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Fenrick
ОглавлениеVor Rakna stand ein hochgewachsener Elf. Er war von schlanker Statur und aschfahler Haut. Sein Haar war, wie das von Helgi, weiß wie Schnee und seine Augen glänzten eisblau, wie die Oberfläche des Sees in Wintertagen. Diese wurden von einer herabhängenden hellen Strähne leicht verdeckt. Rechts und links ragten spitze Ohren unter dem Schopf hervor. Er hatte ein markantes Gesicht, mit hohen Wangenknochen und einem geradlinigen Kinn. Die Rüstung, welche er trug, glich schwarzem Onyx, der hier und da von hellem Stein durchzogen war. Der Elf war mit Schulterpanzer und Panzerhandschuhe ausgerüstet, die Oberarme waren frei. Rakna bemerkte, wie sich deutlich seine Muskeln unter der Haut abzeichneten. Die Beine waren komplett gepanzert. Dazu trug er stählerne Schuhe, die eine Waffe sein konnten, denn sie endeten vorn in einer gefährlichen Spitze. Doch während Rakna bis auf die Knochen durchnässt war, schien das Wasser den Fremdling zu umgehen. Die Wassertropfen trafen zwar auf dem Haar und der Haut des Elfen auf, aber sie perlten ab und hinterließen keine Spur ihres Daseins. Auf seinem Rücken erkannte Rakna den Knauf eines Kriegshammers, der dem Anschein nach, reichlich mit Spitzen versehen war. Das Außergewöhnlichste an diesem Elfen war jedoch die Stimme. So kriegerisch und muskulös er auch wirkte, sein Tonfall war das komplette Gegenteil. Kräftig und tief, doch in jedem seiner Worte schwang ein sanfter Unterton mit. Dennoch traute sie dem Fremden nicht. Rakna hatte mit Lynthriell gerechnet. Wieso war sie nicht gekommen? Oder war er etwa nicht ihretwegen hier und alles war eine Falle? Einerseits war sie dankbar dafür, dass sie nicht von ihrem Volk ausgelöscht worden war, aber dennoch fühlte sie sich nicht in Sicherheit. Rakna musste eine Entscheidung treffen. Doch im Augenblick schuldete sie dem Fremden eine Antwort.
„Ja ich bin Rakna.“, sagte sie knapp.
„Aber wer seid Ihr? Ich hatte mit Lynthriell gerechnet.“, fragte sie weiter. Wenn er im Schilde führte, sie umzubringen, so wäre es besser, sie erfuhr es gleich, bevor sie in eine Falle tappte. Doch der Fremdling hatte keine Zeit ihre Frage zu beantworten, denn augenblicklich ertönte ein nervenzerfetzendes Geräusch. Es drang in ihren Kopf ein, wie eine Pfeilspitze und ließ sie vor Schmerz zusammenfahren. Obwohl sie ihre Hände auf die Ohren presste, wurde der Ton nicht leiser. Es war, als wäre er in ihren Gedanken.
„Sie haben uns entdeckt! Schnell weg hier!“, schrie der Elf und packte Rakna am Arm, um sie wegzuziehen. Keinen Moment zu früh, denn in diesem Augenblick landete ein feindliches Geschoss genau an der Stelle, wo Rakna eben noch gestanden hatte. Was war hier los? Wie hatten sie ihre Ankunft so schnell bemerkt? Sie hatte keine Wahl. Wollte sie lebend hier wegkommen, musste sie dem fremden Elfen folgen. Er zog sie hinter einen steinernen Vorsprung, um dann aus dem Versteck heraus Ausschau zu halten. Rakna vernahm, wie neben ihnen weiter Geschosse auf die nasse Erde niederprasselten. Ein Pfeil schoss wenige Zentimeter am Kopf des Fremden vorbei und er war gezwungen, sich schützend hinter den Felsen zu kauern. Mit einer schnellen Bewegung hatte er einen kleinen Dolch aus seinem Waffengürtel gezogen, den er am rechten Bein trug. Er warf ihn in Richtung des Angreifers. Das dumpfe Geräusch eines am Boden aufschlagenden Körpers, ließ vermuten, dass er getroffen hatte. Jetzt spurteten beide los, Rakna dem Fremden immer auf den Fersen, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Sie erreichten eine steinerne Brücke. An manchen Stellen hatte die Witterung ihr unbarmherzig zugesetzt. Einige Steine waren schon vollkommen zerbröselt. Hier und da wirkte es, als hätten menschengroße Geschosse die Mauern des Bauwerks erschüttert. Darauf standen weitere Elfen in Rüstungen. Doch anders als bei Fenrick, schienen diese nur aus Holz zu sein. Dafür umhüllten sie den Träger komplett. Das Einzige was herausschaute, war die wenige Haut, die ihre Augen umgab. Sie patrouillierten auf der Brücke, welche Raknas Weg in die Freiheit war. Immer wieder hielten beide inne, um sich nach vermeintlichen Angreifern umzuschauen. Nachdem sie die Patrouille eine Weile beobachtet hatten, drehte er sich zu ihr um, packte sie an den Schultern und blickte ihr direkt in die erschrockenen Augen.
„Ihr müsst hierbleiben, habt Ihr verstanden? Ich bin gleich wieder da.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, rannte er auf die Brücke und duckte sich hinter eine Säule. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis der perfekte Moment gekommen war und er nutze ihn. Mit einem einzigen gezielten Hieb unter den Helm schlug er die Patrouille nieder, welche in die entgegengesetzte Richtung gespäht hatte. Mit einem kurzen Wink deutete er Rakna an, dass sie ihm gefahrlos folgen konnte. Als sie auf Höhe des Leichnams war, nutzte sie ihre Chance und stibitzte heimlich den kleinen Dolch, welchen der Elf neben der toten Wache liegen gelassen hatte. Das Schwert oder den Bogen hätte sie bevorzugt, doch es wäre zu auffällig gewesen und Rakna wusste nicht, ob sie dem Elfen trauen konnte. Aber die winzige Stichwaffe war leicht, zu verstecken, ohne dass er es bemerkte. Inzwischen schlug er zwei weitere Wachen nieder und machte somit den Weg, in den dichten Wald, frei. Rakna hatte Mühe dem Elf zu folgen, denn er war unwahrscheinlich schnell. Selbst als sie den Waldrand erreichten, hielt er nicht inne. Sie rannten tiefer in den Laubwald, die Bäume standen eng gedrängt aneinander. Es folgte eine Lichtung und eine zweite und dann noch eine. Jedes Mal dachte Rakna, sie wären am Ziel angekommen, doch der Elf schaute nur kurz nach ihr, danach bog er wieder ab und spurtete weiter. Erst als Raknas Beine sie fast nicht mehr trugen, hielt er inne. Ihre Lunge brannte. Sie musste sich mit den Händen auf die Knie stützen, um überhaupt auf den Füßen zu bleiben. In kräftigen Zügen atmete sie die feuchte Luft ein, als der fremde Elf auf sie zu kam und erneut zu ihr sprach.
„Lynthriell hat mich geschickt, Euch zu holen. Ihr konntet Schritt halten. Das hätte ich einem Menschen wie Euch gar nicht zugetraut.“ Einem Menschen wie ihr? Was bei den Göttern bedeutete das? Wirkte sie auf ihn etwa nicht stark genug? Sie war fest entschlossen zu zeigen, was in ihr steckte. Als er bis auf zwei Schritte an sie herangetreten war, zückte sie ruckartig den Dolch und hielt das kalte Metall an seine Kehle.
„Wieso sollte ich Euch vertrauen, Elf? Ich weiß nicht einmal wer Ihr ...“
Ein kräftiger Schlag mit dem Ellenbogen traf sie unerwartet hart an der Hand und der kleine Dolch flog im hohen Bogen davon. Rakna hechtete ihm hinterher, aber der Elf war ihr überlegen. Kaum, dass ihre Muskeln zum Sprung ansetzten, hatte er schon seinen Kriegshammer gezogen und wies damit drohend auf sie. Obwohl Rakna ihn soeben angegriffen hatte, lächelte er.
„Es ist weise, mir zu misstrauen ...“, sagte er und nahm die Waffe wieder herunter.
„Aber ich bin hier, um zu helfen, und nicht, um Euch hinters Licht zu führen.“ Daraufhin wandte er ihr den Rücken zu, holte den kleinen Dolch zurück und reichte ihn ihr.
„Würde ein Feind Euch eine Waffe geben?“ Mit hochgezogenen Augenbrauen sah er sie fragend an. Rakna wusste nicht, was sie darauf antworten sollte. Also nahm sie die Klinge wortlos entgegen und steckte sie zurück in ihren völlig durchnässten Lederschuh. Immer noch goss es wie aus Eimern und der Wind zerzauste ihr Haar. Unsicher, wie sie sich jetzt verhalten sollte, fragte sie ihn trotziger, als sie es beabsichtigt hatte:
„Warum ist Lynthriell nicht selbst gekommen?“
„Es ist ihr nicht möglich. Ich empfehle, nicht weiter darüber nachzudenken. Es würde sowieso nichts nutzen. Mein Name ist Fenrick.“ Er reichte ihr die Hand.
Er sagte es mit solch einer Schärfe in der Stimme, dass Rakna es nicht wagte nachzuhaken. Der Elf selbst war es, der das Wort wieder ergriff.
„Wir sind vorerst außer Gefahr, aber nicht an unserem Ziel. Beeilen wir uns, es wird bald dunkel. Dann kommen neue Bedrohungen, denen Ihr mit einem Dolch besser nicht gegenübertretet.“
Eine ganze Weile liefen sie über den weichen Waldboden und weit verzweigte Wurzeln, bis sie eine bergige Landschaft erreichten. Hier waren alle Steine, Bäume und Sträucher mit Flechten überzogen und es roch stark nach Pilzen. Fenrick führte sie ein Stück näher zum Berg, wo Rakna einen unscheinbaren Höhleneingang entdeckte. Er war so ausgezeichnet versteckt, dass man ihn erst erkannte, wenn man direkt davor stand. Darin war bereits eine Feuerstelle angelegt. Sobald sie eintraten, wurden die Geräusche des tosenden Windes leiser und waren nur noch gedämpft zu vernehmen. Rakna beobachtete den Elfen, während er versuchte, ein Feuer zu entfachen. Dann erhellte ein warmes, prasselndes Licht die Höhle mit seinem orangenen Schein.
„Ihr solltet aus den nassen Sachen raus. Ich weiß, dass ihr Menschen leicht angeschlagen seid. Außerdem müssen wir Eure Wunden versorgen“ Fenrick stand bei diesen Worten auf und durchsuchte die hinterste Ecke des Gewölbes. Er bückte sich nach etwas, das Rakna nicht erkannte. Als er sich wieder erhob, hielt er weißen Stoff in den Händen. Sie sah ihn argwöhnisch an, als sie das Gewand erblickte. Es war ein Nachthemd aus Leinen, am Rücken wurde es mit Bändern geschnürt, wie das Kleid, welches Martha in ihrer Hochzeitsnacht trug. Der Schreck, der sie jetzt durchfuhr, jagte ihr einen Schauer über den gesamten Körper und für einen kurzen Augenblick stockte ihr der Atem. Ob ihre Freundin die Heirat fortsetzen konnte? Würde sie überhaupt stattfinden? Ihre Gedanken rasten und schließlich kam Rakna ihr eigener Vater in den Sinn. Ob er für ihre Flucht bestraft wurde? Was wäre, wenn sie ihn für Raknas Taten zur Verantwortung zogen. Zuletzt galt ihre dunkle Überlegung Helgi und es lähmte sie vor unausgesprochener Wut und Angst. Sie hatte das kleine Mädchen verteidigt, um sie zu schützen. Nun würde sie noch mehr Leid erfahren. Rakna konnte nicht länger hierbleiben, sie musste augenblicklich zurück in ihre Welt und ihren Lieben helfen. Ohne ein Wort stand sie auf. Die Aufregung war anscheinend von ihrem Gesicht abzulesen, denn Fenrick erhob sich ebenfalls.
„Ich habe doch gesagt, ich werde Euch kein Leid zufügen!“
„Ich muss sofort zurück in mein Dorf. Mein Vater ...“, rief Rakna aufgebracht.
„Das ist nicht gestattet.“ Er sagte es so bestimmend, dass die junge Frau die Wut packte.
„Ihr versteht nicht! Mir ist egal, was Ihr bewilligt oder nicht, Elf, aber ich werde jetzt zu meiner Familie gehen, sie ist in Gefahr und es ist unrecht sie im Stich zu lassen.“
„Nein, Ihr begreift nicht! Ihr könnt nicht zurück. Das Tor ist auf unbestimmte Zeit versiegelt. Es lässt sich nur mit einem Siegelstein öffnen. Den einzigen Stein, den ich besaß, hab ich genutzt, um Euch zu retten. Ihr seht also, heute Nacht könnt Ihr nicht zurück.“ Rakna wollte nicht glauben, was sie da hörte. Sie war hier gefangen. Unwissentlich hatte sie eine Reise ohne Wiederkehr angetreten. Sie verspürte, wie hilflos sie sich fühlte und dieses Gefühl trieb sie in den Wahnsinn. Ihr war bewusst, dass sie ungerecht gegenüber Fenrick war. Doch ihre Panik ließ ihre Stimme laut werden.
„Wieso brachtet Ihr mich hier her? Wenn Ihr das wusstet, warum habt Ihr mich in dieses Land mitgenommen?“ Ihre Gefühle übermannten sie und ihre Augen wurden feucht. Rakna wollte ihre Schwäche vor dem Fremdling nicht zeigen und so drehte sie sich weg von ihm. Vereinzelte Tränen kullerten über ihre Wangen, doch sie schaffte es, das Schluchzen, was sich jetzt anbahnte, zu unterdrücken. Fenrick hatte sich lautlos genähert und legte seine Hand auf ihre Schulter. Die Berührung kam für Rakna so überraschend, dass sie leicht zusammenzuckte.
„Es tut mir wirklich leid Rakna. Ich hoffe, dass mit deiner Familie alles in Ordnung ist. Aber wir können nichts für sie tun.“ Sie war noch immer aufgebracht, doch der sanfte Klang seiner Stimme ließ ihre Tränen verebben. Er reichte ihr das weiße Gewand und sie nahm es wortlos entgegen. Fenrick drehte sich auf dem Absatz um und stellte sich in den Ausgang der Höhle. Mit dem Rücken zu ihr stand er da und sah in den verregneten Wald. Rakna wusste, dass er ihr damit etwas Privatsphäre ließ. Trotzdem war es für sie ein komisches Gefühl. Niemand, außer ihrem Vater, hatte sie je nackt gesehen und nun war sie gezwungen sich vor einem vollkommen Fremden zu entblößen. Aber Fenrick hatte Recht. Die Kälte war ihr schon in die Knochen gekrochen und erst jetzt spürte sie, dass sie zitterte. Außerdem saß sie hier fest. Wenn sie erkrankte, wäre ihrer Familie auch nicht geholfen. So beschloss sie, sich zu fügen und das trockene und überraschenderweise weiche Nachtgewand anzuziehen. Kaum, dass sie das Gewand übergeworfen hatte, stellte sie beschämt fest, dass sie es alleine nicht schließen konnte. So sehr sie es auch versuchte, immer wieder rutschten ihr die Schleifen aus den Fingern. Selbst als sie es anders herum anzog, um es von vorne zu schnüren, gab es letztendlich keine Möglichkeit, das Gewand in die ursprüngliche Position zu drehen. Dementsprechend schaute ihre gesamte Brust zwischen den Bändern hervor. Ihr wurde klar, dass sie ohne Fenricks Hilfe nicht weiter kam. Er stand noch immer breitbeinig im Eingang der Höhle und sah in die Ferne. Rakna streifte das Gewand wieder über, sodass die Schnürung am Rücken war. Kleinlaut und barfuß durchquerte sie ihren Unterschlupf und lief zu Fenrick. Dieser drehte sich verblüfft zu ihr um.
„Könntet Ihr ...?“ Sie brauchte den Satz nicht zu beenden, denn er nickte bereits. Daraufhin wandte sie ihm den Rücken zu und nahm ihre Haare nach vorn. Wortlos begann er das Gewand zuzuschnüren. Plötzlich unterbrach er sich in seiner Arbeit. Statt mit dem Verschnüren fortzufahren, schob er den Stoff an Raknas rechter Schulter herab und entblößte das schwarze Mal. Rakna spürte, wie in ihr die Hitze aufstieg und sie rot wurde. Er jagte ihr einen neuerlichen Schauer über den Rücken. Fenrick hatte keine Scheu die Zeichnung des Dämons zu berühren. Trotz ihres ungezogenen Benehmens schien er nicht wütend auf sie zu sein. Im Gegenteil, er war nur ernst. War es für ihn selbstverständlich, sie zu retten? Die anderen Elfen waren offensichtlich nicht erfreut, sie hier zu haben. Raknas Angriff hatte er hingenommen, hatte sogar Verständnis gezeigt. Der hochgewachsene Elf riss sie aus ihren Gedanken.
„Hat sich das Mal in den letzten Jahren verändert? Hattet Ihr vielleicht irgendwann mal Schmerzen?“
„Nein, es ist schon seit Beginn so. Wieso? Ist das etwa möglich?“ Rakna war froh, dass sie wieder miteinander sprachen. Irgendwie war es unheimlich, wie er sich stumm ihr Mal besah. Ihre Antwort genügte ihm offensichtlich, denn er schloss jetzt auch die restlichen Bänder. Anschließend setzte er sich ans Feuer und Rakna folgte ihm, gespannt auf seine Reaktion. Er ließ sich Zeit, bis er etwas erwiderte.
„Es ist durchaus in der Lage sich zu verändern. Solltet Ihr z.B. schwer verletzt werden oder erkranken, dann breitet es sich aus. Das kann ebenfalls geschehen, wenn die Seele beschädigt wird.“
„Die Seele? Wie ist das möglich?“
„Durch einen schweren Schock oder Schicksalsschlag. Beispielsweise, wenn jemand stirbt oder etwas anderes passiert, das Euch seelisch leiden lässt.“ Es trat eine kurze Stille ein, bevor Rakna wieder das Wort ergriff.
„Was geschieht, wenn sich das Mal ausbreitet?“
„Das Mal ...“, antwortete er prompt. „... infiziert den Körper und Geist vollkommen und Ihr werdet zu Einer von ihnen.“ Diese Entgegnung weckte mehr Fragen in Rakna.
„Ich weiß nicht mal genau, was mich da gebissen hat!“
„Es war ein scheußliches Wesen! Wenn Ihr mich fragt, gibt es kein schlimmeres Geschöpf auf diesen Wegen. Was Ihr, unglücklicherweise, kennengelernt habt, ist eine Dämonenfürstin. Das Einzige, was ihr Freude bereitet, ist das Leid Anderer. Sie liebt es, zu töten. Es gibt nur einen Grund, warum sie ihr Opfer am Leben erhält. Nämlich, um dieses in ein Geschöpf ihres Gleichen zu verwandeln, und das erreicht sie durch ihren Biss. Ihr hattet unwahrscheinliches Glück, dass Lynthriell Euch gefunden hat. Normalerweise gibt es keine Rettung, wenn eine Fürstin zugebissen hat. Nur seltene Elfenmagie dämmt die Seuche ein und nur wenige von uns können sie wirken.“ So wie er es erzählte, klang es angsteinflößend. Das Mal auf ihrer Schulter widerte sie mehr denn je an. Beide wirkten nachdenklich, bis Fenrick sich erhob.
„Ihr solltet Euch ausruhen.“ Erneut marschiert er in den hinteren Bereich der Höhle und holte aus einer versteckten Truhe ein weiches Fell und eine gewobene Decke hervor. Beides reichte er Rakna und sie nahm es dankbar entgegen.
„Ich halte Wache. Das habe ich in meinem Dorf oft gemacht.“, bot sie ihm an, doch er winkte ab.
„Nein! Wir haben morgen einen weiten Weg vor uns und außerdem kann ich sehen, dass Ihr friert.“ Dann wandte er sich von ihr ab. Aber aus den Augenwinkeln erkannte sie, dass er verstohlen lächelte. Gemächlich schritt er zum Höhleneingang und setzte sich, um die nächtliche Wache anzutreten. Der Sturm tobte immer noch und der Regen prasselte gegen das Gestein. Nachdem Rakna ihre Wunde am Arm versorgt hatte, breitete sie das braune Fell so vor dem Feuer aus, dass sie den Eingang und den schlanken Elfen im Blickfeld hatte. Sie war hin und her gerissen. Konnte sie ihm wirklich trauen? Obwohl er sie sowohl vor ihrem, als auch vor dem eigenen Volk gerettet hatte, verhielt er sich seltsam, wenn Lynthriell zur Sprache kam. Sein Blick wirkte abweisend und er antwortete nicht mehr. Tief in ihrem Inneren traute sie ihm bereits, doch ihr Bewusstsein warnte sie immer wieder vor etwaigen Unachtsamkeiten. Alles was sie über ihn wusste, war sein Name, sonst war er ein Fremder. Eben noch hatte sie das Gefühl, durch den heftigen Sturm, kein Auge zumachen zu können, als die Müdigkeit schon in ihre Muskeln kroch und die Lider schwer werden ließ. Nach kurzer Zeit fiel sie in einen unruhigen Schlummer. Das Letzte, was sie an diesem Abend erblickte, war der unleugbar stattliche Elf. Das gestand sie sich mit ihren verbleibenden klaren Gedanken ein.
Ein merkwürdiges Klopfen weckte Rakna am nächsten Morgen. Helles Sonnenlicht fiel in die Höhle und tauchte alles in warme Strahlen. Durch den Spalt, der den Eingang bildete, erkannte sie erstmals grüne Laubbäume, welche rote Früchte trugen. Auf einem kleinen Stein am Boden saß ein Vogel, wie sie ihn nie zuvor gesehen hatte. Das Gefieder war grau, hier und da blitzten blaue Punkte und Streifen hervor. Die Federn am Bauch, wie der Schnabel, leuchteten von hellem Gelb. Mit den schwarzen Knopfaugen musterte er eine Nuss, die vor ihm zu Boden kullerte. Sie hatte durch seine Versuche, sie zu knacken, schon einen Sprung. Sein gleichmäßiges Klopfen schien Rakna geweckt zu haben. Als sie sich aufsetzte, flatterte der kleine Vogel davon. Außer ihm war niemand zu sehen. Im Handumdrehen hatte die junge Frau das Fell zur Seite geschlagen und war nach hinten gestürmt, um ihre Sachen zu holen. Erschrocken stellte sie fest, dass diese nicht mehr da waren. Stattdessen fand sie eine halb leere Truhe vor, in der nichts als ein paar Lumpen und nutzlose Flaschen aufbewahrt wurden. Sie eilte zum Höhleneingang, doch hier war keine Spur von ihrer Kleidung oder dem Elfen. Die warme Sonne blendete sie, sodass sie ihre Hände schützend vor die Augen hielt. Rakna brauchte einen Moment, um sich an das grelle Licht zu gewöhnen. Sie ging ein Stück nach draußen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Langsam und allmählich erkannte sie ihre Umgebung. Durch den heftigen Sturm war gestern kaum etwas von der Landschaft zu erkennen gewesen. Doch jetzt entfaltete sich ihre ganze Schönheit. Die Bäume waren kräftig, als ob sie schon eine Ewigkeit ungezügelt wuchsen. Ihre knochigen Wurzeln ragten immer wieder aus dem Erdboden hervor und verwoben sich hier und da mit denen der anderen. Die Baumkronen trugen dichtes Blattwerk, sodass die einzelnen Blätter zunächst nicht voneinander zu unterscheiden waren. Erst als Rakna ein Stück näher herangetreten war, erkannte sie die seltsame Form des Laubes. Jedes sah aus wie eine grüne Feder, mit einem breiteren Schaft und vielen kleinen Federästen an denen weiche Strahlen nach außen verliefen. Als Rakna eines der Blätter interessiert zwischen die Finger nahm um es zu begutachten, entzog sich der Ast plötzlich aus ihrem Griff und bog sich gen Himmel, als ob er ihre Berührung nicht duldete. Entsetzt machte sie einen Satz zurück und zu allem Überfluss ertönte hinter ihr die Stimme des Elfen, was ihr Herz ein zweites Mal hüpfen ließ. Mit der Hand auf der Brust drehte sie sich zu ihm um.
„Die Bäume hier sind eigen. Sie lassen sich nicht von jedem berühren.“ Rakna sah den Elfen fragend an.
„Sie sind eigen? Denken sie etwa?“ Wieder lächelte er sie geheimnisvoll an.
„Oh, sie können nicht nur das.“ Ohne Rakna weiter aufzuklären, marschierte er in die Höhle. Sie warf dem Baum einen abschätzigen Blick zu, bevor sie dem Elfen hinterher eilte.
„Wo seid Ihr gewesen?“, fragte sie ihn aufgebracht. Geräuschvoll ließ er einen Sack auf den Boden fallen, den sie zuvor nicht entdeckt hatte. Es klimperte laut darin.
„Ich habe Euch eine Rüstung besorgt.“ Eine Weile wühlte er im Inneren des braunen Stoffes.
„Und ... Frühstück.“ In seiner Hand hielt er etwas, das aussah, wie ein kleiner runder Schwamm.
„Was ist das?“, fragte Rakna, während sie die fremdartige Speise begutachtete. Zur Antwort biss er in die Kugel. Im Inneren war die helle Speise weich und cremig, wie Honig. Als Rakna keine Anstalten machte davon zu essen, drückte er ihr ein paar der schwammartigen Bälle in die Hände und sagte:
„Ihr müsst etwas zu Euch nehmen, sie schmecken wirklich ausgezeichnet!“ Zögerlich knabberte sie an dem runden Kloß zwischen ihren Fingern, während sie beobachtete, wie Fenrick die Rüstung nach und nach auspackte. Das Ding schmeckte wie purer Honig. Außerdem vernahm sie einen Hauch von Zitrone. Es war die köstlichste Speise, die sie je gegessen hatte. Die Panzerung, die der Elf nun komplett ausgebreitet hatte, war aus Leder, vereinzelte Eisenbeschläge zierten sie. An der Taille verengte sie sich, sonst sah sie aus wie die Rüstungen aus ihrem Reich, mit Schulter-, Bein- und Brustpanzerung und Lederriemen an den Seiten. Nur ein Helm war nicht dabei. An dem Arm des Elfens baumelte eine Scheide, aus der ein fein gearbeiteter Griff ragte. Schwungvoll holte er das Schwert daraus hervor, um es Rakna zu zeigen. Das verspielte Muster bedeckte die gesamte doppelseitige Klinge, welche an einem Ende spitz zusammenlief. Fenrick reichte ihr die prachtvolle Waffe. Rakna nahm sie entgegen. Das Schwert lag überraschend leicht in ihrer Hand. Sie konnte es kaum glauben, was sie für einen Schatz in den Fingern hielt. Zu Hause hatte sie mit einer klobigen Axt geübt und gekämpft. Oft war sie nicht scharf genug, sodass das gejagte Tier verletzt wurde, aber trotzdem davon laufen konnte. Nicht selten war sie deswegen hungrig ins Bett gegangen. Dennoch war Rakna immer zufrieden mit ihr gewesen. Es gab eben in einem kleinen Dorf wie ihrem keine besseren Waffen. So ein Schwert wie dieses, welches sie jetzt in der Hand hielt, war das eines Fürsten, aber niemals das einer einfachen Wache, wie Rakna es gewesen war. Während sie darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass sie ihr Ziel, Hauptmännin zu werden, gar nicht erreicht hatte. Nichts von dem, was sie sich ursprünglich vorgenommen hatte, war in Erfüllung gegangen. Es war sogar denkbar, dass sie jetzt als Feindin gesucht wurde. Hier hatte sie die Chance auf einen Neubeginn, ihr altes Leben zurückzulassen und ohne ständige Angst zu sein. Aber Rakna war fest entschlossen nicht aufzugeben. Fenrick stand ihr zur Seite, obwohl er sie überhaupt nicht kannte und allen Grund dazu hätte, ihr nicht zu trauen. Stattdessen hielt er Rakna ein kostbares Schwert entgegen. Würde er etwas als Gegenleistung erwarten? Doch im Moment war sie nur vollkommen überwältigt und für einen Augenblick war ihr danach, ihm um den Hals zu fallen. Sie besann sich jedoch und flüsterte nur ein verlegenes „Danke“ in seine Richtung. Fenrick hingegen, klopfte ihr freundschaftlich auf die Schulter. Automatisch lächelte sie. Es war seltsam. Zu Hause war es ihr leicht gefallen, sich angemessen zu verhalten. In diesem Land erwischte sie sich immer wieder dabei wie sie Dinge tat, welche sie früher niemals für möglich gehalten hätte. Noch nie in ihrem Leben hatte sie jemandem so schnell vertraut. Allerdings machte er es ihr auch leicht. Er hatte sie gerettet, in Sicherheit gebracht und jetzt beschenkte er sie scheinbar. Es war schon fast zu einfach. Bereits nach einem Tag hatte sie mehrmals ihr Leben in die Hände eines Fremden gelegt. Aus irgendeinem Grund zweifelte sie nicht daran, dass er ihr half, was aber nichts mit seiner Großzügigkeit zu tun hatte. Fenrick kramte noch einmal in dem Sack, während sie sich ihren Kopf über ihr eigenes Verhalten zerbrach. Der Gegenstand, mit dem er jetzt auf sie zu kam, glänzte silbern in der aufgehenden Sonne. Es war ein fein gewobenes Kettenhemd, säuberlich zusammengefügt, mit kurzen Ärmeln.
„Das solltet Ihr zuerst anziehen. Normalerweise tragen es unsere Junglinge, aber es sollte Euch trotzdem passen.“
Rakna wusste bereits vorher, dass es passte. Immerhin war sie fast zwei Köpfe kleiner als Fenrick. Von innen war das Hemd mit weichem Stoff überzogen, weshalb es nicht auf der Haut kratzte. Kaum, dass sie fertig war, trieb Fenrick sie schon zum Gehen an.
Sie durchquerten den Wald, liefen an berankten Bäumen vorbei und stiegen über wuchernde, fremdartige Pflanzen hinweg. Nach einer ganzen Weile erreichten sie den Waldrand. In Rakna brodelte eine Frage, welche sie schon die ganze Zeit beschäftigte.
„Was ist unser Ziel?“ Auch das war etwas, das ihr vor einigen Monden nicht im Traum eingefallen wäre. Einem Fremden zu folgen, ohne genau zu wissen, wohin er sie führte. Fenrick schritt geradeaus weiter, sah sich nicht nach Rakna um, und dennoch antwortete er geduldig auf ihre Frage.
„Wir besuchen ein Elfenvolk, von dem ich glaube, dass es Euch aufnimmt.“ Die junge Frau dachte einen Moment darüber nach, ob sie sich erkundigen sollte, was geschah, wenn sie Rakna nicht aufnahmen. Doch etwas anderes interessierte sie mehr.
„Wieso hat dich dein Volk angegriffen? Etwa weil du mir geholfen hast? Warum hasst ihr uns Menschen überhaupt? Diese Elfen wollten meinen Tod, ohne zu wissen, weshalb ich gekommen bin!“ Dieses Mal blieb Fenrick stehen und setzte sich auf einen nahe gelegenen Baumstumpf. Doch er sah sie weiterhin nicht an.
„Wir sollten für einen Moment eine Pause einlegen.“ Scheppernd ließ er seine Sachen auf den Boden gleiten und blickte jetzt in Raknas Richtung.
„Zuerst einmal ist es nicht mein Volk, das waren Windelfen. Sie leben im Einklang mit den Luftgeistern. All ihre Energie und ihre Macht beziehen sie aus der Kraft des Windes. Ich bin ein Elf des Wasservolkes. Wir wohnen in Gebieten, in denen es ausreichend Wasser gibt, denn wir erhalten all unsere Stärke aus den Wassergeistern. Vor vielen Jahrhunderten konnten wir diese Kraft in Magie umlenken. Doch ich kenne niemanden mehr, der dazu noch imstande ist. Aber wir werden auch nicht zu meinem Volk reisen, denn sie sind, milde ausgedrückt, nicht fortschrittlich genug, um dich aufzunehmen.“ Sein Blick verfinsterte sich merklich.
„Aber ich hoffe, das wird sich eines Tages ändern. Wir gehen zu einem Elfenvolk, welches nicht so kurzsichtig ist und aus Arroganz einen Hilfsbedürftigen wegschickt, nur weil er ein Mensch ist. Wir suchen die Erdelfen. Von denen weiß ich, dass sie schon abtrünnige Elfen aufgenommen haben. Zugegeben, einen Menschen haben sie seit vielen Jahrhunderten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Doch ich glaube, dass sie eher auf der Höhe der Zeit sind, als alle anderen hier im Umkreis von tausend Fuß. Aber sie haben ihre Eigenarten. Jetzt habe ich dennoch eine Frage an Euch. Wurden unter Eurem Volk gar keine Geschichten von früher erzählt? Gibt es nicht Sagen oder zu mindestens Gerüchte darüber, was einmal in Eurem Land geschehen ist?“ Rakna, überrascht davon, dass sie plötzlich gefragt war, verhaspelte sich, bevor sie ihre Antwort genügend formuliert hatte.
„I-Ich hab ... Einiges wurde uns schon erzählt. Aber ich habe es nie geglaubt. Unser Oberhaupt und unsere Eltern haben uns verboten, an der alten Weide zu spielen, von der aus du mich gerettet hast. Es gab die Legende, dass bösartige Geschöpfe uns heimsuchten, um die Kinder mit sich zu nehmen und sie zu einem Wesen Ihresgleichen zu verwandeln. Nur das die Kinder ihre ursprüngliche Gestalt behielten.“
„ Also in einen Späher?“, unterbrach sie Fenrick.
„Ja! Vor vielen Monden, weit vor der Geburt eines Jeden von uns, sei ein eigentümliches Volk über uns hereingestürzt und hätte ein riesiges Blutbad angerichtet. Unseren Vorvätern sei es gelungen, sie zurückzuschlagen, und seitdem kämen sie nur noch im Geheimen, um die Kinder zu holen. Wenn ihr mich fragt, war das alles ein Haufen erfundener Blödsinn. Ich habe nie daran geglaubt und als ich Lynthriell traf, war das eine Bestätigung meiner Vermutung. Sie war netter zu mir, als mein eigenes Volk, obwohl ich gebissen wurde. Um ehrlich zu sein, ...“, sie senkte den Kopf,
„... war ich in Eurem Reich das letzte Mal ich selbst. Seitdem war ich dazu gezwungen, mich zu verstecken, taktisch zu handeln, um nicht aufzufallen.“ Rakna wusste nicht, warum sie Fenrick das alles erzählte, doch nun, als sie es ausgesprochen hatte, verspürte sie Erleichterung. Sie bemerkte, wie sie rot wurde, aber bevor sie etwas sagen konnte, um die Situationen zu verharmlosen, erhob Fenrick das Wort.
„Deswegen seid Ihr hierher zurückgekehrt? Weil Euer Volk Euch verstoßen hat?“ Rakna fühlte sich durchschaut. Nach kurzem Zögern nickte sie knapp.
„Lynthriell hat es schon geahnt, deshalb hat sie Euch den Ring vermacht.“ Er zog seinen eigenen an einer Kette unter der Rüstung hervor.
„Ich sage dir etwas Rakna Wolfshaut. Du musst was ganz Besonderes an dir haben, wenn Lynthriell dich - in der Gefahr ihr eigenes Leben zu lassen - gerettet hat.“ Seine plötzlich veränderte Wortwahl erschreckte Rakna. Doch dann stellte sie fest, dass er sie nicht maßregelte, sondern es ernst meinte. Sie wusste nicht so recht, wie sie sich verhalten sollte. Noch nie war sie in einer Situation wie dieser gewesen. Das Letzte, was ihr jetzt in den Sinn kam, war sein Vertrauen weiter auszureizen. Andererseits war sie wissbegierig, warum die Windelfen auf ihn und damals auf Lynthriell losgegangen waren. Was war passiert, dass er sie schützen musste? Zum ersten Mal wurde ihr richtig bewusst, dass er dies tat, auch wenn ihn niemand dazu zwang. Bevor sie irgendeinen klaren Gedanken fassen konnte, ertönte hinter ihr ein seltsames Geräusch.
Fenrick war blitzschnell aufgestanden und hatte seinen Kriegshammer gezückt. Er sah auf eine Stelle im Gebüsch. Rakna wandte sich um, was sie da erblickte, war etwas, das sich ihrer Vorstellungskraft entzog. Dort stand ein mannshohes Geschöpf, mit widerwärtig dünnen Gliedmaßen und einem Körper, wie von einem Hund zerfleischt. Die Arme wirkten blutverschmiert, nur dass es nicht, wie bei einem Menschen rot, sondern pechschwarz war. Immer wieder tropfte das seltsame Sekret auf den staubigen Boden, wodurch die Kreatur eine dunkle Spur hinter sich her zog. Statt der Augen, klafften nur zwei trübe Höhlen im Schädel. Während es auf sie zu stolperte, erkannte Rakna, dass das Etwas einen Mund besaß, welchen es jetzt weit aufriss. Schleimige schwarze Fäden zogen sich vom Ober- zum Unterkiefer und erzeugten Ekel in Rakna. Die Haut war straff über die langen Knochen gezogen und ein Übelkeit erregender Geruch umhüllte das Wesen. Bereit zum Kampf, zog sie ihr Schwert aus der Scheide, doch Fenrick stürmte bereits an ihr vorbei. Mit beiden Händen schwang er kraftvoll seinen Kriegshammer, um zum Schlag auszuholen. Der Elf rannte mit solcher Geschwindigkeit auf die Kreatur zu, dass Rakna glaubte, ein Stock würde ausreichen, um das Monster umzureißen und es zu erledigen. Doch, als der erwartete Aufschlag eintraf, hielt das Wesen mit einem überraschend flinken Griff, die Waffe von sich fern. Mit einem weiteren schnellen Hieb schlug es hart auf Fenricks Brustpanzerung, was ihn ins Wanken brachte und einige Schritte rückwärts stolpern ließ. Er brauchte einen Moment um sein Gleichgewicht wieder zu finden. Diesen kurzen Augenblick machte sich das Geschöpf zu Nutze und griff von Neuem an. Fenrick versuchte, die Arme abwehrend hochzureißen, doch es war zu spät. Mit seinen schleimigen Klauen umschloss das Wesen Fenricks Kehle, sodass dieser die Waffe fallen ließ. Krampfhaft probierte er, sich zu befreien. Einige Sekunden verstrichen, bis Rakna klar wurde, dass Fenrick es aus eigener Kraft nicht schaffen würde. Sie musste schnell handeln, doch sie war unerfahrener und schwächer als der Elf. Nie im Leben würde es ihr gelingen, solch eine Geschwindigkeit aufzubringen, um das Wesen mit einer offenen Attacke niederzustrecken. Ihr Herz wummerte. Die Beine des Elfen begannen wie wild zu zucken, ihm blieb keine Luft zum Atmen. Immer verzweifelter zerrte er an den ekelerregenden Klauen der Kreatur. Rakna musste sich beeilen. Das Nächste was sie tat, geschah aus reinster Verzweiflung. Mit lautem Gebrüll, erhobenem Schwert und entschlossenem Blick rannte sie auf das Wesen zu. Ohne zu wissen, was sie tat, hob sie ihre Waffe und schlug auf alles ein, was sie von dem Wesen erreichen konnte. Das blieb dem Geschöpf nicht verborgen und es brüllte laut, jedoch nicht aus Schmerz, sondern aus Wut. Jeder einzelne Schlag, welchen sie mit ihrer Klinge ausführte, hinterließ zwar tiefe Furchen in dem Fleisch, doch es schien der Kreatur überhaupt keinen Schaden zuzufügen. Mit einem lässigen Schlenker seines Ellenbogens warf es Rakna zu Boden und all ihre Luft wurde aus den Lungen gepresst. Doch durch ihr vorheriges Kampfgeschrei war das Geschöpf abgelenkt und hatte die Kehle des Elfen losgelassen. Dieser kurze Augenblick reichte aus, dass Fenrick es schaffte sich zu befreien. Der Elf reagierte sofort und trieb einen kleinen Dolch, welchen er aus seinem Gürtel zog, direkt in die rechte Augenhöhle des Wesens. Der überraschende Schmerz ließ es erneut aufheulen und zurückweichen. Fenrick sank vollkommen entkräftet zu Boden und rang um Luft. Er hustete und keuchte, dabei versuchte er einige Worte hervorzupressen.
„Tu doch was!“ Rakna brauchte einen Augenblick, um zu verstehen. Zum Glück war das Wesen noch immer abgelenkt, da es den Dolch, der in der Augenhöhle steckte, mit seinen panischen Schlägen tiefer in den Schädel trieb. Rakna kam eine Idee. Sie schlich sich in den Schatten der Bäume, die Waffe gezogen. Das Etwas bemerkte Raknas Abwesenheit nicht, stattdessen wendete es sich wieder Fenrick zu. Der Elf hatte sich aufgerichtet und ebenfalls seinen Hammer gezückt, allerdings stand er schwankend und sichtlich benommen vor dem schwarzen Geschöpf. So schnell und so leise wie es ihr nur möglich war, kletterte Rakna auf einen nahe gelegenen Baum bis in die äußersten Äste und Zweige. Jetzt blieb ihr nur noch, den geeigneten Moment abzuwarten. Sie bemerkte die rasende Wut, welche in dem Wesen aufstieg und schon setzte es zum Folgeangriff an. Rakna wusste, ihr Vorhaben war riskant. Sprang sie nicht rechtzeitig ab, würde sie im freien Fall auf den Waldboden aufschlagen und selbst wenn sie zur rechten Zeit startete, bestand die Gefahr, dass sie nicht perfekt traf. Dann war Rakna dem Risiko ausgeliefert, zertrampelt zu werden oder einem weiteren Angriff schutzlos entgegenzutreten. Sie forderte sich zu vollster Konzentration auf und ihre Muskeln waren bis aufs äußerste gespannt. Wie in Zeitlupe sah sie, wie das Etwas die schleimige Haut straffte, um zum Sprint anzusetzen, und es war wieder wie beim Training im Dorf. Als die Kreatur fast unter dem Ast war, auf dem Rakna saß, hätte das Ausstrecken ihrer Hand ausgereicht, um es zu berühren. Stattdessen setzte sie zum Sprung an und hob das Schwert weit über ihren Kopf. In Zeitlupe sah sie, wie es sein abstoßendes Antlitz mit den fehlenden Augen hob, doch es war zu spät. Raknas Klinge durchbohrte den Angreifer. Sie hörte, wie die Knochen brachen und wie das Metall in ihren Händen erzitterte. Dieses Mal schrie die Kreatur nicht. Eine Welle, wie bei einer Explosion ging von ihrem Schwert aus und das Wesen, auf dessen Brust sie noch immer stand, erbebte. Mit einem weiteren, kräftigen Ruck drehte sie die Klinge herum und gab dem Geschöpf damit den Rest. Plötzlich drang helles Licht aus dem Inneren der Kreatur und brach aus breiten Rissen hervor. Die aschgraue Haut zerbröselte, wodurch Rakna den Halt verlor. Doch sie landete geschickt auf ihren Füßen. Schnell richtete sie sich wieder auf, um zu sehen, was als Nächstes passierte. Alles was von dem Wesen übrig blieb, war ein kleiner Haufen Asche, welcher merkwürdig schleichend in die Erde kroch. Rakna kniff die Augen zusammen, um zu beobachten, wie der letzte Rest im Moos verschwand, als Fenrick an ihre Seite trat. Er sah Rakna eindringlich an, als versuche er, ihre Gedanken zu lesen.
Dann klopfte er ihr auf die Schulter. Alles was er sagte, war:
„Danke.“ Rakna war verwirrt. Er hatte ihr das Leben gerettet, also war es doch nur natürlich, dass sie ihm half. Dennoch war sie beeindruckt von dem Elfen. Sie war es nicht gewohnt Anerkennung von einem Mann zu bekommen. Die Burschen aus ihrem Dorf wären zu stolz gewesen, um sich bei einer Frau zu bedanken. Stattdessen begaben sie sich in gefährliche, unüberlegte Kämpfe, um irgendetwas zu beweisen. Und kam es doch einmal so weit, dass eine Frau ihr Leben rettete, dann waren sie meist überheblich und spöttisch. Niemals hätten sie sich bei ihr bedankt. Dass ihr Oberhaupt eine Frau gewesen war, glich einer Revolution. Anfangs war es den Männern schwer gefallen, sich daran zu gewöhnen. Aber Thorgard hatte viele kluge Entscheidungen getroffen und damit bewiesen, dass sie die Menschen ausgezeichnet führen konnte. Ihren letzten Entschluss hatte sie jedoch zu voreilig getroffen, wie Rakna fand. Beim Anblick ihres Mals war sie eindeutig nicht klaren Kopfes gewesen. In Gedanken verloren hörte sie fast nicht, was Fenrick zu ihr sagte:
„Ich gestehe, zu meiner eigenen Schande, dass ich Euch unterschätzt habe, Rakna Wolfshaut. Ihr habt mehr Kampfgeist in Euch, als ich dachte.“ Obwohl er sie offen lobte, war Rakna enttäuscht, dass Fenrick wieder die förmliche Anrede gewählt hatte. Er war erneut ernst und unnahbar. Das behagte ihr nicht. Der Moment der Nähe und Freundschaft war vorbei. Doch nun packte Rakna wieder die Neugier.
„Was war das für eine Kreatur, die uns da angegriffen hat?“ Fenrick sah nicht zornig aus, als er von dem Geschöpf sprach. Er war nicht aufgebracht oder wütend, im Gegenteil, er wirkt sogar eher traurig, als er ihr antwortete.
„Das war ein Elf, der dem Biss eines Dämons erlegen ist. Das dunkle Gift dieses niederträchtigen Wesens infiziert das Herz und die Seele des Geschöpfes und befällt schließlich den ganzen Körper. Deswegen die zerfetzte Haut und das schwarze Blut. Wird man gebissen, ist bald nichts mehr von dem übrig, was man einmal war. Man wird vollkommen vom Dämonengift beherrscht. Wir nennen sie die dunkle Brut.“ Seine Antwort war für Rakna wie ein Schlag in den Magen. Es kam so unerwartet, dass sie laut aufstöhnte. Die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, wurde ihr nun bewusst. Fenrick bemerkte ihre Bestürzung und sagte beruhigend:
„Das passiert nur dann, wenn niemand zu Hilfe kommt, um das Gift einzuschließen, ...“
„Kann es denn danach wieder ausbrechen?“ Er zögerte einige Sekunden, bevor er antwortete.
„Keiner hat einen zweiten Ausbruch überlebt.“ Für eine ganze Weile trat Stille ein und sie hingen beide ihren eigenen Gedanken nach. Dann ergriff Fenrick wieder das Wort.
„Ich weiß Ihr seid stark genug, um es von Eurem Herz fernzuhalten, das habe ich gerade gesehen.“ Rakna antwortete nicht, denn es wäre nur ein sarkastisches Widerwort über ihre Lippen gekommen und das Letzte, was sie wollte, war, ihn zu verletzen. Also schenkte sie ihm ein gequältes Lächeln, er klopfte erneut sanft auf ihre Schulter, dann führten sie ihren Marsch fort.
Der weitere Weg verlief überwiegend gefahrlos. Hin und wieder hielten sie kurz an, aßen ein paar Honigbällchen oder tranken aus dem Wasserschlauch an Fenricks Gürtel. Als der Tag sich dem Ende neigte, erreichten sie ein neues, landschaftliches Gebiet. Rakna staunte, denn sie hatte nie etwas Vergleichbares gesehen. Um ehrlich zu sein, war da kaum was zu sehen. Spärlich standen Bäume auf dem verkohlten, schwarzen Waldboden. Nicht ein einziges Blatt war an ihnen und auch sonst sah man keine lebendige Pflanze. Bei jedem Schritt wühlten sie den staubigen Boden auf und erzeugten somit kleine, graue Staubwolken, die um ihre Füße wirbelten. Selbst nachdem sie eine ganze Zeit gegangen waren und der Mond schon aufgegangen war, hatte Rakna keinen grünen Busch oder Baum erblickt. Dieser Ort gefiel ihr ganz und gar nicht. Es wirkte, als hätte sich hier etwas Abscheuliches abgespielt und nur Tod und Trauer war übrig geblieben. Als nach einer gefühlten Ewigkeit immer noch nichts Anderes zu erkennen war, fasste sich Rakna ein Herz und fragte Fenrick, was hier vor sich gegangen sein mochte. Er antwortete nicht auf ihrer Frage. Er sagte nur kurz:
„Wir sind gleich da.“ Das heiterte Raknas Stimmung nicht gerade auf. Hier sollte sie in der nächsten Zeit leben? Sie konnte sich kaum vorstellen, dass hier irgendetwas gedieh. Aber sie wollte nicht undankbar erscheinen, also sagte sie nichts.
Dann war es endlich soweit. Fenrick hielt vor einem besonders alten und knorrigen Baum inne und schien etwas am Stamm zu mustern. Rakna fragte sich, was ausgerechnet an diesem Gewächs Fenricks Aufmerksamkeit erregt hatte. Der Baum sah aus, wie all die Anderen hier, nur dass er vielleicht ein bisschen größer war. Er hatte einen dicken, verkohlten Stamm und weit verzweigte, kahle Äste. Die Wurzeln standen hoch aus dem Boden und breiteten sich kreisrund um den Baum herum aus. Fenrick bückte sich und streckte seine Hand nach dem Geflecht aus. Behutsam strich er über seine mehrfach verschlungene Rinde, die sich wie ein Zopf verflochten hatte. Urplötzlich schüttelte sich der gesamte Baum, als sei ihm durch die Berührung eine Gänsehaut durchs Geäst gehuscht. Überall entlang der Äste blühten jetzt lauter kleine, orangene Blüten auf, die lieblich dufteten. Es war, als sei das Gewächs von der Wärme der Hand zum Leben erwacht. Dieser einzigartig, schöne Moment rief bei Rakna eine Gänsehaut hervor. Wenn sogar die Natur sich tarnte, wie waren erst die Elfen, die hier lebten? Als das Schauspiel beendet war, regte sich der Baum nicht mehr. Fenrick hatte sich in der Zwischenzeit wieder erhoben und als er zur Seite trat, erkannte Rakna ein dunkles, tiefes Loch vor sich. Sie kam einen Schritt näher, um hinein zu spähen, sah aber nichts als Schwärze. Ein paar Steine kullerten, von ihrem Fuß angestoßen, in den Abgrund. Es war kein Aufschlag zu hören. Ohne Zweifel ein Zeichen dafür, dass der Boden weit entfernt war. Rakna sah zu ihrem Gefährten, er hielt ihr seine Hand hin.
„Wir springen.“ Im Wechsel blickte sie in das Loch und dann zu Fenrick.
„Wie bitte?“, fragte sie skeptisch. Wieder lächelte er sie wissend an.
„Euch wird nichts passieren. Glaubt mir.“, sagte er und fügte, als sie noch immer nicht überzeugt aussah, hinzu:
„Unseren Junglingen macht es sogar Spaß.“ Bei diesen Worten stieg Rakna die Röte ins Gesicht. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie feige sie geworden war. Als Kind wäre sie die Erste gewesen, die in das Loch gesprungen wäre, heute zitterten ihr die Knie. Doch damit war jetzt Schluss. Sie richtete sich zu ihrer vollen Größe auf und straffte die Schultern, dann nickte sie zustimmend.
„Ich werde zuerst springen, seht zu, wie ich es mache und dann folgt mir.“ Fenrick stellte sich mit gespreizten Beinen über das Loch, so als wolle er hinunter spucken. Er sprang hoch, die Knöchel eng zusammengepresst. Innerhalb eines Wimpernschlages war er verschwunden und nur das Kratzen seiner Rüstung an den Steinwänden war zu hören. Jetzt war Rakna allein und sie spürte, wie ihre das Herz bis zum Halse schlug. Anders als Fenrick setzte sie sich an den Rand des Loches und ließ die Beine hinein hängen. Sie sah, dass weit unten in der Schwärze, der Gang in einer Kurve verlief. Es hatte keinen Zweck länger darüber nachzudenken. Sie schloss die Augen, verschränkte die Arme vor der Brust, atmete tief ein, dann rutschte sie vom Rand in das schmale Loch. Rasend schnell glitt sie die Röhre entlang, immer wieder stieß sie mit den Schultern an die Wände und ihre Arme schlugen gefährlich gegen den Stein. Unzählige steile Krümmungen folgten schnell aufeinander. Als sie nicht mehr mitzählte, wie oft sie schon abgebogen war, endete die Röhre abrupt und sie schlitterte auf dem Rücken in einen breiten, steinernen Gang. Fenrick stand direkt vor ihr, die Hände seltsam nach oben haltend. Während sie aufstand, um sich den Staub von der Lederrüstung zu klopfen, sah sie, warum Fenrick so komisch dastand. Zwei bewaffnete Wachen versperrten ihm mit erhobenen Klingen den Weg. Als Rakna bei ihrem Anblick wie versteinert stehen blieb, begann einer der Elfen zu sprechen.
„Und wer ist die Kleine da?“ Die Frage war an Fenrick gerichtet, auch wenn die Wache unentwegt Rakna musterte. Selbst als Fenrick mit ihm sprach, schaute er nicht zu ihm, sondern nur zu der jungen Frau.
„Ich werde erst etwas sagen, sobald ich mit Thuriell gesprochen habe.“ Er sagte es nicht fordernd, aber bestimmend. Die Wache schaute ihn für einen Moment abschätzend an, dann trat er zur Seite. Zu seinem Kollegen meinte er knapp:
„Bleib bei ihr, wir werden gleich wieder da sein.“ Mit einem letzten Blick auf Rakna verschwand Fenrick mit der Wache. Der zurückbleibende Elf stellte sich erneut abwehrend vor Rakna. Sie hatte das ungute Gefühl, dass sie hier nicht so willkommen aufgenommen wurde, wie Fenrick erwartet hatte.