gesehen hatte. Bis 530 scheint der von Brendan unternommene, in den Quellen als «Seana Cill» (alte Kirche) bezeichnete Bau eines Klosters zu Füßen des Mount Brandon abgeschlossen gewesen zu sein. Bisher also ein Leben ganz in der Tradition des altirischen Mönchtums.
Aus dessen Rahmen trat Brendan definitiv durch jene Unternehmung heraus, welche ihm nicht nur säkularen Ruhm, sondern auch die Berechtigung einbrachte, sich auf diesen Seiten wiederzufinden. Am 22. März eines nicht näher bezeichneten Jahres (530?) begann Brendan von seinem Kloster an der äußersten irischen Westküste aus seine Reise auf der Suche nach dem Paradies im Westen, laut Überlieferung in Begleitung von sechzig Gefährten, in welchen man wohl seinem Konvent zugehörige Mitbrüder sehen kann. Was sich auf dieser Reise alles ereignete, kann man ausführlich in den beiden großen Reise- beziehungsweise Lebensberichten des Heiligen nachlesen, der wohl gegen 750 verfassten Vita Sancti Brendani und der deutlich späteren (980?) Navigatio Sancti Brendani Abbatis. Das große Problem hierbei ist also nicht ein Mangel an Quellen – wiewohl echte zeitgenössische Dokumente des 6. Jahrhunderts nur in geringer Anzahl existieren –, sondern deren historische Einordnung. Viele Details mögen der theologischen, biblischen und eventuell auch eschatologischen Reflexion angehören: Wenn etwa Brendan am Ostermorgen die Heilige Messe auf dem Rücken eines Wales zelebriert (eine der berühmtesten Episoden der Reise), so handelt es sich hierbei zweifellos um eine allegorische Analogie zur Jonas-Überlieferung, welche selbst von der klassischen Exegetik vorausdeutend auf die dreitägige Grabesruhe Christi gesehen wird – bringt der Diener Gottes also das Opfer gerade am Ostertag auf dem Wale dar, so ist dies als Sinnbild der Auferstehung zu deuten, jener des Erlösers, der den Todesrachen (von Calvaria und Felsengrab respektive des Walinneren) überwunden hat. Gleiches gilt für die Vision zu Anfang der Reise, in welcher Brendan von der Spitze seines Klosterberges in Richtung Westen das neue Land erblickte, wie einst Moses das Land der Verheißung, Kanaan, geschaut hatte.
Für unseren Betreff der Durchdringung und Bewältigung/Ordnung maritimer Räume durch Individuen essenziell aber bleibt die daraus resultierende, die rein kartographisch-materielle Ebene weit übersteigende grundlegende Sicht auf das «Land jenseits des Meeres». Zwar war schon der frühen Kirche bewusst, dass der Herr einst aus dem Osten wiederkehren würde, man denke nur an die Ostung der Kirchen und die damit verbundene Gebetshaltung ad orientem. Der Westen hingegen galt als Land des Sonnenuntergangs, der Verheißung der letzten Tage, aber auch als die große Unbekannte der Endzeit. Brendan scheint hier, zeitlich interessanterweise sehr nahe am endgültigen Um- beziehungsweise Aufbruch der christlichen Welt in eine östliche und westliche Sphäre, am Anfang einer Tradition zu stehen, deren Wirkmächtigkeit gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: vom erwarteten endzeitlichen König jenseits der Wasser bis hin zur Etablierung einer eigenen westlichen Sphäre genuin britischer Prägung. Zwar würde noch einige Zeit vergehen, bis Papst Urban II. am Ende des 11. Jahrhunderts den Erzbischof von Canterbury als papa alterius orbis, also geistliches Oberhaupt eines eigenen Erdkreises, bezeichnete und implizit anerkannte. Doch sollte man nicht vergessen, dass zu diesem Zeitpunkt auch die Brendan-Rezeption und der damit in Verbindung stehende Kult auf ihrem Höhepunkt waren, ohne damit einen expliziten Konnex zwischen der sicher in vielen Dingen – vor allem durch die Erfahrungen vom 14. bis 21. Jahrhundert – antagonistischen englischen und irischen Geschichte konstruieren zu wollen. Bedeutsam aber bleibt jene Konzeption des Westens als eigenständige Größe, einschließlich der dazwischenliegenden Wasser. Vom Paradies des Brendan war es sicher ein langer Weg zur Sicht des englischen Königs als eines Lord Paramount of the West im ebenbürtigen Kaiserrange (man bedenke, dass etwa die englischen Regalia schon lange vor der Proklamation Königin Victorias zur Empress of India 1876 das Etikett «imperial» trugen) und ein noch längerer hin zum biblisch-heilsgeschichtlichen Selbstverständnis der neuen Lande im Westen als «gelobtes Land» der unmittelbar göttlichen Verheißung, wie es uns aus den Schriften der Gründerväter der Vereinigten Staaten und den zahlreichen Apologeten des «Manifest Destiny» im 19. Jahrhundert entgegentritt. Lange vor dem Aufkeimen der englisch-irischen und englisch-amerikanischen Gegensätze aber hatte Brendan hierfür die Perspektive gewiesen und den Weg bereitet.
Dieser gewaltigen geistesgeschichtlichen Dimension steht in krasser Diskrepanz unser tatsächliches Wissen über die Reise des irischen Mönches gegenüber. Viele Orte haben fleißige Forscher vieler Jahrhunderte durch Quellenkritik, Rückschlüsse, Vermutungen und Berechnungen versucht hiermit zu verbinden beziehungsweise darin zu identifizieren. An prominentester Stelle rangieren hier die Färöerinseln, Island, die Antillen, die Azoren und Kanaren sowie Grönland und die Nordostküste des amerikanischen Kontinents. Nachweisbar ist hiervon so gut wie nichts; zwar gilt eine irische Siedlungstätigkeit auf Island im 8. Jahrhundert mittlerweile als gesichert, doch inwieweit Brendan damit in Zusammenhang gebracht werden kann und muss, sei dahingestellt. Nautisch und navigatorisch darf man dabei die Angaben der beiden Hauptquellen wiederum nicht wörtlich nehmen. Die darin erhaltenen Zeitangaben etwa sind eindeutig von biblisch-eschatologischem Charakter, so die berühmten sechs Tage bis zum Erreichen der «Neuen Welt», welche eindeutig das Schöpfungswerk der Genesis reflektieren. Man sollte also nicht versuchen – wie leider oft geschehen –, nach jenen Orten im Atlantik zu suchen, welche mit den schiffstechnischen Möglichkeiten des 6. Jahrhunderts, falls diese überhaupt rekonstruiert werden können, in dieser Frist zu erreichen wären. Geratener scheint es, hierin zum einen eben die theologischen Komponenten zu erkennen, zum anderen aber die Überlieferung als eine Sammlung „von Informationen über die Länder westlich von Island [zu sehen], welche von den Berichten der Nordmänner aus dem Nordatlantik herrührten (oder aber, falls Island direkt erwähnt wird, von jenen irischen Mönchen, welche Island beim Herannahen der Nordmänner 870 fluchtartig verließen)“ (Oleson, Brendan, 2000).
Diese letzte Erkenntnis verbindet den frommen Mann aus Irland maritim mit jener anderen Gestalt der frühen Westfahrer: Leif Eriksson (altnordisch: Leifr Eiríksson; isländisch: Leifur Eiríksson; norwegisch: Leiv Eiriksson). Um 970 wurde er als Sohn Eriks des Roten (950–1003), des Begründers der ersten Wikingersiedlung auf Grönland und blutsverwandten Nachkommen Naddodds (9. Jh.), der als erster Nordmann auf den Färöern und schließlich als Erster auf Island gesiedelt hatte, geboren. Beide Expansionsbewegungen waren juristischen Zwischenfällen und einem daraus resultierenden Zwangsexil der Protagonisten geschuldet gewesen; nicht so jene Leifs. 999 brach er mit einer unbestimmten Anzahl an Gefährten und Schiffen auf, um nach Norwegen zu reisen, wo er, nach einigen Irrfahrten, auch anlangte und den christlichen Glauben annahm. Folgt man den Überlieferungen, so wurde Erik quasi als Missionar nach Grönland zurückgesandt, um dort das Werk des Glaubens zu befördern. Auf der Rückreise kamen sie aber wiederum vom Kurs ab und landeten schließlich in jenem Vinland an der nordamerikanischen Küste.
Wahrscheinlicher klingt der Bericht der «Grænlendinga saga» (Saga von den Grönländern), nach welchem Leif, nachdem er diesen Bericht gehört hatte, den alten Nordfahrer Bjarni Herjólfsson (10. Jh.) aufsuchte, der darin seine eigene Amerikafahrt 985 beschrieben hatte. Nach einem offenbar überzeugenden Gespräch entschloss sich Leif, Bjarnis Schiff, mit welchem dieser die Fahrt unternommen hatte, zu kaufen sowie dessen Crew anzuheuern. So ausgerüstet stach er in See, wobei er die Route seines Vorgängers in der Gegenrichtung nachfuhr, und landete schließlich in dem von ihm so benannten «Flachfelsen-Land» (Helluland), wohl auf der Nordkanada vorgelagerten Baffininsel (Baffin Island). Ein zweiter Landfall führte ihn ins «Waldland» (Markland), wohl das heutige Labrador. Schließlich, nach weiteren zwei Tagen Fahrt, landete er im «Weinland» (Vinland) auf dem amerikanischen Kontinent, wo er vor seiner Rückreise eine kleine Kolonie (genannt «Leifsbudir», Leifs Hütte) von Gefährten zurückließ. Der – trotz der Vorleistungen Bjarni Herjólfssons – unglaubliche Erfolg dieser Reise trug Leif den Beinamen «Leif der Glückliche» ein.
Lange Zeit reihte man diese Erzählungen in die Welt der nordischen Heldensagen ein und erkannte ihnen damit implizit jede historische Realität ab. In den 1960er Jahren aber gelang es dem norwegischen Archäologenehepaar Helge und Anne Stine Ingstad nach umfangreichen Ausgrabungen das kanadische L’Anse aux Meadows (frz. L’Anse-aux-Méduses) in Neufundland als Leifsbudir zu identifizieren; heute besteht dort ein großes museal-zugängliches archäologisches Freiluftgelände. Ob L’Anse aux Meadows wirklich der Hauptsitz der Nordmännerkolonie oder nur ein Ableger – vermutet wurde sogar eine regelrechte Schiffswerftanlage – gewesen war, ist zweitrangig; die Wikingerpräsenz in Nordamerika zu Beginn des 11. Jahrhunderts kann nicht mehr in Zweifel gezogen werden.
Neben der archäologischen Beweisführung gibt es noch zahlreiche weitere Belege für die tatsächliche Anwesenheit der Wikinger in der Neuen Welt. Die Zentralfigur hierfür ist Snorri Thorfinnsson (ca. 1004–1090), der erste in Amerika geborene Europäer. Er wurde nicht nur eine der bedeutendsten Persönlichkeiten bei der Missionierung Islands; seine mittlerweile stark angenommene zentrale Übermittlungsfunktion der Reiseberichte macht ihn zu einem der Gewährsmänner der Grönland-Saga. Hinzu kommen weitere Wikingerfunde in Amerika, darunter der berühmte «Maine Penny», welcher 1957 in einer Indianersiedlung in Naskeag Point (Brooklin, Maine) gefunden wurde. Es handelt sich dabei um eine norwegische Silbermünze aus der Regierungszeit von König Olaf Kyrre (1067–1093). Dies belegt die Permanenz europäischer Kontakte nach Nordamerika, zumal bis zum Ende des 11. Jahrhunderts; andere Hinweise legen diese, wenigstens in Form von Handelsverbindungen, noch bis ins 14. oder gar 15. Jahrhundert nahe.
Wie dem auch sei – für den maritimhistorischen Betrachter gilt es mehrere wesentliche Punkte der obigen Erzählung festzuhalten.
Im Gegensatz zu Brendan stehen bei Leif handfeste Angaben im Mittelpunkt: Er verfügte über einen offenbar kodifizierten Reisebericht eines Vorgängers, das heißt, maritimes Wissen war fester Bestandteil persönlichen Handelns. Zudem kaufte er ein besonderes Schiff (jenes des Vorgängers) und übernahm dessen Besatzung, was auf eine hohe Spezialisierung des maritimen Alltags rückschließen lässt; mit ‚normalen‘ Schiffen und Mannschaften war die Fahrt offenbar nicht zu unternehmen. Doch das Erstaunlichste und Bemerkenswerteste bleibt die Tatsache der seefahrerischen Leistung an sich: Leif und seine Nachfolger (egal, über wie lange Zeit) hatten die Überseekolonie und ihre Heimat immer wieder gefunden! Bedenkt man, welch große Schwierigkeiten noch die europäischen Marinen des 18. Jahrhunderts mitunter hatten, selbst genau kartographierte Punkte zu ‚treffen‘ (mangels eines genauen Mittels zur Längengradberechnung), so ist dies mehr denn beachtlich. Dieser Punkt verweist aber die anderen Komponenten einzelner Überlieferungen ins Reich des nunmehr wirklich Legendarischen im landläufigen (falschen!) Sinne des Wortes: Durch bloßes zufälliges Abkommen vom Kurs konnte eine derartige Kontinuität nicht gewährleistet werden, da diese Zufallserfahrung nicht wiederholbar ist.
Und damit kommen wir wieder zu Brendan zurück. Woher wusste denn Leifs Vorgänger Snorri von dem Land im Westen? Wenn seine Ankunft dort das Ergebnis eines maritimen Zufalls gewesen war – wie war er dann imstande, den Weg dorthin so genau zu beschreiben, dass andere die Fahrt wiederholen konnten? Welche Nachrichten und Informationen hatten die irischen Mönche auf Island und im nordatlantischen Raum allgemein hinterlassen?
Die Antwort auf diese Fragen werden wir wohl nie finden. Was bleibt, ist die Suche nach einem fernen Land, dessen Attraktivität sich dem rein Rational-Materiellen entzieht. Die Suche nach dem Unbekannten sowie nach sicheren Verbindungen dorthin weist immer auch eine Blickrichtung in das Heilsgeschichtlich-Eschatologische auf, im christlichen Kontext verbindet sie sich mit dem Auftrag, die Lehre „bis an die Grenzen der Erde“ (Ap 1,18) zu tragen – also gegebenenfalls auch in neue Welten hinein.
Zum anderen – und von daher – lebt der Geist des «westlichen Imperiums» bis heute von dieser letztlich religiösen Komponente des Traumes von einem Idealland im Westen. Der irische Mönch und Heilige sowie der erste christliche Missionar der Nordmänner stehen am Anfang seiner Verwirklichung.