Читать книгу Cardiff am Meer - Joyce Carol Oates - Страница 11
4.
ОглавлениеAm folgenden Tag kommt die Post von Lucius Fischer an. Clare erfährt, dass sie knapp fünf Hektar Land, ein Haus mit Nebengebäuden in der Post Road 2558, in Ashford County, Maine, geerbt hat.
Grundbesitz! Besser als bares Geld, das keinen bleibenden Wert hat; Grund und Boden, das ist etwas, das Clare besitzen kann.
Viele Male überfliegt sie den Begleitbrief des Rechtsanwalts, doch sie kann keine neuen Informationen entdecken. Keinen persönlichen, freundlichen Nachsatz – Herzlichen Glückwunsch, Miss Seidel!
Wirklich nur ein ordnungsgemäßer, formeller Brief auf steifem Papier mit dem Briefkopf
ABRAMS, FISCHER, MITTELMAN, & TROTTER.
Fischers Unterschrift ist nahezu unleserlich. Sie hatte einige Tage zuvor solch eine merkwürdige, innere Nähe zu ihm verspürt …
So haben wir uns kennengelernt. Durchs Telefon.
Durch das Testament meiner Großmutter.
Lächelt bei dem Gedanken daran, wie diese Geschichte aus einem zukünftigen Blickwinkel heraus erzählt werden könnte. Wie sich ein Leben (zufällig) mit einem anderen Leben kreuzt, und sich beide Leben dadurch für immer verändern.
… es war purer Zufall! Das Telefon klingelte, ich ging dran, und Lucius war am anderen Ende und sagte: Hallo? Spreche ich mit Clare Seidel?
Hat mein Leben vollkommen auf den Kopf gestellt. Und seins.
Clare sieht den Sommer an der Atlantikküste. Glasfront mit Blick auf den Ozean. Große Hemlocktannen, eine kurvige Landstraße. Geröllstrände. Herandonnernde, graublaue Atlantikwellen, selbst im Sommer zu kalt zum Schwimmen. Unablässiger Wind.
Sieht sich in weißen Kleidern, eine traumhafte Schönheit aus einem Aquarell von Winslow Homer. Schreitet die Steinstufen zum Strand hinunter. Hinter ihr eine geheimnisvolle Figur …
Fast kann Clare das Gesicht des Mannes erkennen. Aber in dem Moment, in dem sie es anstarrt, löst es sich nach und nach auf. Verschwimmt hinter Tränen.
Nein: Sie wird das Anwesen verkaufen. Wenn sie kann.
Niemals wird sie draußen in Ashford County, Maine, leben. Ihr Job verlangt, dass sie in großen Städten zu Hause ist, immer in der Nähe von Forschungsinstituten.
Fischer hat Clare darüber informiert, dass sie dreißig Tage Zeit hat, um ihre Ansprüche im Nachlassgericht von Ashford County geltend zu machen. Sie fragt sich – wie viel ist das Anwesen wohl wert? Lohnt sich die ganze Mühe?
Clare könnte das Geld gut gebrauchen. Sie ist dreißig Jahre alt und hat immer nur als Aushilfe gearbeitet, Zeitverträge, an der Uni. Wenig Geld auf dem Sparbuch. Sie sah sich immer gerne als Mensch, der von materiellen Dingen unabhängig ist. Obwohl sie eine Schwäche für schöne Dinge hat, muss sie diese nicht besitzen.
Landschaften, Kunst. Musik. Darin kann man Vergnügen finden, ohne sie zu besitzen.
So wie man auch Vergnügen an Menschen finden kann, an Liebhabern – ohne dass sie einen besitzen.
Sie wollte nie heiraten, geschweige denn Kinder haben. Schreiende Babys erfüllen sie mit Schrecken. Kreischende Kinder erfüllen sie mit Panik. Ein (ehemaliger) Liebhaber beschwerte sich, dass Clare häufig »wegdriftete«, wenn er mit ihr zusammen war: Er wusste nie, wo zum Teufel ihre Gedanken waren, aber er konnte fühlen, dass sie nicht bei ihm waren.
Clare zuckt noch immer zusammen, wenn sie nur daran denkt. Sie bereut es, eine andere Person verletzt zu haben.
In deinem Netz. In deinem Kokon. Pass auf, wen du hereinlässt.
An jedem Ort, an dem sie lebte, nachdem sie das Haus ihrer Eltern verlassen hatte, hat sie sich einen kleinen Freundeskreis aufgebaut, in dem aber keiner den anderen kennt. Das ist Clare wichtig – dass ihre Freunde sich nicht gegenseitig kennen. Und jedes Mal, wenn sie in eine andere Stadt zieht, lässt sie die Beziehung zu diesen Freunden einschlafen.
Wenn allerdings einer ihrer Freunde den Kontakt zu ihr nicht pflegt, dann ist sie tief verletzt, beunruhigt.
Ihre Gefühle anderen gegenüber sind kurzlebig, aber kraftvoll. Wie ein Feuer, das heiß auflodert und dann schnell abkühlt.
Fühlen andere genauso? Es gab Männer – es gab Frauen –, die Clare mochten, von denen sie sich aber rasch zurückzog.
Seit sie erwachsen ist, hatte Clare eine ganze Reihe von Liebhabern. Genauso wie eine ganze Reihe von Freunden. Viel mehr Freunde als Liebhaber, aber viel mehr Liebhaber als Verwandte. Bis jetzt.
»Ach, verdammt. Was soll’s?«
Spontan entscheidet sie, eine Flasche Wein zu öffnen. Chardonnay, den sie vor einigen Wochen gekauft hatte, um Freunde zum Essen einzuladen, doch es war etwas dazwischengekommen. Erst mal etwas feiern, denkt Clare.
Die Nerven beruhigen. Ausnahmsweise.
Noch nie hat Clare allein getrunken. Allein trinken ist eine sehr bewusste Entscheidung. Hat etwas Trauriges. Sie leert ihr Glas, wie aus Trotz.
Es ist Zeit, zu Hause in St. Paul anzurufen. Ihr Plan ist es, zu einer Zeit anzurufen, zu der ihr Vater höchstwahrscheinlich nicht zu Hause ist, ihre Mutter aber schon.
Nicht, dass Clare Walter nicht liebt. Aber Gespräche mit ihrem (Stief-)Vater sind manchmal etwas heikel. Clare konnte mit Hannah immer viel offener sprechen, herzlicher als mit Walter, und doch konnte sie auch mit Hannah (so scheint es Clare) nie reden ohne dieses Gefühl von – nennt man es Unbehagen …?
Clare hat Glück, Walter ist nicht zu Hause. Hannah nimmt schon nach dem ersten Klingeln den Hörer ab, sie scheint ungeduldig, einsam.
Clare spürt einen Hauch von Vorwurf in Hannahs Begrüßung. Clare versucht sich zu erinnern – ist sie ihrer Mutter einen Anruf schuldig? Hat sie vergessen zurückzurufen, nachdem Hannah eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter zurückgelassen hat? Es passiert öfter, dass Clare versehentlich Hannahs Nachrichten in ihrer Sprachbox löscht.
Clare will Hannah anrufen, um ihr die guten Nachrichten mitzuteilen, aber irgendwie kommt es nicht dazu. Stell dir vor, Mom, ich habe gute Nachrichten! – diese fröhlichen Worte bleiben aus.
Clares Worte gleiten vielmehr einfach so dahin, dies und das aus ihrem eigenen (privaten) Leben. Sie ist dankbar, dass Hannah sie mit einem Haufen Klagen über einen Erzfeind bei der Arbeit überschüttet, ein Kollege, der – wie es Clare scheint – Hannah Seidel schon seit Jahrzehnten das Leben schwermacht. Es macht ihr nichts aus, so wie es ihr früher etwas ausgemacht hat, dass Hannah sich nicht daran erinnert, ihr das alles schon einmal erzählt zu haben. In einer Familie sind alte Nachrichten gute Nachrichten, denkt sie in einem Anflug von Witz.
Dann hört Clare sich selbst eine ungewöhnliche Frage stellen: Weiß Hannah, ob Clares biologische Eltern noch leben? – eine Frage, die ihr Gespräch zu einem abrupten Ende führt.
Biologische Eltern. Ein klinischer und liebloser Begriff, aber doch noch besser (denkt Clare schuldbewusst) als leibliche Eltern.
»Aber – warum fragst du das, Clare – jetzt?«
Hannahs angestrengte, forcierte Stimme schaltet einen Gang zurück. Clare kann fast sehen, wie sich im weit entfernten St. Paul, Minnesota, ihre Augen verengen, ihr Mund schmal wird, wie eine böse Wunde.
Clare sagt, ihr lag diese Frage schon lange auf den Lippen. Sehr lange …
»Aber warum?«
Warum denn, du hast doch uns. Warum interessierst du dich für sie!
»Warum? Das ist doch wohl eine ganz natürliche Frage … Ich bin dreißig Jahre alt.«
»Dreißig Jahre alt! Was hat das denn damit zu tun?« Hannah ist wirklich fassungslos, ungehalten.
»Das heißt – ich bin kein Kind mehr …«
»Clare! Das haben wir dir doch alles erklärt. Vor vielen Jahren schon. Erinnerst du dich nicht?«
»Ich – ich – ich glaube nicht, dass ich mich erinnere …«
Clare versucht sich zu erinnern – an was genau, weiß sie nicht.
»Wir haben selbst nur sehr spärliche Informationen bekommen, Clare. Und es ist so lange her. Länger als ein Vierteljahrhundert, seit du in unser Leben getreten bist, aus dem Unbekannten.« Hannahs Worte haben einen vorwurfsvollen Unterton, so als wäre das alles Clares Schuld.
Aus dem Unbekannten. Ein bohrender Stachel.
»Deinem Vater und mir wurde nur sehr wenig über dich mitgeteilt, und nichts an diesen Informationen hat sich in den vergangenen Jahren verändert. Alles, was wir wissen, haben wir dir vor vielen Jahren erzählt.«
Clare hört zu, nachdenklich. Sie bringt es nicht übers Herz, zu sagen: Aber ich erinnere mich nicht. Ihr müsst es mir noch mal erzählen. Bitte!
»Ich habe mich nur gefragt, ob ihr wisst – ob sie noch leben. Oder – ob …«
Hannahs Stimme tönt jetzt laut in der Leitung, aber belegt: »Wir haben nie erfahren, ob es sie gab, oder nur eine sie – eine Mutter. Ein Autounfall – sagte man uns –, aber Einzelheiten darüber haben wir nie erfahren. Keine Ahnung, wie alt deine biologischen Eltern damals waren. Du musst verstehen, Clare, es ist so lange her, und man hat damals anders über diese Dinge gedacht. Ein Kind zur Adoption freizugeben, war wie eine Schmach, und ein Kind zu adoptieren war ebenfalls damit behaftet, man hatte sozusagen Mitschuld an der Schmach, man war so etwas wie ein Mittäter, wenn man seinen Nutzen aus dem Unglück anderer zog. Wir mussten mithilfe einer katholischen Vermittlungsagentur bei der Planned Parenthood Agency in Minneapolis vorsprechen. Diese Organisation bestand darauf, gegenseitige Anonymität zu sichern, wenn eine der beiden Seiten dies wünschte – die Adoptiveltern oder die – anderen …«
Clare ist verblüfft über Hannahs Ausbruch. Niemals zuvor hat ihre Mutter so freiheraus mit ihr gesprochen. So langsam kommt ihre Erinnerung zurück.
Anonymität. Versiegelte Dokumente.
Frag nicht. Sinnlos.
»Mehr konnten wir nicht tun, Clare. Wir konnten nicht auf weitere Informationen drängen, auf die wir gar keinen Rechtsanspruch hatten. Wir hatten, ehrlich gesagt, gar keine Ahnung, was wir da taten – ein Baby zu adoptieren war vollkommen neu für uns. Das war eine sehr emotionale Zeit damals. Wir hatten erwartet, dass wir einen Säugling bekämen – natürlich – aber wir waren dann sehr dankbar dafür, dich zu bekommen …«
Hannahs Stimme verstummt allmählich, so als ob sie erst im Nachhinein merkt, was sie gerade sagt.
»Clare? Wir wollten immer nur das Beste für dich.«
Was sollte denn wohl diese Bemerkung? Was war denn das Beste für – wen?
Ganz benommen versichert Clare ihrer Mutter: Ja, sie versteht das. Natürlich.
Jeder möchte doch das Beste für ein verwaistes Kind, das man nie zuvor gesehen hat.
Clare merkt, dass sie das Gespräch besser beenden sollte. Sie bringt Hannah gerade vollkommen aus der Fassung. Doch sie ist nicht in der Lage, das Gespräch zu beenden. Ihre Neugier ist wie ein Wahnsinnsdurst, der ihren Mund austrocknet. »In welchem Teil der USA haben sie denn gelebt, weißt du das? Meine Eltern.«
Meine Eltern. Das war ein Fehler, Clare hat sich versprochen.
Hannah antwortet barsch, dass sie das nicht wisse. Und wenn sie es je gewusst haben sollte, dann kann sie sich nicht mehr daran erinnern.
Dann wird ihre Stimme wieder weicher: »Also, es könnte sein – ich habe so eine Ahnung, dass sie in New England gelebt haben.«
»Nicht im Mittleren Westen?«
»Warum ist es denn so wichtig, wo sie herkommen? Hat etwa jemand versucht, mit dir Kontakt aufzunehmen?«
»Nein!« Clare antwortet wie aus der Pistole geschossen. »Aber kannst du mir vielleicht eine Kopie meiner Geburtsurkunde schicken, Mom? – Das wäre sehr lieb.«
In Clares Alter klingt Mom als Kosename recht merkwürdig. Schon als kleines Mädchen hatte Clare Schwierigkeiten gehabt, Mom klar und deutlich auszusprechen.
Dad, wie sie ihren Vater nannte, war nicht so schwierig. Auch wenn sie von Kindesbeinen an, bestärkt durch (das Lächeln) ihrer (Stief-)Eltern diese Kosewörter benutzen sollte, waren sie ihr eher unangenehm.
Auch ihren Liebhabern hat sie niemals Kosenamen gegeben. Darling, Liebling. Mein Liebes.
»Du besitzt keine Kopie deiner Geburtsurkunde? Wie merkwürdig.«
Die offiziellen Dokumente bewahrt Clares Vater im Aktenschrank seines häuslichen Arbeitszimmers auf, gesammelt in fein säuberlich markierten Ordnern. Clare hat von ihrem (Stief-) Vater diesen gewissen Fanatismus in Sachen Ordnung, Klarheit, Eingrenzung geerbt. Im Zweifelsfall, abheften. Wegheften.
Clare überkommt urplötzlich ein Schamgefühl. Sie hat ihr Elternhaus nie richtig verlassen und ihre persönlichen Dinge, Dokumente an sich genommen – nie ihr eigenes Heim errichtet, in ihrem unsteten Leben.
Ein Vagabundenleben im Kopf. Ein undefiniertes Leben, wie ein Polaroidabzug, der nur teilweise ausgefüllt ist.
»Vielen Dank, Mom! Die brauche ich für – die Krankenversicherung …«
Keine offensichtliche Lüge, denkt sich Clare. Hannah wird niemals darauf kommen: dass Clare die Geburtsurkunde dem Nachlassgericht in Cardiff, Maine, vorlegen muss.
Direkt vor ihrer Fensterscheibe hat sie die ganze Zeit über ein monströses Spinnennetz betrachtet. Ein Meisterwerk aus minutiös verbundenen Fäden von unterschiedlicher Länge, feuchtnass, bebend auf Beute wartend. In seiner Mitte hockt eine fette schwarze Spinne, bewegungslos, als wäre ihr Körper vom prachtvollen Weben vollkommen erschöpft.
Dann endet die Konversation. Hannah wird abrupt auf Wiedersehen sagen, mit einem letzten Seufzer Also gut! – liebe dich, und Clare wird antworten, wie wenn jemand sie mit dem Zeigefinger an die Brust stupst: liebe dich.
Niemals bringen es Mutter und Tochter fertig, tatsächlich zu sagen Ich liebe dich.
Erschöpft legt Clare auf. Braucht dringend noch einen Drink.
Das Problem Adoptivkind zu sein, ist, sich wie auf Abruf zu fühlen. Egal, wie alt man ist, immer besteht das Risiko, dass man zurückgeschickt wird.
Clare macht sich bereit für die nächste Herausforderung: die »Verwandten« in Cardiff anrufen, deren Nummer Fischer ihr gegeben hat.
Elspeth, Morag – die beiden noch lebenden Schwestern von Maude Donegal, der geisterhaften Großmutter. Fischer hatte sie als die »jüngeren Schwestern« beschrieben, doch auch sie müssten jetzt älter sein, auf jeden Fall über achtzig.
Dafür braucht sie aber jetzt noch ein halbes Glas Wein.
Noch vor ein paar Tagen hatte Clare keinen einzigen Blutsverwandten gekannt. Und jetzt hat sie auf einmal zwei Großtanten.
Nach dem ersten Klingeln wird der Anruf schon entgegengenommen.
Als ob die wachsame Großtante atemlos diesen Anruf erwartet hätte. Clare denkt – Mein neues Leben!
Die (weibliche) Stimme am anderen Ende heißt – Elspeth? Zu Anfang kann Clare sie kaum verstehen: die Frau spricht mit einem starken Maine-Akzent und unterbricht ihre Worte mit eigentümlichen kleinen Silben – ähm, hä? Sie scheint Wert auf förmliche Umgangsformen zu legen und ist (anscheinend) etwas schwerhörig, aber für eine Einwohnerin vom Bundesstaat Maine erstaunlich freundlich, denkt sich Clare; die Großtante ist sehr neugierig auf Clare, hört aber anscheinend gar nicht zu, was Clare ihr erzählt, denn sie fragt Clare mehr als einmal, wann sie denn nach Cardiff komme und bricht dann ganz unvermittelt das Gespräch ab, so als ob sie jemand gerufen hätte. »Also gut dann! Ausgemacht. Du wohnst bei uns, Cla-re. So lange du willst.«
»Du wirst sehen, meine Liebe – es ist sehr viel Platz in dem wunderschönen alten Haus deiner Großmutter Donegal.«