Читать книгу Cardiff am Meer - Joyce Carol Oates - Страница 15
8.
ОглавлениеFest entschlossen hatte sie diese Gedanken ihr ganzes Leben lang verdrängt – die Gedanken an ihre (leiblichen) Eltern.
Jetzt ist sie besessen von den Gedanken an sie. Sie fressen sich wie Zecken tief in ihr Fleisch.
Winzige, verhasste Insekten, die man sich nicht traut mit einer Pinzette herauszuziehen, aus Angst, ihre schwarzen Körper in Stücke zu reißen, unwiederbringlich.
Will unbedingt wissen, ob ihre Eltern noch leben oder tot sind. Und falls gestorben, wie? Warum? Und warum wurde sie zur Adoption freigegeben, wenn die Donegals doch wohlhabend waren?
Clare wird nachfragen, wo ihre Eltern begraben sind. (Wenn sie überhaupt begraben sind. Egal, wo.) Ein Friedhofsbesuch hier in Cardiff. Wie auf einem traumgleichen Foto von Julia Margaret Cameron wird sie durch diesen grauen und gespenstischen Tag wandeln, unter schweren Wolken und prasselndem Regen.
Hartnäckig und trotzig wie ein Kind wird sie versuchen, sich ihre eigenen Gedanken zu verbieten. Vielleicht ist ja einer von den beiden noch am Leben, wenigstens einer. Kann doch sein.
Welch große Erleichterung, das bedrückende Steinhaus in der Acton Avenue verlassen zu können!
Draußen ist die Luft frischer. Sie kann tief durchatmen. Der verhangene Himmel scheint sich Schicht für Schicht in durchscheinende Wolken aufzulösen. Sie schaut herum, fragt sich, ob sie ihn sieht – wen? Eine hinkende Gestalt …
Aber nein. Niemand.
Fährt in die Innenstadt von Cardiff zu Lucius Fischers Kanzlei. Ihr Termin ist um elf Uhr morgens, und sie möchte auf keinen Fall zu spät kommen. Ihre Gedanken sind ein heilloses Durcheinander, zerfahren. Weiß nicht, was sie von ihren Großtanten halten soll – ob sie auf ihrer Seite sind.
Möchte sich nicht lächerlich machen. Natürlich meinen die betagten Großtanten es gut mit ihr. Sie sind nervtötend, zum Verzweifeln – aber im Grunde sind sie ihre Freundinnen.
Trotz allem – Clare hat das Gefühl, dass die beiden sich manchmal über sie lustig machen. Sie verhöhnen, gehässig.
Als sie versucht, sich zu erinnern, was sie ihr über ihre Eltern erzählt haben, fällt ihr nichts ein. Es fühlt sich an, als ob ein grober Stoff vor ihrem Gesicht hinge – durch den sie weder sehen noch hören kann.
Leben sie, oder – nicht? Bitte sagt es mir.
Noch immer ist sie wacklig auf den Beinen nach dem Würgeanfall. Die Übelkeit ist nahezu weg, doch der klebrige Brocken Haferbrei drückt weiterhin in ihrem Bauch.
Sie nimmt sich vor, noch am selben Nachmittag das Donegal-Haus zu verlassen. Direkt nach dem Termin mit Fischer. Kann es nicht erneut riskieren, dort eine Mahlzeit zu sich zu nehmen. Selbst wenn die Tanten nicht versuchen, sie zu vergiften, kann das Essen, was sie ihr geben, doch verdorben sein, vergammelt.
Je nachdem, was Lucius Fischer ihr mitteilt, wird sie möglicherweise schon am folgenden Morgen nach Bryn Mawr zurückkehren.
Ihr Erbe ausschlagen, wäre möglich. Ja.
Eine schnelle Entscheidung. Wie wenn man spontan nach einem Messer greift und sich die eigene Gurgel aufschlitzt.
So wie sie einmal einem Liebhaber mitgeteilt hat – aus heiterem Himmel – Das war’s. Es reicht. Ich glaube, wir sind am Ende.
Ihr einziges Erbe. Ihre einzige Verbindung zu Blutsverwandten. Verbindung zu ihren (verstorbenen) Eltern.
Sie könnte es ausschlagen. Sie braucht die Donegals nicht in ihrem Leben. Sie hat den größten Teil ihres Lebens ohne sie gelebt, warum sollte sie ihnen jetzt ausgeliefert sein?
Die Art und Weise, in der Gerard Donegal hart seinen Stuhl zurückgeschoben hat, sich auf die Füße hochgewuchtet und ihr den Rücken zugewandt hat, und wie er dann rausspaziert ist. Der Bruder meines Vaters. Nichts verbindet uns. Warum auch? Nichts.
Obwohl Clare mehr Zeit als genug hatte, um vom Haus in der Acton Avenue die drei Kilometer bis zum Treffpunkt zu fahren, ist sie jetzt spät dran. Erstaunt bemerkt sie, dass es schon fast elf ist, als sie die State Street, die Hauptstraße in Cardiff, ausfindig macht. Plötzlich findet sie sich in einem Labyrinth von engen Einbahnstraßen wieder, durch die ein dichter Autostrom fließt, so langsam und bedächtig wie bei einem Beerdigungszug, anschließend in einer einzigen Spur durch eine nicht enden wollende Baustelle. Läuft zu Fuß weiter, nachdem das Auto geparkt ist, kann aber die Adresse, die sie bekommen hat, nicht ausfindig machen, sie läuft verzweifelt einen Bürgersteig entlang in ein Viertel hinein, das nur aus dem Schutt abgerissener Häuser besteht …
Zu spät! Jetzt wird sie doch noch zu spät kommen.
Verdammt. Warum hast du das gemacht? Einen Anruf angenommen, ohne den Anrufer zu kennen.
Das war der ursprüngliche Fehler.