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11.

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Im gleißenden Licht der Sonne ist sie vom Weg abgekommen. Hat ihr Gleichgewicht verloren. Und dann findet sie sich auf dem Boden wieder. Schwere in allen Gliedern, ein stechender Schmerz an ihrer Schläfe.

Jemand beugt sich über sie, besorgt. »Miss? Sind Sie okay? Kann ich …«

Frische Luft erweckt sie zum Leben. Frische Luft ist das Einzige, was ihr fiebriges Gesicht verlangt.

»… Ihnen helfen? Einen Krankenwagen rufen?«

Nicht in der Lage zu antworten. Das Tosen in ihrem Kopf ist zurück, ohrenbetäubend.

Neunzig Minuten sind vergangen, seit Clare in der Bibliothek ankam. Neunzig Minuten (erinnert sie sich verblüfft) seit sie die Steinstufen hinaufgesprungen ist, begierig, das Schlimmste zu erfahren.

Erschöpft. Die Handkurbel drehen, auf den Mikrofilm starren. Schmerzen im Nacken, Schultern. Fühlt sich, als ob sie an den Haaren durch eine Gerölllandschaft gezogen worden wäre.

Unter ihren Füßen gleitet der Beton weg. Sie fällt wie ein Stein. Ein Gehweg, an der Seite wächst Gras. Geruch von feuchter Erde. Ein Fremder beugt sich über sie, zögert, sie anzufassen, ihr hochzuhelfen.

So schwer! Clare wiegt nur fünfzig Kilogramm, aber ihre Knie, ihre Beine haben keine Kraft, um sie aufrecht zu halten.

Dann setzt sie jemand hin, ein niedriger Vorsprung, sie versucht zu atmen. Ein Stahlband ist um ihre Brust gespannt.

Jemand spricht mit ihr, ein Fremder. Er ist besorgt um sie, fragt, ob er jemandem Bescheid sagen kann, aber Clare insistiert, nein – niemandem …

»Nein! Wirklich nicht, mir geht’s gut. Wirklich gut.«

»Sind Sie sicher, dass ich nicht den Krankenwagen rufen soll? Sie sehen sehr bleich aus …«

»Danke, aber nein! Nein.«

Clare schaut ihn nicht an. Wer immer es auch ist. Eine kluge Strategie: einem Fremden nicht in die Augen sehen, wenn man angreifbar ist, verwirrt. Ein Fremder würde dann merken, in welch großer Not man ist.

Nein, nein! – das Letzte, was Clare möchte, ist die Notaufnahme, in der Stadt, wo sie niemanden kennt. Ins Krankenhaus eingeliefert gegen ihren Willen – ein Albtraum. In dem wirren Augenblick eben hätte sie nicht einmal das Wort ›Cardiff‹ herausgebracht. Hätte nicht erklären können, woher sie kommt und wohin sie geht.

Kurz danach hat sie sich schon wieder erholt von der Ohnmacht. Sie zwingt sich, wieder aufzustehen. Geht weiter, festen Schrittes, damit der Fremde nicht weiterbohrt.

Aber warum gehst du weiter? Ist dies nicht der Kreuzungspunkt mit einer anderen Person? Ein anderes Leben, in dessen Netz du hineingestolpert bist.

Aber nein, keine Zeit. Muss weiter.

Schließlich findet sie ihr Auto, einen kompakten Sedan metallic-grau, sieht verbeulter aus, als sie es in Erinnerung hat. Und dann starrt sie auf das Nummernschild, als ob sie es noch nie gesehen hätte. Hat jemand die Zahlen geändert? Oder – ist dies vielleicht gar nicht ihr Auto?

(Doch, ist es. Sie schaut in den Innenraum, auf den Rücksitz, wo sie ein paar Kleidungsstücke zurückgelassen hat. Natürlich ist das ihr Auto.)

Nicht ganz sicher, ob sie wirklich fahren sollte, noch immer weiche Knie, etwas benommen im Kopf. Muss sich selbst zurechtweisen – Lächerlich. Sie sind vor solch langer Zeit gestorben. Du hast so lange ohne sie gelebt. Und du hast gar keine Erinnerung an sie.

Der Zauber ist gelüftet. Muss gelüftet sein, Blut ist zurück in Clares Gehirn, mit viel Sauerstoff, Klarheit.

Stark genug, um das Auto aufzuschließen, aus dem Parkplatz hinauszufahren.

Stark genug, um zurückzufahren – wohin?

Muss fliehen. Trinken, mich betrinken. Zu einer Kugel einrollen. Verschwinden.

So allein! Verwüstung.

Der Plan ist, zum Haus in der Acton Avenue 59 zurück, schnell die Koffer packen, gehen. Wenn die Großtanten ganz überrascht hinter dir herrufen, gekränkt dir Vorwürfe machen, dann sagst du ihnen, Danke für eure Gastfreundschaft. Aber – auf Wiedersehen! Du wirst nicht anhalten, nicht auf der untersten Treppenstufe sitzenbleiben wie ein eingeschnapptes Kind. Wenn du gezwungen wirst, dich zu erklären, brichst du nicht in Tränen aus. An der Eingangstür wirst du den Großtanten höflich sagen – Ich möchte nichts davon haben. Es war ein Fehler, hierherzukommen. Nehmt ihr das »Erbe« – es ist eures.

Wie entspannend das sein wird, nach Süden zu fahren! Raus aus dem felsigen Maine, wo dünne Nebelschwaden wie Geister über die Straße ziehen.

Du möchtest das Haus in der Post Road. Dieses Haus.

Auf dem Weg Richtung Norden nach Cardiff hat es dich gepackt. Wolltest dich nicht mit Hörbüchern oder Musik von der Aufbruchstimmung ablenken. Der Gedanke an eine Erbschaft – egal, welcher Art – hatte dich gefangen genommen. Der Gedanke an Verwandtschaft – lebende Verwandte – hatte dich gefangen genommen. Unablässig hast du daran gedacht, was das alles für dich bedeuten könnte.

In der Acton Avenue (nicht leicht zu finden: unbekannte Straßennamen, unbekannte Häuser, immer wieder ist dein Kopf leergefegt, keine Ahnung, wo du verdammt noch mal bist oder was dich denn so dringend nach vorne peitscht) parkt Clare ihr Auto direkt vor dem mächtigen alten Steinhaus. An diesem frostigen Apriltag erscheinen Haus und Grundstück völlig farblos, erinnern an ein verblichenes Foto. Clare kann fast die Knicke auf dem Foto sehen, den schmutzigen Fingerabdruck oben an der Ecke.

Sie fragt sich, ob die Großtanten sie wohl von den Fenstern im Obergeschoss belauern. Fette, knotige Spinnen lauern in ihrem Netz, warten auf ihre spindeldürre Beute.

Wie viel Zeit sie braucht, um aus ihrem Auto herauszuklettern, (vorsichtig) den Weg die Einfahrt hoch, (zittriger) Fuß auf die erste Stufe der Veranda. Sie fühlt sich kühn und mutig, kurz danach packt sie wieder die Angst. Warum bin ich überhaupt hier? Warum bin ich zurückgekommen? Ein Traum, in dem Clare einmal sie selbst und gleichzeitig verwirrte Beobachterin von außen ist.

Irgendwann zwischen dem ersten und zweiten Schritt die Stufen hoch schwinden ihr die Sinne.

Irgendwann zwischen zwei Atemzügen fühlt sie sich ausgelöscht.

… wacht aber wieder auf, benommen, verängstigt, liegt auf der harten Rosshaarmatratze, man hat sie nach oben getragen. Nur ganz schwach erinnert sie sich an den Moment, in dem jemand sie vom Boden hochnahm, an das dunkelrote Gesicht eines Mannes, mit abgewandtem Blick.

Knurrend trägt er sie. Versetzt der Tür einen Tritt, damit sie aufspringt.

Und die Großtanten schwirren um sie herum, summen und gurren wie aufgeschreckte Vögel. Wer auch immer Clare die Treppe hinaufgetragen, sie aufs Bett gelegt hat, er ist verschwunden. Nur ein aschiger Geruch bleibt zurück, und der dumpfe Schmerz, da, wo die Finger zugepackt haben.

Cardiff am Meer

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