Читать книгу Des Todes langer Schatten - Jost Baum - Страница 10

Rio de Janeiro, 1934

Оглавление

Das Hotel Imperial, ein dreistöckiges, stuckverziertes Jugendstilgebäude, stand am nordwestlichen Rand des Parks Campo de Santona und war das teuerste Etablissement am Platz. In Zimmer 302 der Nobelherberge starrte Josef Kaltenbrunner in den goldumrahmten Spiegel, der über dem Waschbecken aus Marmor in dem riesigen Badezimmer hing. Was er sah, machte ihn noch kränker als er bereits war. Grobe Poren und tiefe Narben, die eine jugendliche Akne hinterlassen hatte, bedeckten sein erhitztes rosiges Gesicht. Sein massiger Körper dampfte von der heißen Dusche, die er genommen hatte. Er spürte, wie eine Welle der Übelkeit in ihm hochstieg. Für einen kurzen Moment stützte er sich auf das Waschbecken und schloss die Augen. Er hatte seit drei Tagen nicht mehr geschlafen, trotzdem hatte sein Gehirn nicht genügend Serotonin produziert, um seine tiefe Depression zu überwinden. Er fühlte nichts mehr, weder Wut über die Ablehnung, die er von Hanna erfahren hatte, noch freute er sich auf die Flüge, die ihnen bevorstanden. Er hatte seit 24 Stunden nichts mehr gegessen, trotzdem verspürte er keinen Hunger. Kaltenbrunner drehte sich um, ging ein paar Schritte und hielt sich am Türrahmen des Bades fest, als er merkte, wie seine Knie weich wurden. Er holte tief Luft und taumelte die letzten Meter zu seinem Bett, auf das er sich schwer atmend fallen ließ. Kaltenbrunner begann zu zittern, er rollte sich zusammen wie ein Embryo und zog die Bettdecke über seinen nackten Körper. Er durfte jetzt nicht liegen bleiben und einschlafen. Ihm blieb nur noch eine halbe Stunde, bis ihn der Chauffeur mit dem Horch abholte und zu dem Treffen mit Duncan bringen würde. Kaltenbrunner schloss die Augen, sein Kreislauf begann sich zu stabilisieren. Langsam schob er die Bettdecke beiseite und setzte sich auf. Er öffnete die oberste Schublade des reich mit Intarsien versehenen Nachttisches, fand die braune Arzneimittelflasche mit dem Lithiumcarbonat und entkorkte sie. Er kippte eine Messerspitze des weißen Pulvers auf seine Handfläche und leckte die bitter schmeckende, körnige Substanz ab. Das Zeug würde ihn noch umbringen, dachte Kaltenbrunner, aber es war das einzige Mittel, das er kannte, das gegen seine Depressionen half. Wenig später setzte die Wirkung des Pulvers ein. Er erhob sich mühsam, ging zu dem großen Mahagonischrank, holte die taubenblaue Ausgehuniform eines Leutnants der Reichsluftwaffe hervor und begann sich anzuziehen. Bevor er die Uniformjacke überstreifte, steckte er seine achtschüssige Krieghoff P 08 in das Schulterhalfter. Die Selbstladepistole, Kaliber 7.65 Parabellum mit dem kurzen Lauf, passte perfekt in seine Hand und er hatte auf dem Schießstand seine Treffsicherheit bewiesen. Kaltenbrunner setzte die Schirmmütze mit dem Reichsadler auf und prüfte sein Aussehen ein letztes Mal in dem Badezimmerspiegel. Bis auf die zernarbte rosige Haut und die blutunterlaufenen Augen sehe ich doch ganz passabel aus, dachte Kaltenbrunner grimmig, bevor er die Suite verließ.

* * *

Dokumenteneinschub 2/ Mitschrift/ Bericht des Zimmermädchens Dolores Rosa, Alter 21/ Hotel Imperial/ Polizeistation 433/ Teniente Baptista/ Gestapokarte:

Teniente Baptista, ich habe diese Fliegerin, diese junge Deutsche beobachtet, wie sie sich angezogen hat.

Santo Deus, sie trug einen schwarzen Hosenanzug, mit einem weißen Hemd und einer gestreiften Krawatte. Ich habe diesen Film gesehen, in dem kleinen Kino in der Calle Quatre Septembre, mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle. »Die blonde Venus« hieß der. Dieses Mädchen soll sich schämen, so läuft man nicht rum. Wir sind Frauen, keine Männer. Sie wirkte kalt und arrogant auf mich, ich glaube nicht, dass sich ein Mann für sie begeistern wird. Sie verließ ihre Suite so gegen 19:30 Uhr, ich habe danach noch ihr Zimmer aufgeräumt. Sie hat ihre Fliegermontur einfach auf dem Boden liegen lassen. Außerdem habe ich eine Pistole gefunden, so eine kleine silberne, wie sie Frauen tragen. Ich habe sie nicht berührt, nur das Waschbecken geputzt, noch einmal nach dem Bett geguckt und habe dann schnell das Zimmer verlassen. Das ist alles, Teniente, was ich weiß …

In der Bar Tropical wurde jeden Abend Tango gespielt. Die fünf Mitglieder des Bajofondo Tango Club Ensembles trugen weiße Leinenanzüge und standen auf einer Bühne, die seitlich des Tresens aufgebaut war. Sie spielten »Milonguero viejo« von Carlos Di Sarli und obwohl es noch früh am Abend war, füllte sich die Bar mit Hotelgästen. Die Damen posierten in geschlitzten Kleidern mit hochhackigen Schuhen, die Herren glänzten in schwarzen Anzügen mit weißen Rüschenhemden. Das Tropical war zu einem bevorzugten Treffpunkt der eingefleischten Tangotänzer geworden. Zwischen der Bühne und einer Gruppe von kleinen runden Tischen, an denen jeweils vier Stühle standen, gab es eine Tanzfläche, groß genug, dass vier oder fünf Paare eng umschlungen tanzen konnten. Duncan liebte dieses Etablissement, das für ihn, je länger er in Brasilien lebte, zu einer Art zweitem Wohnzimmer geworden war. Luiz Diaz, der Pianist, und auch Alberto Accina, der Sänger und Bandoneonspieler, setzten sich oft nach ihren Auftritten an seinen Tisch und tranken einen letzten Whiskey mit ihm, bevor sie ihre Instrumente einpackten und in der Morgendämmerung nach Hause gingen. Auf den Tischen standen Kerzen und unter den Decken hingen verstaubte Kristalllüster, die den Raum in ein schummriges Licht tauchten.

Als Hanna Reitsch in ihrem Hosenanzug die Bar betrat, stockten für einen kurzen Moment die Gespräche und es schien, dass die Tänzer für einen Takt lang in ihrer eng umschlungenen Position verharrten. Kaltenbrunner betrat kurz nach Hanna das Tropical und blickte sich mit finsterer Miene suchend um. Als er Duncan und Hanna an einem der Tische in der Nähe der Tanzfläche entdeckte, ging er mit schnellen Schritten auf die beiden zu.

Er setzte sich ungefragt, schnipste mit den Fingern und bestellte einen Kaffee und einen Cognac, als der Kellner herbeigeeilt kam.

»Für mich dasselbe«, sagte Hanna Reitsch und blickte Duncan erwartungsvoll an.

»So, dann sind Sie also schon lange hier und kennen sich mit der Thermik aus«, begann sie und lächelte.

»Wie verdient ein Engländer hier eigentlich sein Geld?«, warf Kaltenbrunner ein. Es klang so, als sei er auf Streit aus.

»Oh, … ich … ähem … beziehe nur das Gehalt eines kleinen Angestellten«, erwiderte Duncan bescheiden und lächelte dabei Hanna zu. War das ein plumper Versuch abzuklären, ob er bestechlich war, wollte er ihn aus der Reserve locken?

»Können Sie mir verraten, wie das Ganze morgen abläuft …«, versuchte Hanna, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben.

»Ich habe uns die Winde für 10 Uhr reserviert. Das Gerät ist auf einem alten Dodge Pick-up montiert und wird von Major Fontanelle nur an besonders gute Kunden vermietet. Das ist unser selbst ernannter Platzwart, der ein Auge auf alles hält, was nicht niet- und nagelfest ist. Sie haben ihn ja bereits kennen gelernt«, versuchte Duncan zu scherzen.

»Wie kommt das, dass Ihnen Ihre Arbeit Zeit lässt, mit uns in die Lüfte zu steigen?«, ließ Kaltenbrunner nicht locker.

»Ich bin mit meinem Chef, dem Handelsattaché Sir Donovan übereingekommen, dass ich mir den Tag ein wenig selber einteilen kann. Ich bin dann abends länger im Büro«, entgegnete Duncan und ärgerte sich über sich selbst, dass er begonnen hatte, sein kleines Freizeitvergnügen zu rechtfertigen.

»Und was heißt das?«

»Ach Josef, du bist so langweilig. Kommen Sie Duncan, lassen Sie uns tanzen«, sagte Hanna, stand auf und schritt zur Tanzfläche, ehe er sich wehren konnte.

»Wo haben Sie Tango tanzen gelernt?«, fragte er sie, als sie mit ihm alleine auf der Tanzfläche stand.

»Beim Tanztee«, grinste sie, »meine Freundinnen von der Kolonialen Frauenschule in Rendsburg haben heimlich Tangoplatten gehört. Wenn die jungen Offiziere mit den feschen Uniformen kamen, haben wir ihnen die ersten Tanzschritte beigebracht«, lachte sie.

»Das hört sich ja sehr deutsch an, ›Koloniale Frauenschule‹«, erwiderte Duncan skeptisch. Seine Hand tastete nach Dingen, die ihn eigentlich nichts angingen.

»Ist es auch, ich bin froh, dass ich da nicht mehr hin muss«, sagte sie, nahm ihn bei der Hand und vollführte eine perfekte Halbdrehung im Takt der Musik. Duncan nahm das Angebot an. Rasch legte er eine Hand auf ihre zierliche Hüfte, bevor sie sich wehren konnte. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie Kaltenbrunner aufstand und Richtung Toilette marschierte.

»Günstige Gelegenheit«, hauchte sie ihm ins Ohr und ließ danach ihre Zunge um sein Ohrläppchen kreisen. Sie nahm ihn bei der Hand und zog ihn von der Tanzfläche. Duncan war verwirrt und gleichzeitig wie elektrisiert. So etwas hatte er noch nie erlebt. Bisher war er über einen flüchtigen Kuss am Ende einer Tanzstunde noch nicht hinausgekommen.

»Peter, ich habe ein Attentat auf dich vor«, grinste sie und zwinkerte ihm zu. Sie eilte in Richtung Ausgang und winkte ihm, ihr zu folgen. War das in Deutschland inzwischen üblich und sprach man so mit den Männern in der ominösen Frauenschule, dachte er irritiert, bevor er ihr mit schnellen Schritten folgte. War das die Gelegenheit, auf die er gewartet hatte, um zu erfahren, welchen Auftrag diese Segelflieger in Brasilien zu erfüllen hatten?

Als sie das Foyer des Hotels erreicht hatten, blickte sich Hanna hastig um. Sie eilte zu einer Treppe, die nach oben führte und bedeutete ihm, ihr zu folgen. Immer noch ratlos, lief er ihr hinterher. Als sie den fünften Stock erreicht hatten, eilte sie den Flur entlang bis zu einer Tür, die einen Spalt weit geöffnet war. Sie hastete hinein, drehte sich um und zwinkerte ihm zu.

»Komm schon«, lachte sie, nahm ihn bei der Hand und begann ihn wild zu küssen.

Duncan ließ die Tür hinter sich ins Schloss fallen. Dann traf ihn ein Schlag am Hinterkopf, der ihn zu Boden warf. Er verspürte einen rasenden Schmerz, bevor er in Ohnmacht fiel.

Kaltenbrunner öffnete die Tür zum Badezimmer, blieb stehen, die Türklinke in der Hand, und lauschte. Niemand da. Das fahle Licht einer einzigen Glühbirne tauchte den gekachelten Raum in ein schummriges Halbdunkel. Er trat an das Waschbecken und öffnete den Wasserhahn. Schnell wusch er sein Gesicht und rieb es mit einem Uniformärmel trocken. Mit zitternden Händen fahndete er nach seinem Lithiumcarbonat und wurde fündig. Er entkorkte das Fläschchen, und schüttete sich eine Messerspitze des weißen Pulvers auf seinen Handrücken, den er genüsslich ableckte. Die Wirkung setzte sofort ein, er spürte, dass er ruhiger wurde und die Welt nicht mehr wie durch einen Nebel wahrnahm. Die Geräusche waren nun nicht mehr nur ein fernes Meeresrauschen und endlich breitete sich auch der Schmerz aus, den er sich erhofft hatte, als er sah, dass Hanna mit diesem Engländer tanzte. Er war jetzt nicht mehr die gut geölte Maschine, sondern für ein paar Stunden wieder ein Mensch, der die Welt durch ein Vergrößerungsglas wahrnahm, bereit zu neuen Taten.

Duncan musste einige Stunden so gelegen haben. Als er aus der Bewusstlosigkeit erwachte, drang das trübe Licht eines regenverhangenen Morgenhimmels durch die kleine Dachluke, die sich über seinem brummenden Schädel befand. Er schüttelte sich und sofort wurde ihm speiübel. Er schloss die Augen und wartete ein paar Sekunden, bevor er sich traute, sie wieder zu öffnen. Mühsam setzte er sich auf und fuhr sich mit seiner rechten Hand über den Hinterkopf. Er spürte eine Beule in der Größe eines Hühnereis. Dann stemmte er sich hoch und öffnete die Tür der Dachkammer. Vorsichtig lugte er nach rechts und links. Trotz seiner Schmerzen musste er lächeln. Er stellte sich vor, dass er der heimliche Liebhaber der Hausherrin sei, der Angst hatte, in flagranti ertappt zu werden.

Niemand nahm Notiz von ihm, als er das Tropical durch den Hintereingang verließ. Er hatte einen Brummschädel wie nach einer durchzechten Nacht. Während er sich an den Hausmauern entlangtastete, wurde ihm immer wieder schwarz vor Augen. Was war er doch für ein dummer Esel, dass er glaubte, dass ihn Hanna verführen wollte, als sie ihn in die Dachkammer lockte. Wer hatte ihn dann niedergeschlagen, und was noch viel wichtiger war, warum? Vielleicht Kaltenbrunner, der eifersüchtig war und selber ein Auge auf das Mädchen geworfen hatte? War das so üblich in Nazideutschland, dass man den Nebenbuhler zusammenschlug, dort, wo man sich bei KdF-Ausflügen traf und nach einem romantischen Abendessen am Lagerfeuer mit dem feschen blonden Offizier anbändelte, um mit ihm rassereine Kinder zu zeugen? Noch vor wenigen Tagen hatte er mit Harry, dem Wetterfrosch vom Flughafen, darüber diskutiert, als er ihm einen Artikel aus der »Times« vorgelesen hatte, der von einem Reporter verfasst worden war, der diese seltsamen Riten bei seinem Aufenthalt in Berlin erforscht hatte. Nach außen hin gab sich das Reich moralisch rein wie eine Jungfrau, aber im Inneren brodelte und gärte es. Er schämte sich jedenfalls zutiefst, dass er sich auf dieses Spiel eingelassen hatte. Er wollte so schnell wie möglich vergessen, was in dieser Dachkammer geschehen war. Eine Dusche und ein Cognac würden ihm dabei helfen, die Dinge wieder ins Lot zu rücken, da war er sich sicher. Und dann musste er ja um 10 Uhr schon am Flugplatz sein, immerhin hatte er noch gut zwei Stunden Zeit bis dahin.

Die ersten Sonnenstrahlen spiegelten sich in den Pfützen, die sich auf der Calle Senhor dos Passos, gebildet hatten, wo er ein Zimmer unter dem Dach einer gemütlichen Pension bewohnte, die Señora Caliente gehörte. Eine resolute Dame im besten Alter, die besonderen Wert darauf legte, dass ihr »keine Klagen kamen«. Gemeint war Polizeibesuch, lautes Grölen im Treppenhaus, wenn man zu viel getrunken hatte oder Damenbesuch, bei dem man nicht nachweisen konnte, dass es sich um die Cousine handelte. Völlig durchnässt und müde öffnete er leise die Haustür und kletterte, um niemanden zu wecken, auf Zehenspitzen die Treppe hinauf. Er vermied die Holzstufen, die knarrten, und hielt sich an dem grellrot gestrichenen Geländer fest, das im ersten Licht der Morgensonne glänzte. Oben angekommen, verharrte er einen Moment und lauschte in die Stille. Nichts, niemand, keiner hatte ihn gehört. Er nestelte den Zimmerschlüssel aus der Tasche seines Leinenjackets und suchte das Schlüsselloch. Was war das, seine Zimmertür stand einen Spalt weit offen? Verwundert trat er ein und suchte nach dem Lichtschalter, als ihn erneut ein harter Schlag in den Nacken zu Boden warf. Wie glühende Lava breitete sich der Schmerz in seinem Körper aus. Er krümmte sich zusammen, als ihn ein Stiefeltritt in die Niere traf. Jemand stülpte ihm eine Mütze über den Kopf und hielt ihm die eiskalte Mündung einer Pistole an die Stirn.

»Und jetzt, mein Freund, wirst du auspacken …«

»Wie meinen Sie das, sind Sie verrückt geworden, ich habe Ihnen nichts getan, Sie müssen mich verwechseln«, röchelte er.

»Shut up«, erwiderte die Stimme mit starkem Akzent. »Zeit zu singen, mein Vögelchen, wie lautet die Verschlüsselung für eure Funksprüche?«

Er hatte keine andere Wahl und tat ihm den Gefallen.

Des Todes langer Schatten

Подняться наверх