Читать книгу Das Phantom der Kate Summer - Josephine Katharina Groß - Страница 21
ОглавлениеDer Tag des Wettbewerbs
London 2006
Die Wochen vergingen und ein neues Jahr brach an. Faye und Lucy hatten sich jeden Tag nach dem Unterricht in Lucys großzügigen Gemächern getroffen, um weiter an ihren jeweiligen Choreografien zu arbeiten. Faye würde ein Solo des schwarzen Schwans und Lucy einen Part aus der Nussknacker Suite tanzen. Lizzy kam ebenfalls oft mit, um die beiden zu unterstützen, obwohl sie etwas traurig war, nicht selbst an dem Wettbewerb teilnehmen zu dürfen.
Doch dies war im Moment ihre kleinere Sorge. Noch immer bereitete ihr der Junge von ihrem ersten Tag an der Royal Ballet School schlaflose Nächte. Obwohl er sie seit Neustem nicht mehr zu ignorieren schien, zeigte er noch immer nicht wirklich Interesse daran, sie anzusprechen.
So ein Ärger, dachte sie sich, dass sie so schüchtern war. Wäre sie so impulsiv wie Faye, hätte sie bestimmt schon längst von sich aus die Initiative ergriffen und hätte den Jungen, ohne groß nachzudenken, angesprochen.
Sie traute sich noch nicht einmal, ihrer Schwester von ihren Gefühlen zu erzählen, da sie Angst hatte, sie würde sich über sie lustig machen, obwohl sie irgendwo tief in ihrem Inneren doch ganz genau wusste, dass sie das niemals tun würde. Mehr noch, vielleicht würde Faye ihr sogar helfen, ihn endlich auf sie aufmerksam zu machen, doch hielt irgendetwas sie dennoch davon ab, Faye in ihr Geheimnis einzuweihen.
Dies war eine Sache, die sie ausnahmsweise allein bewältigen musste.
Es war der Abend des Wettbewerbs und Lizzy musste zu Hause bleiben, damit sie keiner im Publikum als Kate Summer erkannte, die doch gerade auf der Bühne stehen musste. Es plagte sie jedoch, allein vor dem Kamin zu sitzen und nichts zu tun. Viel lieber wollte sie weiter trainieren und an sich arbeiten. Das nächste Mal wollte sie es sein, die für einen Wettbewerb aufgestellt wurde. Lizzy war vielleicht nicht so temperamentvoll und schauspielerisch begabt wie ihre Schwester, dafür hatte sie einen ausgesprochenen Ehrgeiz, der sie immer wieder antrieb zu trainieren, um sich die Ziele, die sie sich setzte, erreichen zu können.
Also schlich sie sich an diesem Abend heimlich an der Haushälterin Betty vorbei nach draußen, um allein in einem der Ballettstudios in ihrer Schule zu üben.
Zu ihrem Pech fing es, nachdem sie um die erste Kreuzung gebogen war, in Strömen an zu regnen, sodass sie völlig durchnässt an der Royal Ballet School ankam. Zu allem Überfluss war nun auch noch die Tür verschlossen.
So ein Mist, dachte sie sich. Natürlich war die Schule nicht offen, da Ms Brooks selbstverständlich bei dem Wettbewerb war. Zitternd vor Kälte kauerte sich Lizzys dünner Körper an die Hauswand und sank in die Knie. Die nassen Haare klebten an dem schwarzen Stoffmantel, der dem Mädchen nun auch nicht mehr viel nütze.
Die grauen Straßen Londons waren verlassen. Keine Menschenseele war in Sicht und ausgerechnet jetzt setzte auch noch die Dämmerung ein. Doch plötzlich öffnete sich die Eingangstür der Ballettschule und in ihr stand ein Junge.
Das letzte, was Lizzy sah, bevor sie das Bewusstsein verlor, waren seine leuchtend grünen Augen, die voller Sorge auf sie hinunterblickten.
»Als Nächste ist Faye dran«, murmelte Miranda Brooks Katherine Summer zu. Die beiden alten Freundinnen saßen nebeneinander im Zuschauersaal des Royal Opera House’.
Und da wurde sie auch bereits angekündigt: »Kate Summer tanzt eine Variation des schwarzen Schwans.«
Ein junges Mädchen in einem wunderschön verzierten, schwarzen Tutu kam auf die Bühne gelaufen. Ihre Aura reichte bis in die letzte Reihe und verzauberte auf einen Schlag das komplette Publikum. Als die Musik erklang und Faye zu tanzen begann, wurde diese Magie, die von ihr ausging, immer stärker und stärker, sodass sie, als sie ihr Solo beendete, mit tosendem Applaus belohnt wurde.
Bereits jetzt war den meisten Leuten im Publikum klargeworden, was für eine Persönlichkeit dort auf der Bühne stand. Und auch die russische Jury musste nicht lange überlegen, ob sie Kate Summer in die engere Auswahl aufnahm oder nicht.
Mit einem Strahlen verließ Faye an diesem Abend die große Bühne des ehrwürdigen Theaterhauses und steckte damit fast jeden, sowohl im Zuschauersaal als auch hinter der Bühne, an. Jeden, außer Georgiana Fitzgerald.
»Was machst du denn hier draußen?«, fragte Luke das geradezu unheimlich blasse Mädchen vor seiner Haustür. Wie ein Geist stand sie einfach da und sagte kein Wort. »Du erfrierst ja!«
Lizzy brachte keinen Ton heraus. Sie kannte diese Augen. War er es wirklich, für den sie ihn hielt oder begann sie schon zu fantasieren. Sie warf einen letzten Blick in seine Augen, dann sah sie überhaupt nichts mehr. Ihr Körper fiel nun endgültig in sich zusammen.
Ohne länger zu zögern, nahm Luke das Mädchen in den Arm und brachte es nach oben in die Wohnung, die sich über den Ballettsälen befand. Er setzte sie auf ein Sofa, welches inmitten des kleinen Wohnzimmers stand und entzündete ein Feuer in dem davorstehenden Kamin, um sie aufzuwärmen.
Das Mädchen schien noch immer nicht ganz bei sich zu sein. Vorsichtig zog er ihr den nassen Mantel aus und legte ihn über eine Stuhllehne, ebenfalls vor den Kamin. Er holte eine Decke aus einem Schrank und deckte sie vorsichtig zu. Erst als er ihrem Gesicht das erste Mal richtig nahekam, bemerkte er, wen er dort vor sich hatte. Es war keine andere als Kate Summer. Beziehungsweise eine der beiden Schwestern, die sich das Leben der Kate Summer teilten.
Vorsichtig zog Luke einen alten Hocker vor das Sofa, darauf bedacht, keinen störenden Lärm zu verursachen, um darauf ein Tablett mit brühend heißem Tee abzustellen.
Während er nun wartete, dass das Mädchen wieder zu sich kam, begann er, sich über eben dieses Mädchen den Kopf zu zerbrechen.
Wer war sie? War sie das Mädchen, welches ihn vor einigen Wochen so verzaubert hatte? Falls ja, würde sie sich an ihn erinnern? Was mochte sie wohl über ihn denken? Angst überfiel Luke, dass sie in ihm nur eine erbärmliche Hilfskraft seiner Mutter sehen könnte. Einen ungebildeten Typen, der nicht wie andere Jungs seines Alters die Schulbank drückte, sondern Miranda Brooks persönlicher Hausangestellter zu sein schien. Nie im Leben, dachte sich Luke, würde das Mädchen auch nur einen Gedanken daran verschwenden, er könnte mit Miranda Brooks verwandt sein. Er könnte ihr Sohn sein. Dazu behandelte sie ihn einfach viel zu unpersönlich.
Es stimmte. Für seine Mutter war er nichts weiter als eine Hilfskraft, der großzügigerweise gewährt wurde, in ihrem Haushalt zu leben.
Sie hatte ihn nie gewollt. Das sagte sie zwar nicht, aber Luke wusste, dass es so war. Für seine Mutter war es eine Schande, dass sie ihn bekommen hatte, ein Schmutzfleck in ihrem Lebenslauf.
Seine ersten dreizehn Lebensjahre hatte Luke bei seinem Vater James Jackson verbracht, einem Handwerker, welcher in einem kleinen Dorf nahe London in einer Fabrik arbeitete.
Miranda Brooks war damals, ebenfalls wie ihre Freundin Katherine Summer, auf dem Weg gewesen, eine große Balletttänzerin zu werden. Doch anders als Katherine, hatte sich Miranda nichts dazwischenkommen lassen. Katherine hatte sich für ihre Familie entschieden und das Tanzen an den Nagel gehängt. So etwas kam für Miranda gar nicht in Frage. Sie hatte ihre Prioritäten anders gesetzt. Nach Lukes Geburt, wollte sie ihn in ein Heim geben, sodass niemand je von ihm erfahren würde. Doch als James herausgefunden hatte, dass er Vater werden würde, hatte er darauf bestanden, den Jungen zu sich zu nehmen. Auch wenn er kaum einen Penny besessen hatte.
Trotz der eher bescheidenen Verhältnisse, in denen die beiden gelebt hatten, hatte Luke bei seinem Vater eine schöne Kindheit genossen, bis dieser bedauerlicherweise Opfer eines tragischen Unfalls geworden war. In der Fabrik, in welcher er gearbeitet hatte, hatte es eine Explosion gegeben, wobei James dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen war. Trotzdem hatte es ihn schwer erwischt, sodass er arbeitsunfähig wurde und seine sowieso schon dürftig bezahlte Arbeit nun komplett verloren hatte. Es war ihm unmöglich geworden, für seinen Sohn zu sorgen, weshalb Luke nach dreizehn Jahren das erste Mal auf seine Mutter getroffen war.
Das Schicksal war auch zu ihr nicht gerade gnädig gewesen. Sie hatte sich am Knie verletzt und konnte nicht mehr tanzen. Stattdessen war sie Lehrerin an der Royal Ballet School geworden und bereits kurz darauf Schulleiterin. Widerwillig hatte sie Luke unter der Bedingung bei sich aufgenommen, er würde für seinen Unterhalt in der Schule arbeiten.
All diese Gedanken plagten Luke an jenem Abend. Was wäre, wenn er nicht gut genug wäre für Kate, die in diesem Moment vor ihm auf dem Sofa lag, immer noch ohne jegliche Kraft in ihrem elfenhaften Körper.
Er konnte nur hoffen, dass sie ihn mögen würde, ganz gleich, wie die anderen Schülerinnen der Ballettschule über ihn dachten.