Читать книгу Des Todes langer Schatten - Jost Baum - Страница 7

Graal-Müritz, 23. November 1992

Оглавление

Duncan saß in seinem Rollstuhl und beobachtete das Meer aus dem zweiten Stock eines windschiefen Kastens. Verzweifelt, wie ein Schiffbrüchiger an seinen Rettungsring, klammerte sich das Hotel an den Kamm einer vom Sturm zerzausten Düne, deren strahlend weißer Sand das Auge des Betrachters blendete. Seine grünlich graue Fassade, ein Relikt aus der Honecker-Ära, trotzte seit Jahrzehnten den Windböen, die über die Ostsee jagten. Auch an diesem Tag peitschte ein Sturm die See und blies den Meerschaum auf den Sand. Wellen leckten den Strand bis an den Rand der Dünen. Die heiseren Schreie der Möwen, die über dem Wasser kreisten, übertönten das Donnern der Wogen. Zwei Urlauber, dick vermummt, stapften über den nassen Sand, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Schals festgezurrt. Ihr Ziel war die neue Seebrücke, die die Bäderverwaltung in Graal-Müritz angeregt hatte, um mehr Touristen aus dem Westen der Republik anzulocken. Die alte Brücke war 1941 einem schweren See- und Eisgang zum Opfer gefallen. In der alten DDR war niemand auf den Gedanken gekommen, den kurenden Genossen und den blassen Schulkindern aus den verräucherten Städten einen Bade- und Angelsteg zu gönnen. Vorbei die Zeiten, als Künstler wie Lionel Feininger oder Erich Kästner hier das anregende Klima genossen hatten. Nach der Wende war man auf die Rentner und die wenigen Familien angewiesen, die hier preiswert Urlaub machen konnten.

Zwei Dauergäste hausten im dritten Stock des Gebäudes. Duncan legte das Fernglas auf seinen Schoß, umklammerte die Räder seines Rollstuhls, wendete das Gefährt und ließ sich in die Mitte des Zimmers gleiten. Petersen, der Mann, mit dem er den Raum im »Haus Meerblick« teilte, stöhnte im Halbschlaf auf. Ein Speichelfaden tropfte von seinem Mund auf die Bettdecke und wurde von jedem Atemstoß hin und her geweht, als sich die Tür öffnete und hinter Anke, dem Zimmermädchen – einer drallen polnischen Blondine – ein kleiner drahtiger Mann, mit einem Trenchcoat bekleidet, den Raum betrat, Chaim Miller. Bis dahin roch es wie immer, nach abgestandenem Essen, Desinfektionsmittel und dem sauren Gestank nach menschlichen Ausdünstungen, doch jetzt mischte sich der herbe Duft eines männlichen Aftershaves in die Melange der Gerüche.

Chaim Miller hatte die kurzen schwarzen Haare nach hinten gekämmt und mit Gel gebändigt. Jetzt glänzten sie wie der Lack eines Steinway-Flügels. Sein federnder Gang strotzte vor Energie; die Hände in den Taschen des Mantels vergraben, betrat er den Raum und setzte ein triumphierendes Lächeln auf, als er Duncan entdeckte.

»Hallo Mr. Mühlbauer, schön Sie zu sehen nach all den Jahren«, sagte er mit leiser Stimme und einem nicht zu überhörenden englischen Akzent. Petersen furzte im Schlaf und drehte sich auf die Seite.

Anke starrte Miller verständnislos an: »Ich dachte, Sie wollten zu Mr. Duncan?« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab.

»Ein alter Scherz zwischen uns«, rief ihr Duncan hinterher, wobei er fieberhaft überlegte, wo er dem Mann schon einmal begegnet war.

Chaim Miller setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und erhob sich, als Anke mit einem Stapel frischer Bettwäsche zurückkehrte.

»Zeit zum Windeln wechseln, Petersen«, grinste sie und schlug die Bettdecke zurück. Sofort war der Gestank von abgestandenem Urin und Schweiß in der Luft. »Na, das wird sich aber lohnen«, sagte Sie und beugte sich über dessen Unterleib.

»Können die Herren nicht …«, jammerte Petersen und versuchte, die Bettdecke wieder zurückzuziehen.

»I wo, Schätzchen, ich denke, dass die beiden Herrschaften schon einmal vertrocknetes Fleisch gesehen haben, nicht wahr?«, gackerte sie und öffnete mit einem heftigen Ruck die prallvolle Windel. Miller wendete sich ab.

»Kommen Sie, Mühlbauer, ich schiebe Sie auf den Balkon«, sagte er und öffnete die Tür zu einem kleinen Abtritt, auf dem gerade Platz für den Rollstuhl und einen kleinen Hocker war.

»Oder was halten Sie davon, wenn ich Sie mit ihrem Rollstuhl in den Speisesaal fahre«, schlug Miller vor und packte schon die Griffe des Gefährts, ehe sich Duncan wehren konnte.

»Nehmt mich mit, ihr Pfeifen«, grunzte Petersen, der inzwischen eine frische Windel trug, voller Tatendrang.

»Warum nicht?«, grinste Miller, »vielleicht sollten Sie sich in Schale werfen, bevor wir zu Tische schreiten.«

»Ach was«, erwiderte Petersen genervt, »ich zieh mir den Bademantel über …«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Anke. »Gehen Sie beide schon mal voraus und ich werde dafür sorgen, dass sich Petersen was Ordentliches anzieht.«

»Zicke«, zischte Petersen, während Miller Duncan aus dem Zimmer schob.

Des Todes langer Schatten

Подняться наверх