Читать книгу Rakna - Josephine Becker - Страница 6
Lynthriell
ОглавлениеDas Erste, was Rakna vernahm, war, wie der Schmerz in ihrer Schulter langsam nachließ. Sie vermochte es sich nicht zu erklären wieso. Lag es daran, dass sie im Sterben lag? Und war es so, dass im Tode, eine leise Stimme in einer fremden Sprache vor sich hin murmelte, bis der Schmerz nachgelassen hatte? Aber war es überhaupt möglich, im Tod noch was zu spüren? Rakna bemerkte, wie etwas Nasses auf ihre Stirn gelegt wurde. Wie merkwürdig! Nein, das konnte nicht Sterben sein. Sie versuchte, ihre Augen zu öffnen und sich aufzurichten, aber sie war zu schwach und so gelang es ihr nur, durch ihre zusammengepressten Augenlider hervor zu spähen. Sie erkannte eine Frau vor sich. Doch diese wirkte nicht angsteinflößend. Sie besaß ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht mit langem, geschmeidigem, schwarzem Haar, das ihr bis zur Brust reichte. An beiden Seiten der Stirn hatte sie eine dünne geflochtene Strähne, welche sich am Hinterkopf verband. Ihre Augen waren von einem strahlenden Blau und von vollen langen Wimpern umgeben. Die Fremde, war deutlich größer als alle Frauen, die Rakna kannte. Sie trug ein weißes, transparentes Kleid über einem sonnengelben Unterkleid, welches eng um die Brust geschnürt worden war. Die Ärmel verliefen nach unten zu einer weiten Öffnung und zarte Hände ragten darunter hervor. Sie tupfte mit einem Tuch Raknas schweißnasse Stirn ab. Als sie bemerkte, dass das Kind wach war, sprach sie zu ihr mit besorgter Stimme:
„Du hast wirklich großes Glück gehabt. Wäre ich einen Moment später gekommen, hätte ich dir nicht mehr helfen können.“ Rakna versuchte sich aufsetzen, doch die Frau drückte sie mit sanfter Gewalt wieder zurück auf das Kissen.
„Du solltest dich ausruhen! Wir haben heute einen anstrengenden Tag vor uns. Es ist wichtig, dass wir dich in deine Welt zurückbringen.“ Endlich hatte das verwirrte Kind, die Stimme wieder gefunden. Zu Beginn fiel es ihr schwer, einen Ton hervorzupressen, doch dann sprach Rakna zögerlich und brüchig:
„Wer seid Ihr? Und wer war diese schreckliche Frau?“
„Mein Name ist Lynthriell und ich bin Bewohnerin des Luftvolkes des Elfenlandes. Die Kreatur, der du armes Kind begegnet bist, war keine Frau. Sie ist eine Dämonenfürstin und ihr einziges Ziel ist es, dir deine Lebenskraft zu entziehen. Wenn ich sie nicht aufgehalten hätte, nicht auszusprechen, was dann mit dir geschehen wäre.“ Die sanftmütige Frau sah zu Boden und schüttelte leicht ihren hübschen Kopf. Ihr Blick wurde ernst:
„Leider gibt es etwas, was ich dir sagen muss. Der Biss der Fürstin bringt grausame Begleiterscheinungen mit sich. Wird das Opfer dabei nicht getötet, so wird es doch mit dem gefährlichen Gift infiziert. Hindert man es nicht an seiner Ausbreitung, wird jedes Geschöpf, das damit befallen ist, in Ihres gleichen verwandelt. Ich habe es geschafft die Infektion in deiner Schulter einzuschließen, sodass sie sich nicht weiter ausbreitet und die Seele nicht verdirbt. Aber das Gift hat schon sein Mal hinterlassen und dagegen vermag ich leider nichts zu tun.“ Im selben Moment, als sie ihren Satz beendete, klopfte es laut an der Tür. Erschrocken wandte sie ihr elegantes Haupt in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war. Dann schaute sie wieder zu Rakna und legte einen Finger auf ihre Lippen, zum Zeichen, dass sie sich still verhalten sollte. Lynthriell schlich leise aus dem kleinen Raum und schloss die Tür hinter sich. Plötzlich wurde eine andere Tür aufgerissen und eine laute, tiefe Stimme ertönte. Sie sprach im strengen Ton:
„Es wurde ein Fremdling, aus dem Menschenreich aufgespürt. Die höchste Alarmstufe wurde ausgerufen. Ist Euch irgendetwas aufgefallen? Ihr wisst, wir müssen sie auslöschen, bevor Schlimmeres passiert.“ Mit kräftiger, bestimmter Stimme antwortete Lynthriell:
„Nein Herr, selbst wenn mir etwas ins Auge gefallen wäre, hätte ich gleich mit der Gebieterin gesprochen und nicht mit Euch. Ich kenne Euch! Ihr hättet, egal ob Freund oder Feind, Eure Lanze in den Menschen gebohrt! Das ist nicht meine Art, Valgas.“
„Nicht so vorlaut! Ihr steht schon unter Beobachtung. An Eurer Stelle würde ich mich zurückhalten!“ Mit einem gewaltigen Krachen wurde die Eingangstür zugeschlagen und schnelle Schritte verrieten der ratlosen Rakna, dass jemand auf dem Weg zu ihr war. Lynthriell kehrte zurück und ihr Gesicht war in tiefe Sorgenfalten gelegt.
„Beeilen wir uns! Sie verstärken schon die Wachen. Leider kannst du dich nicht länger ausruhen. Wir müssen dich hier wegbringen. Sonst ...“, sie unterbrach sich. Rakna verstand gar nichts mehr. Wieso erlaubte sie ihr nicht, hierzubleiben? Hier bei ihr, in Sicherheit! Warum versuchten alle, ihren Tod herbeizuführen? Sie hatte doch niemandem ein Leid zugefügt. Die Angst ergriff wieder von ihr Besitz. Die schöne Frau schien ihre Gedanken zu lesen, denn sie sagte:
„Hab keine Sorge, ich werde dir helfen. Die Elfen meines Volkes sind von Furcht geplagt. Angst vor Veränderung, die mit Fremden einhergeht und sie haben kein Vertrauen in die, die von einem Dämon gebissen wurden. Diese werden von hier verbannt, nicht auszusprechen, was sie dir antun würden. Ich aber habe dein Innerstes gesehen und du trägst nichts Böses in dir, auch wenn du ein Mensch bist.“ Als sie endete, fragte sich Rakna, was dies zu bedeuten hatte? War es so wichtig, woher sie kam? Ja, es gab einige feindselige Leute wie Ulrich, denen es Spaß bereitete, andere zu quälen und dabei Genuss zu empfinden. Aber das war einer von einem ganzen Dorf. Doch, um weitere Fragen zu stellen, blieb keine Zeit mehr. Rakna hörte hektische Stimmen und irgendeine davon sagte Lynthriell etwas, denn mit einer schnellen Handbewegung ihrerseits, schlossen sich wie von Zauberhand alle Fensterläden im Raum und eine Bodenluke öffnete sich. Darunter offenbarte sich eine hölzerne Leiter, welche nach unten führte.
„Steh auf. Uns bleibt keine Zeit mehr.“ Sie half Rakna auf die Beine und stütze sie, bis sie die Leiter erreicht hatte. Beide stiegen die vielen Stufen bis zum Boden hinab. Niemand konnte sie von hier aus sehen, denn dickes Blattwerk umgab sie, wie eine schützende Wand. Lynthriell schlich voraus und schaute, ob die Luft rein war. Dann wies sie Rakna mit einem Wink an, ihr zu folgen. War es klug einer Fremden nachzulaufen? Doch welche Wahl hatte sie sonst? Sie hatte die Möglichkeit ihr zu vertrauen und tiefe Enttäuschung zu erfahren, oder sie wurde gleich vom Rest des Elfenvolkes abgeschlachtet. Ihre letzte, verbleibende Hoffnung lag darin, dass die freundliche Art der fremden Frau keine Täuschung war. Also folgte sie ihr und sie liefen am Waldrand entlang, durch das schützende Dickicht der Blätter. Rakna spürte, angesichts des schnellen Rennens, wie ihr die Sinne wieder schwanden. Sie blieb an einem großen Stein gestützt stehen. Das Atmen fiel ihr zunehmend schwerer. Die Gefährtin bemerkte ihre Schwäche, sie umfasste das kleine Mädchen an der Hüfte und trug sie vorwärts. Zurück auf der riesigen Blumenwiese, mit den herrlich duftenden Blumen, entdeckte Rakna etwas, das sie zuvor nicht gesehen hatte. An die Wiese schloss sich ein weites Feld aus dichtem hohen Schilf an. Es war dunkler als in der Menschenwelt und deutlich enger. Direkt davor war das geöffnete Tor zu sehen. Hinter den Beiden waren laute Stimmen und schnelle Schritte zu vernehmen. Lynthriell drehte sich nicht um, beschleunigte ihren Gang und zog Rakna jetzt geradewegs über die offene ungeschützte Wiese in Richtung des Tores. Erstaunlich rasch erreichten sie das Portal. In der Ferne waren die ersten Elfen zu erkennen, doch diese schienen sie nicht zu sehen. Lynthriell umklammerte fest den Arm des Mädchens. Bevor sie Rakna durch das Tor schob, sprach sie noch einmal im ernsten Ton:
„Sprich mit keinem über das, was heute passiert ist. Zeige niemandem das Mal der Dämonin! Halte es immer bedeckt, sonst werden die Menschen dich jagen. Vertraue keiner Menschenseele! Hier ...“ Mit diesen Worten streckte Lynthriell Rakna ihrer Handfläche entgegen.
„Nimm meinen Ring. Es liegt ein Zauber darauf. Wenn du in Schwierigkeiten steckst, egal ob wegen eines Menschen oder etwas anderem, reibe an dem eingelassenen weißen Stein und es wird Hilfe zu dir eilen. Das Leuchten, welches erscheint, gibt dem Träger des zweiten Ringes das nötige Zeichen, um dir Beistand zu leisten.“ Lynthriell hob ihre Hand und Rakna sah genau denselben goldenen Ring an ihrem Finger.
„Jetzt geh.“ Die Elfenfrau versuchte Rakna durch das Portal zu schieben, als sich das kleine Mädchen nochmals zu ihr umdrehte.
„Ich heiße Rakna. Ich bin aus dem Hause Wolfshaut, das ist der Name meiner Familie.“ Zum ersten Mal sah sie Lynthriell lächeln. Es ließ sie umso strahlender erscheinen.
„Ich hoffe, wir treffen uns eines Tages abermals, Rakna aus dem Hause Wolfshaut.“ Somit schritt das Mädchen durch das goldene Portal und fand sich unter den geschwungenen Ästen des Weidenbaumes wieder. Erneut dämmerte es zur Nacht, aber dieses Mal erhellte der Mond den Himmel. So schnell sie ihre zitternden Beine trugen, rannte sie den vom Vollmond erleuchteten Weg nach Hause.
Als sie endlich die Brücke zu ihrem Dorf erreichte, schlich sie sich auf leisen Füßen bis zur Tür ihres Heimes und öffnete sie lautlos. Es brannte Licht im Inneren, aber niemand war zu sehen. Sie durchquerte den Hauptraum und spähte in die längliche Küche. Ein warmes Feuer loderte in der Feuerstelle und der angenehme Duft einer Gemüsesuppe hing in der Luft. Rakna konnte ihr Glück kaum fassen. Nachdem sie geglaubt hatte, nie wieder ihr Dorf zu sehen, geschweige denn ihren Vater, war sie jetzt in ihrem vertrauten Heim und alles würde so sein wie früher. Wie sehr sie sich irrte. Hinter ihr schlug die Tür zur Schlafkammer auf und Burk stand auf der Schwelle. Rakna stieß einen lauten Freudenschrei aus und rannte auf ihren vollkommen schockierten Vater zu. Sie umarmte ihn stürmisch. Zuerst kam keine Reaktion. Plötzlich packte er sie grob am Handgelenk und zog sie vom Fenster weg, in den Schatten des Hauses. Er begann mit zutiefst besorgter Stimme zu sprechen:
„Rakna? Wo kommst du her? Wo bist du gewesen?“ Seine Worte klangen hart und doch angsterfüllt, wie sie es niemals zuvor von ihm erlebt hatte.
„Aber Vater, freust du dich gar nicht, dass ich wieder da bin?“ Als sie in das bestürzte Gesicht schaute, bemerkte sie erstmals, dass er schrecklich alt geworden war. Tiefe Augenringe umgaben seine braunen Augen und Furchen von Sorge zeichneten die Stirn.
„Wir dachten alle, du seist tot, Rakna. Seit einigen Monden hat dich niemand mehr gesehen. Wir haben gedacht, du wärst wilden Tieren zum Opfer gefallen oder Schlimmeres. Keiner wusste, wohin du verschwunden bist. Jetzt, nach so langer Zeit, kommst du plötzlich wieder? Ohne einen Kratzer? Sag mir Rakna, wo bist du gewesen?“ Die ernsten und eindringlichen Worte ihres Vaters bereiteten ihr mehr Angst als all das, was sie bisher erlebt hatte. Seit vielen Monden schon, sagte er? Wie war das möglich? Sie hatte sich ihres Wissens nach, nur einen Tag in der Elfenwelt aufgehalten. Burk, ihr Vater, war so besorgt und entgeistert über ihr plötzliches Erscheinen, dass sie das Gefühl hatte, es wäre besser gewesen, sie wäre auf ihrer Reise gestorben. Diese Erkenntnis traf sie so hart, dass ihr urplötzlich die Tränen kamen. Sie erzählte in Begleitung von markerschütterndem Schluchzen, was passiert war. Wie sie sich in den Wald geschlichen hatten, wie sie überrascht worden waren und davon gelaufen sind. Wie sie Zuflucht unter dem Baum gesucht hatte und angezogen durch das Licht, in die andere Welt gekommen war. Sie erzählte von dem Biss der Dämonenfürstin und dass ein weiteres, gutartiges Wesen sie heilte und wieder hier her zurückbrachte. Nur den Ring erwähnte sie nicht. Rakna schaffte es keinen Augenblick länger, ihre Gefühle zu verbergen, und sie weinte sich an der Schulter ihres Vaters aus. All ihr Leid, was sich bis dahin aufgestaut hatte, brach jetzt aus ihr heraus. Er streichelte tröstend ihr Haar und hielt sie ganz fest, sodass sich Rakna beruhigte. Dann sagte er mit unumstößlichen Willen:
„Ich werde mir etwas ausdenken, was wir den Anderen erzählen. Mach dir keine Sorgen. Niemand wird dir ein Leid antun.“