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Prolog

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Wenn man eine Biografie schreibt, wie ich es jetzt vorhabe, dann sollte man ganz bei der Wahrheit bleiben. Andernfalls sollte man lieber Romane schreiben, wenn man unbedingt schreiben will und schreiben kann. Ich wollte schreiben, aber konnte nicht und zögerte damit, weil ich nicht begabt genug dafür bin. Ich ließ andere schreiben, wurde Buchhändler und später auch noch Verleger. Ich war stolz darauf, Bücher in die Hand zu nehmen, auf denen mein Name gedruckt war, obwohl ich sie nicht selbst geschrieben hatte.

Mein Freund Manès Sperber, mein Bruder im Geiste, der in meiner Nachbarschaft aufwuchs, schickte mir seine Lebenserinnerungen, die unter dem Titel Die Wasserträger Gottes im Europaverlag erschienen sind. Beim Lesen musste ich mich immer wieder an meine Kindheit in Galizien erinnern, und ich beschloss, auch meine Lebensgeschichte niederzuschreiben. Ich habe hin und wieder Zitate aus Sperbers Erinnerungen übernommen, wo er mir aus dem Herzen spricht und ich es nicht besser schreiben könnte. Ich bin sicher, dass Sperber das nicht nur erlaubt, sondern auch begrüßt hätte, denn wenn wir uns trafen und Erinnerungen austauschten, mussten wir immer wieder feststellen, dass wir beide oft dasselbe erlebten.

Jetzt sitze ich in meiner Wohnung und schreibe Erinnerungen auf, soweit ich mich erinnern kann. Um nichts zu verdrehen und vor allem um nicht selbst Opfer von Übertreibung oder Unterlassung zu werden, werde ich mich um Sachlichkeit und um eine zusammenhängende Darstellung bemühen, auch wenn es mir manchmal schwerfällt. Einiges ist im Laufe der Zeit verdrängt worden, anderes verloren gegangen, und an vieles will ich mich gar nicht mehr erinnern. Und außerdem ertappe ich mich immer wieder dabei, unangenehme, peinliche Erlebnisse retuschieren und weglassen zu wollen. Das hilft mir aber nicht. Alles soll raus, auch wenn mich der Text da und dort erröten lässt. Dabei gibt es keinen Grund, sich zu schämen. Ich habe mein Leben lang ehrlich gekämpft, für meine Ideale, für meine Würde, meine Existenz und sogar um das nackte Überleben. Ich hätte gern ein anderes Leben führen können, aber die Umstände hatten dies nicht zugelassen. Sie haben mich das Leben führen lassen, das ich in diesem Buch schildern werde.

Ich hätte die Jahre in Berlin kaum überlebt, wenn »Aschinger« nicht großzügig Brötchen gratis verteilt hätte, wenn man dort eine Suppe für fünfzig Pfennig aß. Im Lager in Russland war ich nicht immer ein Held. Um ein Stück Brot zu erwischen, habe ich auch lügen oder mich erniedrigen müssen. In Samarkand war ich notgedrungen gezwungen zu betteln. Ich lief Hunden hinterher, die etwas Essbares im Maul hielten. Ich lebte am Existenzminimum. Der Hunger war mein ständiger Begleiter.

Die besten Jahre verbrachte ich in Paris im Exil. Ich war jung und finanziell unabhängig. Es ging mir gut. Ich war umgeben von lauter interessanten Emigranten, von denen ich viel lernen konnte. Vor allem war ich frei. Ich war nie mehr so frei wie damals in Paris. Später geriet ich in Russland in Haft, wo ich wie ein Sklave behandelt wurde. Und wieder später trug ich Verantwortung für eine Familie.

Ich floh im Januar 1933 vor den Nazis nach Palästina und versuchte, mir dort eine Existenz als Buchhändler aufzubauen. Als ich merkte, dass dort auch der Nationalismus zunahm und man Fahnen mehr verehrte als das biblische Gebot »Liebe deinen Nächsten«, verließ ich das Land wieder. Die Juden in Israel glaubten, besser und menschlicher zu sein als die arabischen Einwohner. Ich kehrte nach Europa zurück, wo mich der Zweite Weltkrieg erwischte, nach dessen Ende ich wieder in Palästina landete, das jetzt Israel heißt.

Wieder verließ ich 1958 »aufatmend« das Land und kehrte zurück nach Deutschland. Aus den wenigen Jahren, die ich bleiben wollte, sind jetzt mehr als 25 geworden. Freunde in Köln, wo ich zu Beginn dieser Zeit Station gemacht hatte, haben mich überredet und überzeugt zu bleiben und einen jüdischen Verlag zu gründen. Ich sollte die in den Nazijahren verbotene, verbrannte oder anderweitig verloren gegangene jüdische Literatur der Öffentlichkeit wieder zugänglich machen. Also blieb ich in Köln und gründete den Joseph-Melzer-Verlag, bei dessen Gründung die Göttin Fortuna Pate stand. Ich brachte eine ganze Reihe wichtiger Bücher zum Judentum auf den Markt. Der Joseph-Melzer-Verlag leistete echte Pionierarbeit, und wie das Schicksal den Pionieren oft mitspielt, konnten erst die Nachfolger die Ernte einbringen.

Zwar fand ich Anerkennung, jedoch wurde meine Verlagsarbeit von den jüdischen Organisationen und den »Berufsjuden« kaum beachtet. Nicht selten wurde meine Arbeit geradezu behindert. In jüdischen Kreisen wurde bevorzugt der als erfolgreich verstanden, der Immobilien besaß. In den ersten Jahren des Nachkriegsdeutschlands galten Bücher wenig, es zählten eher Scheckbücher. In eine Auseinandersetzung mit Heinz Galinski, Vorsitzender des Zentralrats der Juden, mischte sich Ignaz Bubis ein. Er fragte mich mit aggressivem Unterton: »Was haben Sie denn schon für das Judentum geleistet, dass Sie es wagen, Heinz Galinski zu kritisieren?«

Ja, was? Es stimmt, ich habe keine Häuser im Frankfurter Westend erworben, sondern Bücher verlegt. Und nachdem man wusste, dass ich damit nicht nur kein Geld gemacht, sondern auch noch Geld verloren hatte, habe ich schon gar keine Anerkennung mehr finden können. Dennoch, ich bedauere nichts.



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