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Von Menschen und Kindern

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Fast acht Jahre waren nach diesen Geschehnissen vergangen. Das kleine Dorf hatte sich kaum verändert. Noch immer leuchtete es jeden Abend in den orangenen Strahlen der untergehenden Sonne. Die Trauerweide bäumte sich, nicht weit von der Brücke entfernt, auf der großen Lichtung, ausladend in die Höhe. Die Menschen, die in diesem Dorf lebten, hatten sich jedoch deutlich gewandelt. Einige Zeit war vergangen und die kleine Martha war fast volljährig. Ihre Hochzeit mit Erik Ebertöter stand kurz bevor. Auch Rakna war erwachsen geworden. Sie hatte allerdings andere Pläne als ihre Freundin. Seit der Nacht, in der Rakna dem Tode so nahe gestanden hatte, schwor sie, zu lernen, wie sie sich selbst verteidigte. Und genau das hatte sie in den letzten Jahren umgesetzt. Da war keine Zeit für Liebesgeschichten. Sie wusste ohnehin nicht, wie sie jemals das Mal an ihrer Schulter erklären sollte. Ihr Vater schaffte es durch gute Verbindungen, wie er es immer nannte, ihr eine Ausbildung zur Wache zu verschaffen. Aber Rakna hatte sich fast bis zur Hauptmännin hochgearbeitet. Bald würde ihr von der Ältesten, mit dem entscheidenden Ritual, der neue Ehrentitel verliehen werden. Rakna war jetzt kein Kind mehr und ihre Ängste hatte sie längst abgelegt. Auch wenn diese Nacht vor acht Jahren ihr die Kindheit nahm, brachte sie ihr einen ausgeprägten Sinn für Gerechtigkeit. Doch das Meiste verdankte sie ihrem Vater. Er zog sie nicht nur nach dem Tod ihrer Mutter allein groß, sondern erdachte eine lückenlose Geschichte, wie Rakna es zwei Mondzyklen lang auf sich alleingestellt im Wald überlebt hatte. Er überzeugte alle, dass sie von einem kleinen Wandervolk festgehalten und versorgt worden war. Später gelang ihr die Flucht und sie war mit Reisenden ins Dorf zurückgekehrt. Keiner zweifelte bis heute an dieser Geschichte und niemand, außer ihr und ihrem Vater wusste, was in Wirklichkeit geschehen war. Das Mal auf ihrer Schulter verdeckte sie immer gewissenhaft. Doch das war nicht so leicht, denn es hatte sich von der Bissstelle aus, in dicke dunkle Streifen gespalten und in alle Richtungen ausgebreitet. Fast wie eine Ranke. Die Stelle war handgroß und hob sich deutlich von ihrer weißen Haut ab. Der viele Stoff, den sie deswegen meist trug, war bis zum Hals hoch geschnitten und ließ sie zugeknöpft und streng wirken. All das war ihrem Plan, Hauptmännin zu werden, durchaus zuträglich. Wegen all dieser Geschehnisse genoss sie heute hohes Ansehen im Dorf. Ihre vernünftige, strebsame Art gefiel den Leuten und doch wusste keiner, was der wirkliche Grund dafür war. Ihre Vorsicht und Distanz hatte aber auch zur Folge, dass Rakna einsam wurde. Der Gedanke sich jemandem zu öffnen, ängstigte sie. Selbst ihr Vater berührte niemals das Mal an ihrer Schulter. Wenn er ihre geschundene Haut sah, zeichnete sich in seinem Gesicht deutlich Abscheu ab. Doch Rakna konnte es ihm nicht verdenken, die Bissstelle widerte sie ebenfalls an. Einige Male dachte sie sogar, das Mal würde sich unter der Haut bewegen. Meist wenn sie aufgewühlt war. Aber sobald sie nachsah, fand sie keine Veränderung vor.

Es verblieben nur noch wenige Tage, bis sie endlich zur Hauptmännin ernannt werden würde. Täglich trainierte sie mit den anderen Wachen und oft war sie es, die zur Wachsamkeit aufrief. Aber heute war ihr freier Tag. Heute war sie nur Rakna. Diese Zeit nutze sie, um sich unweit der alten Trauerweide auszuruhen und dabei zu beobachten, ob sich dort irgendetwas regte. Oft hatte sie sich gewünscht, Lynthriell wieder zu begegnen, um sich für ihre Rettung zu bedanken. Insgeheim träumte sie davon, irgendwann in das fremde Land zurückzukehren, um es mit dem schrecklichen Geschöpf aufzunehmen, dem sie das abscheuliche Mal zu verdanken hatte. Oh, wie sie die Dämonen hasste! Doch sie wusste, dass sie als Mensch im Elfenreich nicht willkommen war. Außerdem regte sich unter dem Baum nie Etwas und nichts Seltsames war seit jener Nacht geschehen. Also blieb ihr Wunsch eben nur ein Traum.

Später an diesem Tag hatte sie eine Verabredung mit Martha. Es war der Abend vor Marthas Heirat und ihre Freundin wirkte seit Wochen schrecklich aufgeregt. Das ganze Dorf schien auf den Beinen zu sein, um für gleich zwei solcher großen Ereignisse hintereinander zu schmücken. Erst die Hochzeit des Sohnes der Ältesten und dann die Ernennung der neuen Hauptmännin. Alle Augen richteten sich auf diese beiden Anlässe. Anders als Martha verspürte Rakna keine Aufregung. Vielleicht lag es daran, dass sie sich nicht ewig an einen Mann binden würde, sondern nur an einen Titel. Leichten Schrittes begab sie sich zum Langhaus ihrer Freundin. In der Nacht vor der Hochzeit war es untersagt, dass sich das zukünftige Ehepaar sah, denn das brachte Unglück, so der Aberglaube. Stattdessen war es Brauch, dass ein Freund der Brautfamilie die Beichte abnahm und sie von ihren Sünden reinwusch. Rakna glaubte nicht an diesen Irrglauben, aber im Dorf war es ein beständiges Ritual und für Martha war es der aufregendste Tag in ihrem Leben. Zuerst würde sie, zusammen mit der Mutter und der Großmutter, das Haar der Braut mit Blumen schmücken, als Zeichen der Fruchtbarkeit und der ewigen Schönheit. Anschließend wandern die beiden Freundinnen zu einer nicht weit entfernten Quelle. An diesem Ort sollte sie dann Marthas tiefste Geheimnisse erfahren und sie mit einer rituellen Waschung von ihren Sünden befreien. Wieder zu Hause angekommen, würde Martha mit ihrer Jungfernrobe, das Mädchensein ablegen und mit dem angelegten Hochzeitsgewand, zur Frau werden. Bis zum Morgengrauen, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen über das Gras wandern lässt, warten die beiden Frauen gemeinsam, bis der Bräutigam seine Braut schließlich abholte, um mit ihr das neue Leben zu beginnen. Auch Rakna hatte sich heute, ganz nach dem Brauch, besonders festlich gekleidet. Sie trug seit vielen Jahren erstmals wieder ein Kleid. Extra hoch geschnitten, in einem traditionellen Grün, denn das ist die Farbe der Hoffnung. Es hatte anliegende Ärmel, die bis zu den Handgelenken reichten und einen Kragen, der in einem kurzen V-Ausschnitt endete. Brust und Taille waren mit einer silbernen Knopfreihe verziert und der Saum des Kleides fiel in lockeren Falten über ihr Knie. Darunter trug Rakna dennoch eine Hose. Es war für sie normal geworden sich zu verhüllen. Zum Einen, um den Schein zu wahren, sie sei ein ganz gewöhnliches Mädchen ohne irgendwelche Makel. Zum Anderen, weil sie eine Abneigung gegen ihre Beine hegte. Sie hasste den Anblick ihrer Waden. So viel sie auch trainierte, schaffte Rakna es dennoch nicht, ihre Unterschenkel muskulös aussehen zu lassen. Deshalb war es ihr nur recht, sie zu verhüllen. Ihre Haare waren wie immer zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, doch heute hatte sie, statt eines einfachen schwarzen Bandes, ein passendes grünes Haarband mit weißen Blumen gewählt. Über ihre feinen, braunen Lederschuhe freute sie sich besonders. Sie trug die Schuhe gern, denn sie waren unglaublich bequem und man schwitzte nicht in ihnen. Angesichts der bevorstehenden Feierlichkeiten, war sie heute ausgesprochen guter Laune. Mit federndem Gang durchquerte sie das kleine Dorf. Hier und dort grüßte man sie fröhlich oder nickte ihr zu. Als sie vor der hölzernen Tür ihrer Freundin angekommen war, erhob sich schon ein aus feinen, weißen Rosen geflochtener hoher Bogen. Er war der erste Vorbote, für das, was hier heute Nacht geschehen würde. Aus dem Inneren vernahm man laute Geräusche, die ganz nach Marthas barschen Anweisungen klangen. Rakna trat unter den Rosenbogen und klopfte zwei Mal kräftig. Für einen Moment wurde es still. Die Tür wurde aufgerissen und Martha warf sich in ihre Arme.

„Endlich! Ich warte schon seit Stunden und bin fürchterlich aufgeregt. Schick siehst du aus, konntest dich wohl doch nicht von deinem Hosenboden trennen. Na ja, so bist du eben. Immer anständig.“ Martha lächelte kokett und winkte ihre Freundin zu sich herein. Im Haus liefen die Vorbereitungen schon auf Hochtouren. Einige Leute flitzten eilig umher, um etwas zu holen, zu bringen oder anderes zu erledigen. In der Küche befanden sich so viele Menschen, dass kein Zentimeter Platz mehr war, um irgendetwas abzustellen. Und so schubsten und drängelten sich die Leute aneinander vorbei und nicht selten hörte man etwas auf dem Steinboden zerschellen. Martha rief aus einem der hinteren Zimmer nach Rakna und sie beeilte sich ihrer flinken Freundin hinterherzukommen. Sie betrat das Schlafgemach der Eltern. Ein großer Spiegel war hier aufgestellt worden. Weitere weiße Blumen standen auf dem Boden, um sie gleich in das Haar der Braut einzuflechten. Jetzt erschienen Marthas Mutter und Großmutter, mit Bändern so rot wie Blut. Diese waren Bestandteil ihrer Brautfrisur. Rakna hielt sich, beim Flechten, zum größten Teil zurück. Sie war ausgezeichnet darin die Axt zu schwingen oder drei Männer gleichzeitig abzuwehren, aber Flechtarbeiten hatte sie seit Kindertagen nicht mehr ausprobiert und es lag ihr fern, die Frisur ihrer Freundin zu ruinieren. Martha war doch so leicht zu erschüttern.

Als sie endlich fertig waren, begaben sich die beiden Frauen, laut plaudernd, auf den Weg. Sie sprachen über Erik, wie liebevoll er um Marthas Hand angehalten hatte. Martha berichtete über die große Freude ihrer Eltern in Bezug auf die bevorstehende Hochzeit und auch von dem hohen Titel von Rakna. Ein weiteres Thema kam zur Sprache. Ganz zu Raknas Leidwesen. Immer wieder ärgert Martha sie damit, dass sie sich absolut nicht auf einen Mann einlassen wollte. Mit fast neunzehn Lebensjahren war Rakna im heiratsfähigen Alter. Es hatte schon einige Verehrer gegeben, doch sie lehnte alles Werben ab. Es gab niemanden, dem sie genug vertraute, um ihn in ihr Geheimnis einzuweihen, und somit hatte sie beschlossen sich Keinem aus dem Dorf anzuvertrauen. Dies war der Grund, warum sie hoffte, dass sich das Tor an der Weide erneut öffnete. Hier gab es niemanden, der das Mal nicht verabscheute. Würde hier irgendjemand davon wissen, was sie unter ihrer Kleidung versteckte, wäre sie dem Tode geweiht. Wahrscheinlich wurde sie von dem eigenen Ehemann schneller hingerichtet, als dass sie ihre Geschichte erzählen könnte. Doch im Elfenreich gab es Jemanden, der Rakna geholfen hatte, obwohl sie das Mal trug. Sie dachte an Lynthriell.

Allerdings hatte es einst einen Jungen aus ihrem Dorf gegeben, den sie einmal gern gehabt hatte. Dieser war ebenfalls an ihr interessiert. Dior wurde zusammen mit ihr als Wache ausgebildet. Eine Zeit lang verbrachten sie jeden Tag miteinander. Bis er irgendwann, ehrlich um sie warb. Er war der erste Junge, der es versuchte. Am Anfang hatte sie ernsthaft darüber nachgedacht, sich ihm anzuvertrauen und einzuweihen. Andererseits hatte sie die Warnung von Lynthriell nicht vergessen und sich eine Prüfung für ihn ausgedacht. Eines Abends lud sie ihn ein, sie zur Trauerweide zu begleiten. Zusammen hatten sie sich auf dem Waldboden, nicht weit entfernt, niedergelassen. Sie erzählte ihm eine Geschichte, in der sich ein geheimnisvolles Tor unter der Weide öffnete und ein fremdartiges Wesen daraus hervor trat. Dann hatte sie ihm folgende drei Fragen gestellt.

Würdest du diesem Geschöpf in Not helfen?

Lieferst du es an die Anderen aus?

Tötest du es sofort?

Die Antworten des Jungen waren ehrlich, aber eine große Enttäuschung für Rakna. Wäre sie ihm in der fremden Welt über den Weg gelaufen, hätte er sie verraten und auf der Stelle ermordet. Wie würde er erst auf ihr Dämonenmal reagieren? Ihre Zuneigung war an diesem Abend erloschen und seine Chance vertan. Es war kein Geheimnis geblieben, dass ihre anfänglichen Gefühle mit einem Schlag abgeklungen waren. Besonders Martha war an den Gründen interessiert, doch Rakna hatte sich dazu nie geäußert.

In der Zwischenzeit erreichten die jungen Frauen die Quelle und Martha versuchte, das alte Thema wieder aufzunehmen. Sie war sich sicher, heute, an diesem rührseligen Tag, Rakna endlich eine Antwort zu entlocken. Die ahnte jedoch schon die Absichten ihrer Freundin und wehrte das Drängen sofort ab. Alles was sie dazu sagte, war:

„Sollte ich jemals heiraten wollen, dann bist du die Erste, die es erfährt.“ Und damit war das Thema endgültig abgehakt. Martha wurde plötzlich still. Jetzt war der Augenblick gekommen, der Moment ihrer Offenbarung. Rakna hatte, trotz der Sticheleien ihrer Freundin, Mitleid mit ihr. Denn es war nicht leicht, seine schlimmsten Geheimnisse preiszugeben und mit sich selbst ins Gericht zu gehen. Martha senkte ihren schönen Kopf, der mit den weißen Blüten und den roten Bändern geschmückt war. Als sie ihn nach wenigen Sekunden wieder hob, waren ihre Augen mit Tränen gefüllt. Die Beiden ließen sich auf den weichen Waldboden sinken und mit stockender Stimme begann sie zu sprechen.

„Es gibt da etwas, das ich dir erzählen möchte. Es sind nur Kleinigkeiten, bis auf eine Sache. Wegen dieser habe ich dich erwählt, meine Beichte, abzunehmen.“ Rakna versuchte sie zu trösten, doch Martha sträubte sich.

„Nein, bitte, hör einfach zu. Du weißt, bevor es Erik gab, war da noch ein Anderer, ein geheimer Verehrer. Ich habe nie jemandem gesagt, wer es war. Ich rechtfertigte mich damit, dass es nichts Ernstes war. Doch das ist nicht wahr. Er hat mir oft geschrieben und ich wusste zuerst nicht, von wem die Briefe waren. Aber eines Nachts haben wir uns getroffen. Ich war so gespannt zu erfahren, wer es ist. Wir haben uns an den Ställen kurz nach Sonnenuntergang verabredet und er ist dort tatsächlich erschienen! Rakna, es war Dior!“ Abrupte Stille trat ein. Es verschlug ihr den Atem und dennoch wollte sie wissen, was dann passiert war.

„Aber das war nicht alles. Er hat mir in dieser Nacht meinen ersten Kuss genommen. Ich sagte ihm, dass wir uns nicht mehr wiedersehen können. Ich habe mich so geschämt, er war doch dein Freund. Er hatte schon um dich geworben. Wenige Tage später hast du dich dann von ihm abgewandt. Bitte sag mir, wusstest du es? Sag die Wahrheit.“ Rakna unterdrückte augenblicklich ein Lächeln. Natürlich hatte sie nichts davon gewusst, aber das war auch egal. Sie hatte bereits festgestellt, dass er nicht würdig war, ihr Geheimnis zu erfahren. Marthas Erzählung bestätigte das nur. Rakna nahm ihre Freundin bei der Hand und antwortete mit sanfter Stimme:

„Ich wusste nichts davon. Ich habe mich von ihm abgewandt, weil er etwas Entscheidendes nicht zu tun vermochte. Ja es stimmt schon, Dior ist stark und schlau, aber er handelt zügellos, ohne über Recht und Unrecht nachzudenken. Martha, wie kann ich mich so jemandem hingeben? Was du mir erzählst, macht mich nicht wütend oder traurig. Es zeigt mir nur, dass ich richtig entschieden habe.“

Marthas Mundwinkel wandelten sich zu einem schwachen Lächeln. Sie zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll die Nase, bevor sie wieder das Wort ergriff:

„Aber da ist noch etwas. Erinnerst du dich an die Nacht, als du verschwunden bist?“

„Als wäre es gestern gewesen!“, erwiderte Rakna verdutzt. Sie war gespannt, was jetzt wohl kommen würde. Hatte Martha etwas gesehen und es all die Jahre für sich behalten?

„Erinnerst du dich an meine Geschichte über die Trauerweide?“

„Na ja, nicht wörtlich.“, antwortete Rakna und bereitete sich innerlich schon darauf vor, dass gleich die Bombe platze. Doch unerwartet sagte Martha:

„Es war meine Schuld. Wegen mir sind wir alle aufgeschreckt und weggerannt. Nur weil ich das gesagt habe, wurdest du verschleppt und warst gezwungen wochenlang bei Menschen zu leben, die du gar nicht kanntest. Ich war verantwortlich und nichts was du sagen könntest, macht es ungeschehen oder rechtfertigt es.“ Die Dämme brachen und über Marthas Gesicht flossen die Tränen wie in Strömen. Sie schluchzte und es schüttelte sie vor Reue am ganzen Leib. Rakna nahm sie fest in die Arme und sie war froh, dass ihre Freundin es zuließ. Erst als Martha sich ein wenig beruhigt hatte, antwortete Rakna:

„Ja, du warst schuld daran, dass wir weggelaufen sind. Aber es war nicht dein Verdienst, dass mich diese Menschen mitgenommen haben. Außerdem bin ich dir dankbar dafür.“ Bei ihren Worten schnellte ihr hübscher Kopf nach oben und Martha sah verwirrt in das ernste Gesicht Raknas.

„Ich bin dir dankbar, denn dieses Erlebnis hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Es hat mich früh gelehrt, auf mich aufzupassen, und jetzt bin ich in der Lage, auf dich acht zu geben. Ich habe dich nie als Verantwortliche gesehen und damit werde ich heute bestimmt nicht anfangen.“ Sie lächelte, die vollkommen verdutze Martha an, die vor lauter Verwirrung ganz vergaß, zu weinen. Während sie die junge Braut betrachtete, konnte sie, trotz der Dämmerung, hinter ihr Etwas erkennen. Es war ein leichtes Flackern in der Ferne. Sie wollte ihren Augen nicht trauen. War es möglich, dass sich ausgerechnet heute Nacht das Tor öffnete? So lang hatte sie darauf gewartet und nichts war geschehen. Martha schien ihre gedankliche Abwesenheit zu bemerken, denn sie sagte jetzt eindringlich:

„Heißt das, du verzeihst mir?“ Nun war es Rakna, die kurz verwirrt war. Das flackernde Licht hatte sie vergessen lassen, wer da erwartungsvoll vor ihr saß.

„Natürlich bedeutet es das! Wenn das schon alles war, was du zu bieten hast!“ Sie zwang sich zu einem weiteren Lächeln. Martha schien ihre Antwort nicht merkwürdig zu finden, denn sie erwiderte mit leuchtenden Augen:

„Nein, mehr ist es nicht. Obwohl! Ich war als Kind immer neidisch auf deine reine, weiße Haut. Aber im Ernst, das war alles.“ Mit diesen Worten beugte sich Martha nach vorne und wusch mit dem kalten Wasser der Quelle ihr Gesicht und ihre Arme. Rakna war dankbar für den kurzen Moment der Ablenkung. So war es ihr möglich, noch einmal einen verstohlenen Blick in Richtung der Trauerweide zu wagen. Das Flackern war erloschen. Enttäuscht wandte sie sich wieder Martha zu und fuhr mit dem Ritual fort. Wie es die Tradition verlangte, träufelte sie eine Handvoll klaren Wassers über Marthas Haupt. Danach erhoben sich die Beiden und nach einem kurzen Blick von Rakna zurück, auf den geheimnisvollen Baum, traten sie den Rückweg an.

Die restliche Nacht verlief ereignislos. Sie waren allein im Langhaus. Alles war vorbereitet für den morgigen Tag. Es blieb nichts weiter zu tun, als das traditionelle Gewand anzulegen, die vielen Bänder festzuschnüren und auf das Morgengrauen zu warten. Die Zeit schien wie im Fluge vorbeizuziehen. Obwohl sie überwiegend geschwiegen hatten, erschien es wie ein Wimpernschlag, als es schließlich an der Tür klopfte und Erik hereintrat. Die Luft wirkte wie elektrisch aufgeladen, als sich die Blicke des Brautpaares trafen. Er betrachtete seine Zukünftige von oben bis unten, nahm sie dann fest in die Arme und schritt mit ihr nach draußen in den Sonnenaufgang. Die Tür schloss sich hinter den Verliebten und Rakna war wieder allein. Das Paar, bei so einem intimen Moment zu beobachten, hatte sie nachdenklich und auch etwas traurig gestimmt. Würde sie jemals jemanden finden, der sie genau so begehrte, trotz ihrer Geschichte und der Zeichnung durch den Dämon? Schnell versuchte sie, die dunklen Gedanken abzuschütteln, und begab sich auf den Heimweg. Heute stand ihr letztlich die Hochzeitszeremonie bevor. Zuvor jedoch gab es da noch ihren eigenen großen Moment. All die harte Arbeit würde sich nun auszahlen. Natürlich konnte sie sich den neuen Ehrentitel und die damit verbundenen Vorzüge zu Nutzen machen und hier und da auf den Adel und das Oberhaupt einwirken. Rakna überlegte, was sie als Nächstes tun sollte, um sich darauf vorzubereiten, als eine Stimme hinter ihr, sie aus ihren Gedanken riss.

„Rakna! Es gibt ein Problem!“ Als sie sich umwandte, erkannte sie Tharas, der eilig auf sie zustürzte.

„Meine Mutter, sie sucht nach dir. Es ist etwas Schreckliches passiert!“ Als sie das gequälte Gesicht des Jungen sah, schwante ihr schon Schlimmes.

„Bring mich zu ihr.“ Ohne zu zögern, spurteten sie los. Sie fanden seine Mutter Maidread am Seeufer. Es wirkte, als würde sie auf Etwas warten, während sie über das raue Wasser hinweg spähte. Kaum dass sie Rakna erkannte, warf sie sich in ihre Arme. Durch ihr lautes Schluchzen waren ihre Worte nur schwerlich zu verstehen.

„Helgi, sie ist aufs Wasser raus geschwommen und jetzt sitzt sie auf der Insel fest. Ich glaube, sie schafft es nicht mehr zurück. Rakna die Tiere! Du weißt doch, was da haust! Sie wird kaum einen Abend dort überleben!“

„Sie hat sich mit Bearna gestritten!“, warf Tharas in diesem Moment ein. Als Maidread das hörte, schrie sie noch lauter nach ihrer Tochter. Dann fiel sie vollkommen entkräftet auf die Knie. Rakna zögerte nicht lang. Einzig und allein ihre Schuhe zog sie aus, anschließend sprang sie mit all ihren Kleidern in das kalte Wasser. Mit kräftigen Zügen teilte sie die raue Oberfläche des Sees. Immer wieder tauchte sie auf und spähte nach der kleinen Insel. Verschwommen erkannte sie die Umrisse des Mädchens. Das Kind saß auf dem weißen Sand und umklammerte ihre Beine. Es dauerte eine ganze Weile, bis Rakna endlich wieder festen Boden unter den Füßen spürte. Ihre Arme brannten fürchterlich. Vollkommen aus der Puste taumelte sie auf das kleine Mädchen zu, welches erstmals aufblickte. Ihr Gesicht war rot vom vielen Weinen. Ihre Lippen zitterten.

„Helgi! Bin ich froh ...!“ Kaum, dass sie ein paar Worte gewechselt hatten, war schon ein leises Rascheln in der Nähe zu hören. Es verriet Rakna, dass sie nicht alleine waren.

„Schnell komm zu mir, sofort!“ Das zitternde Kind rappelte sich mit wackeligen Beinen auf und kauerte sich hinter ihre Beschützerin. Sie schien ebenfalls bemerkt zu haben, dass noch jemand Anderes hier war. Rakna schaute sich rasch nach einer Waffe um, mit der sie sich verteidigen konnte. Sie ergriff einen scharfkantigen Stock neben einem großen Stein, direkt vor ihr. Dann hockte Rakna sich schützend hinter den Felsen. Sie spitze ihre Ohren, um etwas wie eine Bewegung oder ein Geräusch aufzuschnappen, aber es war totenstill. Das Geschöpf lauerte im Gebüsch. Mit sanften Druck schob sie Helgi in die Deckung des Steins und schlich vorsichtig um ihn herum in Richtung des Strauches. Langsam bogen sich die Äste zur Seite und eine pelzige klauenbesetzte Pfote zwängte sich zwischen ihnen hindurch. Darauf folgte eine große aufgerissene Schnauze, mit scharfen weißen Zähnen. Ein grauer Wolf, mit funkelnd gelben Augen, hatte sich aus dem Gebüsch gezwängt und kam langsam lauernd auf Rakna zu. Sein Blick war starr auf sie gerichtet, ohne ihn für eine Sekunde abzuwenden. Schon oft hatten sie mit den Hunden des Dorfes solche Situationen trainiert. Rakna war darauf vorbereitet, aber damals hatte sie eine ordentliche Rüstung und eine solide Axt. Sie nahm eine verteidigende Haltung ein, ihre einzige Waffe, der Stab in der Hand. Genauso lauernd wie der Wolf, lief sie ein Stück weg von der Stelle, an der das kleine Mädchen saß. Rakna wollte um jeden Preis verhindern, dass das Biest auf sie aufmerksam wurde. Ihre List funktionierte und das Tier ließ sich weglocken. Er zog seine Lefzen hoch und ein tiefes Knurren war zu hören. An den Augen erkannte sie, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis er zuschlug. Rakna musste aufmerksam sein und durfte sich nicht ablenken lassen. Sie blieb schlagartig stehen, um ihn zum Angriff zu provozieren, dann ... Lautes Geschrei! Von der Stelle aus, an der Helgi gesessen hatte, kam das Brüllen. Das kleine Mädchen lenkte alle Aufmerksamkeit auf sich und für einen kurzen Augenblick schreckte der Wolf zusammen. Diesen winzigen Moment, der Unachtsamkeit seitens des Tieres, nutze Rakna aus, um zuzuschlagen. Blitzschnell riss sie den Stab hoch und traf das Biest an der Schulter. Doch er hatte ihre Bewegung wahrgenommen, und war ausgewichen, sodass sie ihn nicht in die Flucht schlagen konnte. Er taumelte einige Schritte rückwärts. Dann setzte er zum Gegenangriff an. Mit einem einzigen kräftigen Sprung machte er einen Satz nach vorn und Rakna blieb gerade noch Zeit, ihren spitzen Stock schützend hochzureißen, als der Wolf sie schon mit seinem muskulösen Körper umriss. Zähnefletschend versuchte er, etwas von ihr zwischen die Hauer zu bekommen. Rakna kämpfte, mit alle ihrer Macht, um ihn von sich fernzuhalten. Mit der freien rechten Hand packte sie einen Stein und schlug mit einem festen Hieb gegen den Kopf des Wolfes. Sogleich rollte er von ihr herunter. Leider war er genauso schnell auf den Beinen wie Rakna und abermals standen sie sich gegenüber. Dieses Mal preschte sie zuerst auf ihn zu. Sie würde ihm nicht die Möglichkeit geben, einen weiteren Angriff zu planen. Der Wolf reagierte reflexartig und ihr Schlag ging ins Leere. Das Biest zog sofort nach und Rakna wurde komplett unter dem massigen Körper begraben.

„Rakna!“, schrie Helgi mit verzweifelter Stimme. Für einen Moment sah es so aus, als würde der Wolf sie zerfetzen. Doch dann war ein gequältes Jaulen zu hören und das Tier rannte mit eingezogenem Schwanz davon. Rakna hatte ihm ihre flache Hand an die Kehle gerammt und ihren spitzen Stock in die Flanke getrieben. Eingeschüchtert zog sich der Angreifer zurück. Als das Trommeln der Pfoten nicht mehr zu hören war, richtet sie sich wieder auf. Eine Kralle des Wolfes hatte ihren Arm aufgeschlitzt, es blutete stark. Aber das war egal, Rakna dachte nur an Helgi. Es war auch noch später Zeit, um sich zu verarzten. Mit den Augen suchte sie das Ufer nach dem Kind ab. Hinter einem großen Stein sah sie ihre weißen Haare hervorschauen. Als Helgi merkte, dass die Luft rein war, rannte diese auf die geschundene Rakna zu. Immer wieder neue Wogen von Tränen sprudelten hervor. Die junge Frau hatte Mühe die Worte des Kindes zu verstehen. Helgis makellos weißes Haar, war an den Spitzen noch immer ganz nass.

„Es tut mir leid! Bearna hat so gemeine Dinge gesagt. Ich bin einfach weggerannt, so weit wie möglich.“ Rakna schaffte es, dass die Kleine sich etwas beruhigte und dann erzählte sie, was passiert war.

„Tharas und ich haben am Ufer gespielt. Da kam Bearna zu uns. Sie hat mich herumgeschubst und an meinen Haaren gezogen. Sie nannte mich eine Missgeburt, weil ich seit Anfang an weißes Haar habe. Ich wäre eine alte runzlige Kuh und meine Mutter hätte Unaussprechliches mit einem Monster getrieben. Und weißt du, ich glaube, sie hat Recht. Ich bin zu nichts zu gebrauchen und diese Haare, sie sind widerlich.“ Die Worte sprudelten aus dem Kind heraus, als ob sie ihr schon seit Jahren auf dem Herzen lagen und es schüttelte sie vor lauter Schmach. Rakna betrachtete sie für einen Moment und versuchte, ihre Antwort mit Bedacht zu wählen.

„Helgi, ich kann nicht glauben, dass du das ernsthaft denkst! Alles an dir ist perfekt und weißt du was? Deine Haare sind was Besonderes. Sei dankbar dafür. Außerdem bist du sehr wohl zu etwas nutze. Immerhin hast du den filigranen Torbogen für die Hochzeit deiner Schwester geflochten.“

„Aber es ist unnatürlich, mit solchen Haaren geboren zu werden. Ich kenne niemanden, der sowas je gesehen hat. Rakna, ich habe Angst, das Bearna Recht haben könnte.“

„Was meinst du? Etwa dass du von einem Monster abstammst?“ Unwillkürlich lächelte Rakna, doch das bereute sie sofort, denn Helgi schaute sie zornig an.

„Ich habe von Elfengeschöpfen gehört, die ihre Opfer verschleppen und genau so etwas mit ihnen tun, gegen den eigenen Willen.“

„Ich verrate dir jetzt mal was, Helgi. Ich war schon an den seltsamsten Orten, mit den merkwürdigsten Geschöpfen und habe mich sogar mit einem Elfenwesen unterhalten. Glaub mir, das ist das Letzte, was sie versuchen. Es gibt dort auch nette Elfen. Von ihnen abzustammen ist, meiner Meinung nach, ein Geschenk und keine Strafe.“ Das andersartige Mädchen hatte so aufmerksam zugehört, dass es ganz vergessen hatte zu weinen. Dann fragte sie mit überraschter Miene.

„Du bist einem Elfenwesen begegnet? Einer lebendigen Elfe?“

„Ja, einer echten Elfenfrau und sie war überhaupt nicht bösartig. Sie hat mir sogar das Leben gerettet. Aber das bleibt unser Geheimnis Helgi, ist das klar?“ Mit aufgerissenen Augen nickte sie zustimmend mit dem Kopf. Dabei sah das kleine Mädchen genauso aus wie ihr Bruder Tharas an dem Abend, als sie gemeinsam mit Martha und ihm heimlich in den Wald gegangen war. Rakna stellte fest, dass die beiden Geschwister ein und dieselbe Augenfarbe hatten. Braun, mit goldenen Einschlüssen.

„Komm, wir gehen! Nicht, dass unser haariger Freund mit Verstärkung wiederkommt.“ Zum ersten Mal lächelte Helgi.

„Außerdem habe ich mit Bearna ein ernstes Wörtchen zu reden. Ich will wissen, von wem sie abstammt. Immerhin ist ihr Haar fuchsrot.“ Sie grinste das Mädchen verschmitzt an, welche nun laut loslachte. Auf dem Rückweg klammerte sich Helgi an Raknas Rücken fest und gemeinsam schwammen sie zurück zum rettenden Strand. In der Zwischenzeit, während die Beiden auf der Insel waren, hatte sich eine Menschentraube am Rande des Sees angesammelt. Kaum, dass sie das Ufer erreichten, riss Maidread ihr kleines Mädchen an sich und schloss sie fest in ihre Arme. Immer wieder küsste sie ihr kaltes nasses Gesicht und rief schluchzend ihren Namen. Freudentränen überströmten ihr Antlitz. Dann zerrte sie auch Rakna an sich und umarmte sie stürmisch. Verlegen tätschelte Rakna Maidreads Schulter, unfähig etwas zu sagen. Jäh wurde Rakna von gleißenden Sonnenstrahlen geblendet. Die Sonne stand schon hoch am Horizont. Zu hoch. In wenigen Stunden begann die feierliche Verleihung und sie vergeudete hier ihre Zeit, tropfnass, voller Blut und mit zerzausten Haaren. Unauffällig versuchte sie sich, loszueisen. Doch das kleine Mädchen zupfte bereits an ihrer klammen Kleidung.

„Ich würde dir gerne eine Frisur flechten, Rakna. Als Dankeschön, dass du mich gerettet hast.“, sagte Helgi verlegen.

„Nichts wäre mir lieber. Aber vorher habe ich etwas zu erledigen.“ Schnellen Schrittes drängte Rakna sich durch die Schar von Menschen, die sich um sie herum versammelt hatte und steuerte auf Bearna zu. Hier und da wurde ihr auf die Schulter geklopft oder ihr Name bewundernd ausgerufen. Die Leute schienen ihren Kampf mit dem Wolf beobachtet zu haben. Das freche Mädchen drückte sich hinten in der Menge herum. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie stand wie angewurzelt da, als Rakna sie erblickte.

„Der Kampf war ...“ Rakna schnitt ihr augenblicklich das Wort ab.

„Ich habe gehört, wie dunkel es in deiner Seele ist. Spar dir die Erklärungen, sie sind doch nichts als leeres, unehrliches Gefasel. Wird mir noch einmal zugetragen, dass du Helgi oder irgendein anderes Kind, wegen ihres Aussehens quälst, dann sage ich dir, wirst du ein ernstes Problem bekommen. Haben wir uns verstanden?“ Bearna stolperte einige Schritte rückwärts, während sie mit zusammengekniffenen Lippen nickte. Die Angst stand ihr förmlich ins Gesicht geschrieben, aber das war Rakna egal. Aus der Masse drängelte sich eine weitere Person hervor. Mit barschem Ton schimpfte er auf Rakna ein.

„Was fällt dir ein, meine Tochter zu bedrohen, Rakna Wolfshaut?“ Der Vater des ungezogenen Mädchens stellte sich ihr mit verschränkten Armen in den Weg.

„Du wirst mir zustimmen Barbas, wenn ich dir sage, dass deine Tochter andere Kinder herumschubst, nur weil ihr deren Gesicht nicht gefällt.“

„Was kümmert es mich. Die Bälger müssen in diesem Alter lernen, sich durchzusetzen. Deshalb solltest du dich, als fast Erwachsene, aus solchen Kleinigkeiten raus halten. Was würde die Älteste dazu sagen, wenn sich unsere Hauptmännin um Kinderkram kümmert und ihre wahren Aufgaben vernachlässigt?“

„Ich finde nicht, dass es belanglos ist. Alle Kinder in diesem Dorf sind unsere Zukunft und sind die Voraussetzung für ein einvernehmliches Zusammenleben. Wir sind keine Barbaren, die sich gegenseitig abschlachten, nur weil die Nasenspitze nicht an der richtigen Stelle sitzt, Barbas.“

„Es sind nur Kinder und ich denke, das wird unser Oberhaupt, die Älteste, genauso sehen. Ich werde sie davon unterrichten.“ Mit ausgestrecktem Finger zeigte er drohend auf Rakna. Sie hatte schon den Mund geöffnet, um etwas zu erwidern, als ihr jemand anderes zuvorkam.

„Ich glaube, ich entscheide selbst, was für mich wichtig ist Barbas, danke ...“ Die Älteste hatte alles aus den hinteren Reihen beobachtet und mitgehört. Rakna war froh, dass sie ihre Meinung teilte, auch wenn sie es für unnötig hielt, dass sie ihr zur Hilfe eilte. Ein kurzer Blick, der eindeutig bedeutete: - misch dich nicht ein - ließ Rakna verstummen.

„Sie hat Recht. Wir sind ein Volk, und das sollten wir nicht vergessen. Die Kinder müssen rechtzeitig lernen, wem ihre Gunst zusteht. Sie sind genauso Teil unseres Volkes. Selbst das kleinste Mitglied, wird mit Respekt behandelt. Rakna ist bald Eure Hauptmännin. Ihr solltet Euch an ihre Art, wie sie die Dinge regelt, gewöhnen. Das gilt für alle!“, dann wandte sie sich direkt an Rakna und sagte leise:

„Beeil dich! Es ist nicht mehr lange bis zur Zeremonie.“ Mit diesen Worten durchquerte sie die Menge und marschierte davon. Barbas schubste seine Tochter brummelnd vor sich her und verließ die Szenerie. Er kochte vor Wut. Das würde noch ein Nachspiel haben, dessen war Rakna sich sicher.

Sie hatte wahnsinnig viel Zeit verloren. Erst die Rettung von Helgi, der Kampf und jetzt die unerwartete Diskussion mit Barbas über seine unredliche Tochter. Sie musste dringend aus den nassen Sachen raus und ihr Festgewand anlegen. Normalerweise wäre das rasch vonstattengegangen, doch da war ihr Mal, was niemand sehen durfte. Kaum, dass sie zu Hause war, zog sie hastig die tropfenden Kleider aus. Sie klebten an ihr und erschwerten es, sie herunterzuziehen. Mit schnellen Bewegungen befreite sie ihr Gesicht und ihre Arme vom geronnenen Blut. Dann nahm sie das Ritualgewand aus dem Schrank. Es bestand aus einer engen braunen Hose, deren Beinaußenseiten grüne Einsätze zierten. Das obere Gewand war ebenfalls aus demselben derben Stoff gewoben. Es war lang und reichte weit über die Hüfte. Oberhalb der Brust waren zusätzliche moosgrüne Applikationen angebracht, welche von der Schulter, bis zur Wirbelsäule rankten. So sah es aus, als ob frische grüne Zweige an ihrem Körper hochwuchsen. Auf Raknas Wunsch war das Gewand am Hals höher geschnitten. Gewöhnlich hatte es keine Ärmel, doch hier hatte Rakna eine Änderung vornehmen lassen. Als sie das Kleidungsstück ausbreitete, um es überzuziehen, entdeckte sie etwas, das ihr Herz still stehen ließ. Für einen Moment verharrte sie reglos und starrte auf den Stoff, den sie in den Händen hielt. Der hoch geschnittene Kragen war von der Näherin des Dorfes einwandfrei angesetzt worden, doch die verlängerten Ärmel fehlten. Sie endeten knapp über der Schulter und als Rakna das Gewand anzog, bedeckte es nicht das gesamte Mal. Die schwarze Zeichnung ragte einen Daumen breit unter dem Gewebe hervor. Ihr wurde schwindelig und sie war sich sicher, dass ihr Gesicht bleich geworden war. Was sie da sah, erschien unglaublich. Schon vor Tagen hatte sie das Gewand anfertigen lassen und war extra zum Abmessen gekommen, was sie sonst vermied. Doch aus Angst, ihr Dämonenmal könnte entdeckt werden, hatte sie dieses Mal eine Ausnahme gemacht. Nur Gudrun, der Näherin, war es erlaubt an Raknas bestehenden Kleidern Maß zu nehmen. Anfangs hatte sie seltsam dreingeschaut, aber schließlich nicht nachgefragt, und ging einfach ihrer Arbeit nach. Nun sah es jedoch so aus, dass Gudrun vergessen hatte, die Ärmel anzunähen. Sie fehlten und in der kurzen Zeit war es nicht möglich, Neue anzubringen. Fieberhaft rannte Rakna zum kleinen Fenster ihrer Hütte und schaute panisch in Richtung Himmel. Die Sonne sank immer tiefer und berührte schon sanft die hohen Baumwipfel. Es blieben ihr nur wenige Augenblicke, um sich etwas einfallen zu lassen. Sie rannte zum Schrank und riss alle ihre Hemden und Blusen aus dem obersten Fach. Hastig durchwühlte sie die durcheinandergeratenen Sachen nach Etwas, was unter Raknas Gewand passte. Irgendwie musste sie die fehlenden Ärmel ausgleichen. Schließlich fand sie eine braune Leinenbluse, die sie vor einigen Jahren zu einer Feierlichkeit getragen hatte. Sie war etwas eng um die Brust geworden, doch sie reichte hoffentlich aus. Warum hatte sie die Näharbeiten nicht kontrolliert. Blind hatte sie vertraut, dass alles in Ordnung sei. All die Jahre war Gudruns Arbeit tadellos. Doch Rakna hätte sich nicht blindlings darauf verlassen dürfen. Irgendwann musste der Tag kommen, an dem es nicht passte. Aber warum passierte es ausgerechnet an dem Tag der Verleihung des Ehrentitels? Die finsteren Gedanken, die in ihr aufkamen, erleichterten es nicht. Sie musste sich schnell entscheiden, denn ihr Haar war vom Schwimmen zerzaust und es dauerte nicht mehr lange, bis Helgi kam, um ihr eine Frisur zu flechten. Bis dahin lag es an ihr, sich umzuziehen und zu kämmen. Sie überschlug sich fast, als sie in ihre Hose schlüpfte und die Bluse überwarf. Sie war vor Langem zu klein geworden, doch ihr blieb nichts anderes übrig und sie musste damit vorliebnehmen. Jetzt war da nur noch die traditionelle Tunika zum Überziehen, um den Anforderungen des Rituals gerecht zu werden. Nun trug sie die doppelte Schicht an Kleidung. Das Provisorium reicht nur knapp über das Mal. Aber es war verdeckt. Rakna durfte nicht vergessen vorsichtig zu sein, dann würde nichts geschehen.

Kaum, dass sie ihre Kleidung angezogen hatte, klopfte es bereits an der Tür. Helgi, dachte sie. Ihr Bauch war halb zu sehen, als sie die Tür aufriss. Sie setzte schon an, auf das kleine Mädchen einzureden, als Rakna erschrocken feststellte, dass nicht sie vor der Tür stand, sondern ein großer, braungebrannter Mann. Sein dunkles Haar war frisch geschnitten und deshalb kurz. Mit verwundertem, aber amüsierten Blick, wanderten jene braunen Augen an Raknas Taille entlang, nach oben. Ein leichtes Lächeln zuckte über das Gesicht und offenbarte all seinen Charme. Hastig zupfte sie ihre Garderobe zurecht und begrüßte ihren unerwarteten Gast.

„Hallo Dior, ich hatte nicht mit dir gerechnet.“

„Das habe ich gesehen, hast du etwas dagegen, wenn ich rein komme?“

Rakna war zwar in Eile, doch Diors kurzfristiges Auftauchen hatte ihre Neugier geweckt und so bat sie ihn, mit einem Wink, herein.

„Bitte mach es kurz. Ich habe keine Zeit.“

„Ja natürlich, heute ist ja dein großer Tag. Ich bin eigentlich nur hier, um dir meine besten Wünsche auszusprechen.“ Seine Worte weckten in Rakna Skepsis. Nach all den Jahren kam er ausgerechnet an diesem Tag auf sie zu? Sie wusste, es gab noch einen anderen Grund, warum er zu ihr gekommen war. Trotz ihres Misstrauens sagte sie freundlich:

„Ich danke dir, Dior. Das ist wirklich aufmerksam von dir!“ Sie beobachtete jede seiner Regungen und sah, dass da tatsächlich noch etwas anderes dahinter steckte. Er hatte den Blick gesenkt und kaute unablässig auf seiner Lippe. Die Hand hielt er verlegen im Nacken, als ob ihm etwas unangenehm sei. Rakna sagte nichts, sie wartete ab. Es dauerte eine ganze Weile, bis er wieder zu sprechen begann.

„Da ist noch was. Wir Beide waren uns vor einiger Zeit nah und ich weiß, dass du mein Werben abgelehnt hast. Ich glaube, der Grund dafür war, dass du mir nicht vertraust. Doch ich wollte dir trotzdem sagen ... na ja, ich bin immer noch interessiert an dir.“ Er sah verschmitzt auf, um ihre Reaktion auf seine Worte zu sehen. Rakna verzog keine Miene und antwortete nicht. Sie wusste ohnehin nicht, was sie darauf erwidern sollte. Deshalb sprach er schließlich weiter.

„Ich weiß, das kommt jetzt etwas plötzlich, aber ich wollte, dass du es weißt. Vielleicht denkst du ja nochmal darüber nach.“ Es war unglaublich, was sie da hörte. Nach allem, was sie von Martha erfahren hatte, war dies das Letzte, was sie erwartet hätte. Damals hatte sie Dior wirklich gemocht, doch er konnte ihr Vertrauen nicht gewinnen und in den vergangenen Mondzyklen hatte sich das nicht geändert. Wieder klopfte es an der Tür und Helgi stürmte herein, ohne eine Antwort abzuwarten. Beim Anblick der Beiden blieb sie wie angewurzelt stehen. Erschrocken schaute sie von Einem zum Anderen. Rakna spürte, wie sie errötete. Bevor sie etwas sagen konnte, ergriff der nervöse Dior wieder das Wort.

„Also, ich geh dann mal. Denk darüber nach, was ich dir gesagt habe.“ Somit verließ er die Hütte, durch die hölzerne Tür und schloss sie geräuschlos hinter sich.

„Was wollte er von dir?“, platze es aus Helgi heraus, während sie dem jungen Mann nachschaute.

„Er hat über alte Zeiten geredet, nichts Wichtiges. Beeilen wir uns. Ich möchte zu meiner eigenen Zeremonie nicht zu spät kommen. Außerdem bringt mich Martha um, wenn wegen mir ihre Hochzeit verschoben wird.“ Sie lächelte das Kind an, die zurückstrahlte. Das kleine Mädchen hatte ausgesprochenes Talent. Mit flinken Fingern entstand ein makellos geflochtener Zopf. Helgi drapierte ihn so auf dem Kopf, dass er von einem Ohr, bis zum Anderen reichte. Das restliche Haar kämmte sie am Hinterhaupt zu einem eleganten hohen Pferdeschwanz. Raknas Pony fiel in sanften Locken über die Augen und umrahmte ihr Gesicht schemenhaft. Ihr gefiel Helgis Arbeit. Noch nie hatte sie so eine fein gearbeitete Frisur getragen. Da sie von ihrem Vater alleine groß gezogen wurde, hatte sie das Flechten nie gelernt und ehrlich gesagt, hatte sie auch kein Interesse daran gezeigt. Sie nahm sich fest vor, es sich von Helgi zeigen zu lassen. Ihr Blick schweifte durchs Zimmer. Auf der schmalen Kommode, im hinteren Teil des Raumes, erblickte Rakna den Ring, den Lynthriell ihr vor so vielen Monden geschenkt hatte. Sie durchquerte mit schnellen Schritten das Langhaus, um ihn anzustecken. Am Mittelfinger passte er perfekt. Die Sonne war schon fast hinter den Bäumen verschwunden. Es wurde höchste Zeit sich auf den Weg zu begeben. Mit der letzten Abendsonne erhielt sie ihren Ehrentitel. Sie konnte ihr Glück noch immer nicht fassen.

Zusammen spurteten Helgi und Rakna zum Langhaus der Ältesten. Thorgard wartete bereits vor dem Haus auf sie. Die zerfurchte Frau trug ein ähnliches Gewand wie Rakna, nur ohne die Bluse, welche Raknas Schultern provisorisch verdeckte. Die Arme und das Gesicht ihrer Anführerin waren überdeckt mit Kriegsbemalungen, die sie ehrwürdig wirken ließen. Thorgard lächelte großmütterlich und zog Rakna in eine Umarmung. Dann führte die Älteste sie an den angesehensten und mächtigsten Männern und Frauen des Dorfes vorbei, die rechts und links am Wegesrand standen, um ihr die Ehre zu erweisen. Auch Barbas war unter den Reihen. Er schaute grimmig drein, doch Rakna kümmerte es nicht. Rakna und Thorgard betraten als Erstes den mit Blumen geschmückten Raum. Hier und da sah man große Kerzen, die ihr warmes Licht an den Wänden verbreiteten. An jeder Ecke wehten Spruchbänder und das Wappen des Dorfes, welches aus drei weisen Bären auf blauem Grund bestand. Die Bemalungen auf den Fensterläden erzählten die Geschichte von vergangenen Zeiten. Während sich die anderen Bürger auf die bereitgestellten Stühle setzten und die Chorgesänge anstimmten, führte Thorgard Rakna in das Hinterzimmer, in welchem das Ritual stattfand. Die tiefen Stimmen des Menschenchores waren hier laut zu hören und verursachten einen Schauer, der Rakna eiskalt über den Rücken lief. Der Gesang wirkte mysteriös und ehrend zugleich. Erik und Peadair standen zur Rechten und zur Linken Spalier, um Rakna ihre Ehre zu erbieten. Sie stellten das kupferne Becken für die traditionelle Waschung bereit. Es war mit klarem Wasser gefüllt. Daneben, in einer bescheidenen hölzernen Schale, befand sich das Blut, eines geschlachteten Rindes, welches anschließend von allen gemeinsam verspeist werden würde. Mit diesem Lebenssaft des Tieres malte die Älteste Zeichen auf Raknas Haut, die für Sieg und Kampfgeist standen. In Rakna stieg die Anspannung, denn der Moment war gekommen. Mit einem kurzen Winken ihrer Hand gab Thorgard den Männern zu verstehen, sie allein zu lassen. Ohne ein Wort marschierten diese nach draußen. Lächelnd erhob die Älteste ein reich verziertes Schwert, das Rakna aus Schriften und Zeichnungen der Dorfgeschichte kannte. Es war die Waffe, die vor hundert Sommern, lange vor Raknas Geburt, den Sieg in der bedeutendsten Schlacht erbrachte. Geführt von dem ehrenwertesten Mann der Geschichte! Er opferte sein eigenes Leben, um das Dorf mit dem letzten Schwerthieb zu schützen. Damit tötete er den damals herrschenden Fürsten, der von einer schrecklichen Tobsucht ergriffen wurde. Hiermit zerstörte er alles Bestehende, was die grausame Herrschaft des Fürsten über ihr Volk gebracht hatte. Rakna durfte nie zuvor dieses kostbare Schwert aus der Nähe sehen. Es wurde von Oberhaupt zu Oberhaupt weiter gegeben, um der schweren Zeiten zu gedenken. Im Griff glitzerten, von Gold und Silber eingefasst, blaue Aquamarine, in der Farbe des Wappens. Am Schaft, genau an der Stelle wo das Heft zur Klinge überging, prangte ein großer, zottiger Bärenkopf, aus purem Gold. Selbst die breite Schneide war mit güldenen Mustern versehen. Es war das schönste und wertvollste Schwert, das Rakna jemals gesehen hatte. Die eisernen Waffen, mit denen sie übte und kämpfte, waren lachhaft gegen dieses Schmuckstück. Die Älteste nahm Raknas Hände in die Ihrigen und gemeinsam umschlossen sie den Schaft des Schwertes. Dann stimmte sie den feierlichen Sprechgesang an.

„Schwörst du, Rakna Wolfshaut, dass du dein Dorf schützen wirst, was immer es bedroht?“

„Ich schwöre es.“

„Und gelobst du, all seine Bürger bis zu dem eigenen Tode zu verteidigen, ob Frau, Kind, Mann oder Wache?“

„Ich gelobe es.“

„So soll es sein!“ Damit träufelte sie einige Tropfen auf Raknas Hände und Stirn. Dann nahm sie die hölzerne Schale und begann, von den Wangen abwärts, zwei rote blutige Streifen zu zeichnen. Immer wieder sprach die Älteste ihren Reim, während sie die Arme mit dem Blut bestrich.

„Hiermit wirst du zur Kriegerin, würdig die Stadt zu beschützen. Was ist das?“ Plötzlich hielt sie für einen Moment wie versteinert inne. Ihre Augen starrten auf eine Stelle oberhalb Raknas Arms und ihr Blick versteinerte. Sie zog am Ärmel der Bluse und schlug sie zurück. Rakna durchzog ein schmerzhafter Blitz und kalter Schweiß trat auf ihre Stirn. Sie hatte das Mal entdeckt!

„Ich erkläre alles, Thorgard!“ Doch es war zu spät.

„Verräterin!“, rief die Alte und zeigte mit ausgestrecktem Finger, auf die vor Schreck blass gewordene, Rakna.

„Bitte..! Hört mich an!“ Mit erhobenen Händen stolperte Rakna schützend einige Schritte rückwärts. Sie vernahm, wie Stühle vor der Tür zur Seite geschoben wurden. Sicher hatten die Anderen das Geschrei gehört und sahen nun nach dem Rechten.

„Ich lasse niemanden sprechen, der das Mal des Bösen trägt.“ Die Älteste hob drohend das Schwert gegen Rakna und sprach verbittert weiter.

„Du wagst es, uns zu betrügen. Und ich hätte dich beinahe zum Oberhaupt der Wache gekürt! Was führst du im Schilde, Teufelin?“ Rakna ließ alle Vorsicht fahren und hatte mit schnellen Schritten das Zimmer durchquert. Mit einem Satz sprang sie aus dem weit geöffneten Fenster. Unbewaffnet und mit nackter Angst im Nacken schmiss sie die Fensterläden zu und verschloss den Riegel von außen. Warum hatte sie sich nicht besser auf diesen Abend vorbereitet? So leise es ihr möglich war, schlich sie geduckt durch die Büsche. Hinter sich hörte sie das laute Hämmern und Schreien der Alten. Im Garten war niemand zu sehen. Dennoch gab sie acht, verborgen zu bleiben, denn die anderen Fenster waren weit geöffnet und helles Licht strömte aus dem Inneren heraus. Behutsam lief sie vorwärts und versuchte auf ihrem Weg nicht entdeckt zu werden. Immer wieder drehte sie sich um, um sicher zu gehen, dass ihr niemand folgte. Während Rakna Ausschau hielt, bemerkte sie, nicht weit vor sich, eine Bewegung. Jemand schlich sich an sie heran. War sie entdeckt worden? Sie hockte sich hin und blieb regungslos. Ihr stockte der Atem, während sie wartete. Der Verfolger trat mit erhobenem Schwert aus dem Gebüsch hervor. Es war Dior! Das war ihr Ende. Rakna war sich sicher, dass er sie an die Älteste verriet. Sie hob die Hände, um zu zeigen, dass sie unbewaffnet war. Doch das würde ihr nichts nützen. Aber dann ließ er, zu ihrer großen Überraschung, seine Waffe sinken. Stattdessen trat er zur Seite und sagte:

„Beeil dich, der Weg hinter mir ist frei.“ Was sie da hörte war unfassbar. Nie hätte sie gedacht, dass Dior dazu im Stande war, etwas gegen die Regeln ihres Dorfes zu tun und auf eigene Faust über richtig und falsch zu entscheiden. Nach ihren letzten Gesprächen hatte sie immer geglaubt, er wäre eine abgerichtete Wache, die von der Obrigkeit gesteuert wurde. Doch jetzt stand er da und rettete ihr das Leben. Sie nickte ihm zu und drückte dankbar seine Hand, dann rannte sie, so schnell sie konnte.

Sie floh vor ihrem eigenen Volk. Es war schon paradox, eben noch wollten sie ihr den zweithöchsten Ehrentitel verleihen und jetzt war sie eine gesuchte Verbrecherin. Doch die junge Frau hatte keine Zeit sich Gedanken darüber zu machen. Sie musste fliehen. Eilig stürzte sie vorwärts, durch Büsche und Zweige bis zum Gartenzaun, der an den Wald grenzte. Mit einem kräftigen Sprung hatte sie den kleinen Zaun überquert und erblickte das schützende Wäldchen, in welches sie sich jetzt flüchtete. Von dort aus hatte sie einen leichten Blick auf das Geschehen und konnte alles, was um das Langhaus der Ältesten stattfand, beobachten. Mit Fackeln leuchteten sie hinter jeden Busch und erhellten jeden Winkel. Sie sah auch Dior, der jetzt in die entgegengesetzte Richtung von Rakna deutete. Sie war ihm wahrlich zu Dank verpflichtet, doch im Moment war es ihr nicht möglich, sich zu revanchieren. Für einen winzigen Augenblick überlegte sie, was geschehen wäre, wenn sie sich Dior anvertraut und ihn nicht abgewiesen hätte. Rakna stand ratlos da. Was war nun zu tun? Nach Hause konnte sie nicht. Sicher suchten sie dort als Erstes nach ihr. Aber wohin sollte sie ohne Waffe, Proviant oder passende Kleidung fliehen? Der einzige geschützte Ort, der ihr einfiel, war die alte Trauerweide. Als Kind hatte sie unter ihr Schutz gesucht, vielleicht gab er ihr auch heute Sicherheit. Vielleicht öffnete sich das Tor erneut? Es blieb ihr keine Wahl, eine andere Idee hatte sie nicht. Also begab sie sich auf den Weg durch das dichte Geäst. Es war dunkel und beschwerlich den richtigen Pfad zu finden, doch Rakna kannte sich in diesem Wald so gut aus, dass sie ihn auch blind erspürte. Es dauerte nicht lang, bis sie die große Lichtung, die von der alten Trauerweide gekrönt wurde, erreicht hatte. So nah am Ziel, setzte sie schon dazu an, auf den Baum zuzustürmen, als sie hinter sich ein Geräusch vernahm. Ruckartig drehte sie sich herum, um ihren Verfolger zu erblicken, und sie erkannte vor sich Thorgard, die Älteste. In ihrem Gesicht stand der blanke Hass. Mit vor Wut zitternder Stimme sprach sie zu Rakna.

„Ich wusste es! Die Verbrecherin kehrt an den Ort des Vergehens zurück. Du wagst es, dich in unsere Mitte einzuschleichen. Wie konntest du glauben, dass du damit durchkommst? Du bist wahrhaftig ein Monster. Jetzt wirst du für deine Arroganz sterben.“ Mit einem kraftvollen Satz, den Rakna der alten Frau gar nicht zugetraut hätte, sprang diese auf sie zu. Doch Rakna glitt zur Seite und flüchtete sich hinter einen nahe stehenden Baum.

„Woher wusstet Ihr, dass ich hier bin?“

„Glaubst du, ich erkenne diesen Dreck unter deiner Haut nicht? Für so töricht hätte ich dich nicht gehalten, Rakna Wolfshaut. Ich weiß was dich gebissen hat und wenn es noch keinen Besitz von dir ergriffen hat, dann wird es nicht mehr lange dauern.“

„Thorgard, du verstehst das nicht. Es ist versiegelt, ich bin die Gleiche wie zuvor.“

„Halte deine spitze Zunge zurück! Ich werde meinen Verstand nicht von diesen Lügen vergiften lassen.“ Die Älteste rannte um den Stamm herum und holte weit aus, um Rakna niederzustrecken. Ein neuerliches Mal schaffte sie es, erfolgreich auszuweichen, aber der Schlag prallte an der Rinde des Baumes ab und federte zurück. Die zweischneidige Klinge des Schwertes traf Rakna brutal am Arm. Sie spürte, wie warmes Blut an ihrem Unterarm herunterlief. Nun hatte sie Gewissheit, dass mit ihrer Anführerin nicht zu reden war. Ohne Waffe oder Rüstung ergriff Rakna die Flucht. Sie nutzte den Moment, in dem die Älteste erneut zum Schlag ausholte um durch die entstandene Lücke zu fliehen. Den einzigen Gedanken, den sie hatte, war so schnell wie möglich unter die Zweige der bejahrten Trauerweide zu verschwinden. Hinter sich hörte sie den Schlachtruf vieler Männer des Dorfes. Thorgard war offensichtlich nicht mehr allein. Einen Spurt würde sie nicht durchhalten und verletzt, ohne Waffe, gewann sie keinen Kampf. Hastig zwängte Rakna sich zwischen den Zweigen hindurch. Dabei peitschten ihr die Äste ins Fleisch, doch Rakna nahm es kaum wahr. Überleben war ihr einziges Ziel. Abrupt erreichte sie das Zentrum und den Stamm des Baumes. Es war stockdunkel hier. Durch das Laub waren die Geräusche dahinter nur schwach zu hören, aber Rakna wusste, dass sie näher kamen. Was sollte sie nur tun? War es schlau, wieder durch das Tor zu schreiten? Plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der Ring! Sie hatte ihn heute zur Feier des Tages angesteckt. Lynthriell sagte damals, sie solle nur an dem kleinen eingelassenen Stein reiben, wenn sie in Schwierigkeiten steckte und es würde Hilfe herbei eilen. Es war ihre letzte Hoffnung und was hatte sie denn zu verlieren? Mit zitternden Händen streckte sie ihren dünnen Finger aus und betrachtete den Ring. Der Stein war winzig, es war unvorstellbar, wie ihr das helfen sollte. Dennoch rieb sie an dem weißen Steinchen und sofort leuchtete er in einem hellen Blau. Das Licht pulsierte leicht, aber sonst geschah nichts. Die Stimmen wurden lauter und sie vernahm, wie hin und wieder ihr Name gerufen wurde. Die Anderen hatten sie fast erreicht und waren sie erst einmal da, schütze Rakna nur die Angst der Menschen vor diesem verfluchten Baum. Langsam kam Panik in ihr auf. Seit Jahren hatte sie kein Angstgefühl mehr verspürt. Selbst ihre erste Jagd auf einen Mörder hatte sie nicht so erschüttert. Doch heute war es anders. Es war, als wäre sie wieder das kleine Mädchen, ungeschützt und hilflos. Sekunden vergingen und nichts passierte. Sie hatte keine Ahnung, wie die Hilfe aussah, nie zuvor hatte sie von dem Ring Gebrauch gemacht. Wer oder was würde kommen, um ihr zu helfen? Stürzte vielleicht ein großes Tier in die Menge und zerriss ihre Verfolger? Sollte dem so sein, dann hätte sie das nicht gewollt. Auch wenn ihr Volk sie verstoßen hatte, so war es dennoch ihre Heimat. Oder würde der Ring sie mit einem Schleier umhüllen, der sie für die Augen der Anderen unsichtbar machte? Ihre blasse Haut leuchtete förmlich in dem wenigen Licht des Steins. Was richtete dieser magische Ring aus? Rakna wusste es nicht und da er keine weiteren nennenswerten Kräfte zeigte, außer dass er verräterisch leuchtete, sah sie sich schon aufgespießt auf einem Schwert. All ihre Hoffnung hatte sie in Lynthriell gesetzt. Jetzt kam sie sich dumm vor, auf Wesen zu vertrauen, die sie zuvor nur einmal gesehen hatte und von denen sie nicht wusste, was sie im Schilde führten. Rakna bestrafte sich selbst in Gedanken, als plötzlich Schritte direkt vor ihr zu hören waren. Die Füße zweier Männer erschienen zwischen den Ästen. Sie sprachen hastig miteinander.

„Die Älteste hat gesagt, dass sie zum Stamm der Weide vorgedrungen ist. Wir sollen sie schnappen, bevor sie etwas anstellt.“, sagte einer der Männer mit zitternder Stimme.

„Sie ist unter dem Baum? Wer holt sie da raus? Ich werde mein Leben nicht für eine Verräterin aufs Spiel setzen!“ Kaum, dass die empörten Stimmen verklungen waren, hörte Rakna weitere Schritte, und ein dritter Mann sagte verächtlich:

„Ihr Feiglinge seid zu nichts zu gebrauchen! Euer Aberglaube hat euch völlig verweichlicht.“ Daraufhin wurden rechts von Rakna, mit harten Hieben, die Äste zerfetzt und sie sah eine silberne Rüstung aufblitzen. Darauf war ein Eberkopf abgebildet, hinterlegt mit einer Sonne. Barbas machte ebenfalls Jagd auf Rakna und er war nur jämmerliche fünf Meter von ihr entfernt. Im Inneren wusste sie bereits, dass keine Hilfe kam. Es blieb zu wenig Zeit, um sie zu retten. Gleich würde Barbas ihr gegenüber stehen und Rakna entweder entzweihacken oder sie gefangen nehmen. Dann war sie dem Hass ihres Volkes ausgesetzt. Sicher verbrannten sie Rakna als Hexe auf dem Scheiterhaufen, andernfalls warfen sie sie den Hunden zum Fraß vor. Kaum hatte sie diesen Gedanken zu Ende gedacht, stand er schon in voller Größe vor ihr. Ein gehässiges Grinsen breitete sich über sein grausames Gesicht aus und er begann mit geschwollener Brust zu sprechen:

„Na? Wer ist jetzt der Überlegene? Hättest dich nicht so aufblähen sollen. Kein Wunder, dass du die Missgeburt verteidigt hast, bist ja selbst eine. Nun wirst du sterben, Rakna Wolfshaut.“ Mit diesen Worten hob er seinen schweren Morgenstern, ihr blieb nichts, als ihre Hände schützend über ihren Kopf zu halten. Sie schloss die Augen und erwartete schon den dumpfen Aufprall der Waffe zu verspüren, doch stattdessen merkte sie einen starken Arm, der sich von hinten um ihre Taille legte. Die vollkommen verwirrte Rakna hatte das Gefühl, als würde sie durch das Erdreich fallen. Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie gerade noch einen goldenen Schimmer und das Gesicht des entsetzten Barbas. Dann verschwand das Bild und sie schlug klatschend auf schlammigen Boden auf. Der zornige Krieger war verschwunden, das Tor zur anderen Welt hatte sich geschlossen und um sie tobte plötzlich der Wind.

Es regnete stürmisch. Rakna spürte, wie sie nass wurde. Um sie herum bogen sich die Bäume durch die kräftigen Böen des brausenden Sturmes. Der Boden unter ihr war vollkommen durchweicht, was es ihr erschwerte aufzustehen. Ein Blitz zuckte über ihr und für einen winzigen Augenblick erkannte sie den Mann, welcher ihr soeben das Leben gerettet hatte.

„Seid Ihr Rakna Wolfshaut?“, fragte er.

Rakna

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