Читать книгу Cardiff am Meer - Joyce Carol Oates - Страница 12
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ОглавлениеDrei Tage später kommt Clare in Cardiff, Maine, an.
Betätigt die Türklingel des schon etwas heruntergekommenen, ehrwürdigen alten Steinhauses in der Acton Avenue 59, aus dem nur spärliches Licht dringt.
Ein Haus wie aus dem Märchenbuch. Ein Relikt viktorianischer Zeiten, in einer Straße mit vielen ähnlich großen, massiven, mächtigen Wohnhäusern, zurückgesetzt von der Straße, zwischen hohen Hemlocktannen und wuchernden Ligusterhecken.
Die Donegals müssen sehr wohlhabend sein, denkt Clare. Oder waren in vergangenen Zeiten auf jeden Fall sehr wohlhabend.
Cardiff, Maine, ist eine verfallende Textilstadt aus dem neunzehnten Jahrhundert, die es noch nicht ganz geschafft hat, sich für den Tourismus zu öffnen, so wie andere Städte in diesem Teil des Staates. Noch immer ein malerisches Städtchen an der Küste, selbst im Verfall. Mühlen und Fabriken sind lang verlassen, bunt verstreut Outlets und »Antik«-Läden, Boutiquen, die Kunsthandwerk verkaufen.
Acton Avenue ist eindeutig eine der repräsentativsten Straßen Cardiffs, oder war es zumindest, auch wenn viele Häuser nahe dem Stadtkern nun für gewerbliche Zwecke genutzt werden. Teils Apartments, teils Büroräume. Eine würdevolle altrosa Backsteinvilla wurde ins Ashford County Historical Museum umgewandelt; ein anderes weitläufiges viktorianisches Anwesen trägt das bescheidene Schild CARDIFF COUNTY FAMILY PLANNING & SERVICES.
Clare klingelt ein zweites Mal. Erinnerung an die Halloweenabende in St. Paul, als sie inmitten einer Gruppe von Kindern in Masken und Kostümen aufgeregt und in ängstlicher Erwartung an Häusern wie diesem zu klingeln gewagt hatten, während ihre Eltern in den Autos am Straßenrand warteten; wie erleichtert sie waren, wenn niemand öffnete. Obwohl im Haus Licht brennt, fragt Clare sich, ob jemand zu Hause ist. Immergrüne Zweige wuchern an den Seiten des Hauses und verdunkeln die Fenster im Erdgeschoss. Das Schieferdach ist in großen Teilen mit Moos bewachsen und kleine Bäumchen schlagen in den verstopften Regenrinnen Wurzeln. Clare riecht verrottendes Laub, feuchte dunkle Erde, ein Hauch organischer Fäulnis steigt von der Veranda herauf, auf der sie steht. Dann plötzlich, so sanft wie eine vertraute Liebkosung, dieser Gedanke: Ist dies zu Hause? Bin ich hier am richtigen Ort?
Als Waisenkind ist man niemals am richtigen Ort. Obwohl man sich dies nicht gerne eingesteht. Clares Herz schlägt schneller vor Erwartung. Sie sollte es besser wissen, sagt sie sich selbst. Sie ist kein naives Kind mehr, sie hat Übung darin, große Hoffnungen nicht an sich ranzulassen, so wie man einen anhänglichen Hund nicht zu nah an sich ranlässt.
Nein! Dies ist auf keinen Fall dein Zuhause.
Nahezu 700 Kilometer von Bryn Mawr, Pennsylvania, bis Cardiff, Maine. Ungefähr sechs Stunden über die Interstate-Autobahn, zu weit für einen Tag, doch dann auch wieder zu nah, um die Fahrt in zwei Tage aufzuteilen. Wenn Clare einen Begleiter hätte …
Clare hat keinen Begleiter. Es ist klüger, die Fahrt in zwei Tagen zu absolvieren, so wie sie es gemacht hat, und vorsichtig zu fahren. Mit dem Gefühl, von einer Erbschaft gesegnet zu sein, der ersten in ihrem Leben, reihte sich Clare in die Langsamfahrer auf der rechten Spur der Interstate-Autobahn ein, die die Fahrer auf der Überholspur regelmäßig zur Weißglut bringen.
Seit dem Anruf von Lucius Fischer hat sie an nichts anderes denken können – Großmutter, Testament. Erbe. Und jetzt ist sie da.
Stimmen, drinnen im alten Steinhaus. In die massive Eichentür ist ein rundes Fenster eingelassen, durch das Clare lediglich ein gedämpftes Aufblitzen sehen kann, als der Lichtschalter angeht. Schwungvoll öffnet sich die schwere Eichentür, und zwei ältere, eigentümlich gekleidete Damen begrüßen Clare überschwänglich wie zwei aufgeregte Papageien.
»Da bist du ja! Oh, du siehst aus wie –«
»– wie er. Dein Daddy –«
»– unser Conor –«
»Ohh – ja, das tut sie!«
Die Stimmen beben. Tränen schimmern in den Augen. Die größere der beiden Frauen presst ihre Hand gegen ihre flache Brust, keucht.
»Wie gut – Gott sei Dank! – du bist hier –«
»– sicher – hier –«
»Herzlich willkommen, Clare –«
»Komm rein, meine Liebe. Du musst ja so –«
»– erschöpft sein.«
»– ausgehungert! – wollte ich sagen, meine Liebe, als diese unverschämte Person mich unterbrach –«
»Sie unterbricht mich die ganze Zeit, Clare – niemand ist so unverschämt wie sie.«
»– ausgehungert nach dieser langen Fahrt –«
»– und erschöpft –«
»– komm herein, Liebes –«
»– du bist Clare, nicht wahr? –«
»– haben schon gewartet auf –«
»– auf dich. Seit –«
»– Jahren.«
Inmitten dieser aufgeregten Begrüßungsorgie ist Clare ganz benommen. Die Frauen zupfen ungeduldig an ihr herum. Sie wird umarmt und noch einmal umarmt. Dann noch einmal umarmt, von dünnen Armen, die überraschend kräftig zudrücken und ihr die Luft aus dem Brustkorb herauspressen.
»– wie er! Dein Daddy –«
»– dein armer, armer Daddy –«
Wischen sich die Augen. Wischen sich über die Wangen, auf denen Tränen glitzern. Die größere verströmt einen süßlichen Duft von abgestandenem Talkumpuder, die kleinere einen scharfen Arzneigeruch auf alter Haut.
»Mein Liebes, ich bin Elspeth –«
»Ich bin Morag –«
»– Maudes jüngere Schwester –«
»– Maudes jüngere jüngere Schwester –«
»Wir haben telefoniert, Liebes –«
»Sie hat mir den Hörer einfach weggeschnappt, und dann –«
»Soll ich deinen Koffer nehmen, Liebes –«
»– hat sie mich noch nicht einmal kurz Hallo sagen lassen.« Morag, die kleinere der beiden, lässt nicht locker, vorwurfsvoll. »Nichts darf ich.«
Clare wird von ihren beiden Großtanten Elspeth und Morag ins Haus geführt, in ein Foyer mit fleckigem Marmorboden. Der Geruch von moderndem Laub und feuchter Erde vermischt sich nun mit dem strengen Duft der alten Damen und der stickigen Luft des Gemäuers. Wie weichgefiederte Vögel drücken sich die beiden Frauen – die Großtanten – nah an Clare heran. Sie hätte nicht sagen können, wer Elspeth war und wer Morag (beeindruckende schottische Namen!). Eine der beiden nimmt ihr den Koffer aus der Hand, doch der fällt sofort zu Boden und streift Clares Fuß – zu schwer der Koffer für die alte Dame.
»Oh – du! Was hast du getan!«
»Nichts! Ich habe nur versucht –«
»Immerzu mischst du dich ein und vermasselst alles. Das arme Mädchen ist noch keine fünf Minuten hier und du lässt den Koffer auf ihren Fuß fallen. Gib ihn mir, Clare – ich lasse ihn nicht fallen, versprochen.«
»Entschuldige mal! Ich bin sehr wohl in der Lage, ihren Koffer zu tragen –«
»Nein! Du hast gerade gezeigt, dass du das nicht bist –«
Clare stammelt, dass sie ihren Koffer selbst die Treppe hochtragen kann. Er ist nicht schwer, gar kein Problem …
»Aber nein, davon wollen wir gar nichts hören, liebe Clare –«
»Du bist so weit gereist, du bist unser Gast –«
»Wenn doch nur Maude hier wäre –«
»– allerdings, wenn Maude hier wäre, dann gäbe es ja kein – Testament … Und keine Clare.«
»Oh! Nicht gerade gastfreundlich deine Begrüßung. Du solltest dich schämen.«
»Du solltest dich schämen! – dass du so etwas überhaupt denkst.«
Clare lächelt verlegen. Sie hat nur wenig Erfahrung damit, dass »Verwandte« so viel Wirbel um sie machen, die (doch eigentlich) Fremde für sie sind, allerdings nicht den herkömmlichen Abstand wahren, so wie man es von Fremden kennt.
Versucht den Gedanken abzuwehren, es sei vielleicht ein Fehler, bei diesen Großtanten zu wohnen.
Sie fragt sich trotzdem, warum sie Ja zu dieser Einladung gesagt hat. Wie viel einfacher wäre es gewesen, in einem Hotel in der Nähe zu wohnen.
Verführt von dem Gedanken an eine Familie. Diese älteren Damen sind die einzigen Blutsverwandten, die Clare seit ihrer Adoption kennengelernt hat, und an die Adoption kann sie sich noch nicht einmal erinnern.
Wird sie von der größeren, lebhafteren der beiden Frauen, Elspeth, warmherzig empfangen? Oder ist das Morag?
Beide Großtanten starren sie gierig an. Hungrig.
Beide Frauen sind kleiner als Clare, die mit 1,70 m eine durchschnittliche Größe hat; die kleinere der beiden Schwestern ist um einiges kleiner und scheint eine deformierte Wirbelsäule zu haben. Die größere und wohl jüngere Schwester hat ein elfenbeinblasses Gesicht mit kaum sichtbaren Falten. Dem Gesicht wurde eine »prachtvolle« Maske aus Rouge, Linien und Puder aufgesetzt – gewölbte Augenbrauen, errötete Wangen, eine Rosenknospe als Mund; ihr aufgebauschtes Haar hat eine unnatürlich orangerote Färbung und die luftige Struktur von Zuckerwatte. Die kleinere, wohl ältere Schwester mit der gekrümmten Wirbelsäule hat ein eingedrücktes Mopsgesicht, eine niedrige Stirn, ein käsig-bleiches Gesicht, spärliche Augenbrauen und so gut wie keine Wimpern. Ihr Mund ist schmallippig, aber breit.
Elspeth, die größere, ist festlich gekleidet, trägt ein stahlblaues Satinkleid, einen schwarzen Spitzenschal über ihren mageren Schultern; Morag, plump und schwerfällig wie ein Hydrant, trägt eine Art Männerkleidung – formlose dunkle Hosen aus weichem Stoff, so wie Jersey, nicht sehr sauber, und einen Pullover mit Zopfmuster und Rollkragen. Ihr Haar ist nicht gefärbt, wie das ihrer Schwester, sondern eine Mischung aus steingrau und kalkweiß, recht fest, aber auch schon so dünn, dass Clare den blassen, verwundbaren Schädel hindurchschimmern sieht. Die größere, modischer gekleidete Elspeth trägt ein silbernes Brillengestell; Morags Brille ist klobig, ein schwarzes Plastikgestell.
Clare hat das vage und unheimliche Gefühl, dass jemand aus dem Hintergrund oder vom äußersten Rand ihres Blickfeldes aus zuschaut. Noch eine Großtante?
Aber als sie sich umdreht, ist da niemand. Ein schwach beleuchteter Flur führt vom Foyer in das düstere Innere des Hauses.
Die Großtanten drängen sich dicht an Clare heran, so als ob sie sie bewachen wollten. Sie bestehen darauf, dass sie mit ihnen zu Abend isst. »Das wird dir deine Farbe wiedergeben. Du bist so bleich wie ein Gespenst.«
»Als ob sie je ein Gespenst gesehen hätte.« Die andere Schwester lacht verächtlich.
»Sagt man doch so. Davon hast du ja keine Ahnung.«
»Dafür weiß ich: du bist die einzige dumme Person, die jemals ein Gespenst gesehen hat und sich damit brüstet.«
»Ich doch nicht – mich brüsten!«
»Also, wenn Clare jetzt ein Gespenst sieht, dann weiß ich, dass es deine Schuld ist – du hast ihr das in den Kopf gesetzt.«
»Du, du weißt nicht immer alles.«
Clare ist sich unsicher, ob sie über das Gezanke der Schwestern lachen oder versuchen soll, es zu ignorieren. Sie versteht, dass der heftige Schlagabtausch ihretwegen geschieht und sie möchte nicht ins Fettnäpfchen treten und jemanden beleidigen, indem sie sich mit der einen Großtante auf Kosten der anderen amüsiert.
Elspeth ist die witzigere, aber auch gemeinere; Morag ist nicht so schlagfertig, hat aber eine ganz besondere Art, wie eine Bulldogge aufzubrausen, erzürnt. Auf den ersten Blick scheint Elspeth die stärkere der beiden, da ihr Körper besser in Form zu sein scheint, doch tatsächlich ist Morag die robustere, sie steht mit beiden Beinen fest auf dem Boden.
Beide sind sehr freundlich und zuvorkommend ihrem Gast gegenüber und scheinen aufrichtig besorgt um Clare.
»Bitte komm hier herein, Clare, setz dich bitte – du hast viel durchgemacht. Wir hatten das Abendessen schon länger fertig …«
»Nicht sehr nett, einem Gast so etwas zu sagen! ›Schon länger fertig‹ – das ist doch ungehörig.«
»Ich wollte doch nur –«
»– ignorier sie einfach, Clare; meine Schwester hat so selten Besuch, dass sie ihre guten Manieren verloren hat.«
» – wollte doch nur sagen, dass das Essen langsam kalt wird.«
»Na und – wärmen wir es einfach wieder auf …«
Wie kleine Kinder oder junge Hunde, die um Zuneigung betteln, so wetteifern auch die Großtanten um Clares Aufmerksamkeit, sehr unangenehm für sie. Wieder hat sie das vage Gefühl, dass noch eine weitere Person, vielleicht eine dritte Großtante, eine gespenstische Figur, irgendwo in der Nähe ist und gleich das Essen hereinbringen wird.
In einem mit schweren Antikmöbeln, Läufern und Wandteppichen überladenen Salon wird Clare gedrängt, sich auf einem Samtsofa niederzulassen, das heimtückisch unter ihrem Gewicht knarrt. Auch hier kann sie Moder und Schimmel deutlich riechen, dazu ein scharfer, erdig-sandiger Geruch, den sie als Ausscheidungen von Nagetieren definiert, weil sie Ähnliches an anderen, nicht sehr sauberen Orten schon gerochen hat.
»Wir wissen, dass du müde bist, liebe Clare, und jetzt gerne in deinem Zimmer ungestört sein möchtest, aber – wir haben noch so viel zu bereden!«
»Woher weißt du, dass das Kind ungestört sein möchte? Sie ist ausgehungert, sieh sie doch mal an! Sie möchte Tee und dann Abendbrot.«
»– Tee zum Abendbrot? –«
»– es sei denn, wir haben nur Pepperidge Farm Cookies und nicht diese warmen Scones mit Butter und Clotted Cream und diversen Marmeladen und Gelees, so wie sie im Ritz serviert werden, aber –«
»Oh, im Ritz! Sie möchte, dass du sie fragst ›Welches Ritz‹, damit sie antworten kann ›das Ritz am Piccadilly‹. Du weißt schon – London.«
Elspeths Worte klingen verächtlich. Als Morag protestiert, erwidert Elspeth, als ob es um ihr Herzensthema ginge: »Und damit meine ich nicht London, Connecticut –«
»New London, Connecticut –«
»Oh, hör auf! Kannst du denn damit keine Ruhe geben! Ein einziges Mal hat unser Vater uns Mädchen zum Abendessen mit ins Ritz genommen, und sie ist nie darüber hinweggekommen –«
»– sie ist nie darüber hinweggekommen –«
»– und weißt du was, Clare? – der Tee war English Breakfast Tea, und der hatte noch nicht einmal richtig in einer Teekanne gezogen, es waren Teebeutel.«
Clare lacht, unsicher, warum dies lustig sein und sie vielleicht lachen sollte. Es erscheint ihr gemein von der größeren, attraktiveren, jünger erscheinenden Elspeth, in solch spöttischem Unterton zu reden und damit ihre zwergenhafte, aufrichtig und ernsthaft sprechende Schwester noch kleiner zu machen; sie bemerkt auch, dass Morag irgendetwas fehlt am Körper, vielleicht eine Hand – Clare ist sich sicher, dass sie einen abgerundeten, weichen Stumpf gesehen hat … Aber als sie sich traut, genauer hinzusehen, merkt sie, dass Morag zwei Hände normaler Größe hat, oder sogar größer als normal, wie Männerhände, mit brüchigen Nägeln wie man sie von einem Hilfsarbeiter oder einem Gärtner kennt.
»– so viel zu erzählen, Liebes! – wir haben gewartet und gewartet. Seit unsere arme geliebte Schwester in der vergangenen Woche verstorben ist und dann dieser Schock mit dem Testament –«
»– nicht, dass es ein schlimmer Schock gewesen wäre, oh, nein –«
»– nein. Überhaupt kein schlimmer Schock. Wir wussten doch, dass –«
»– unsere geliebte Maude viele ›Interessen‹ hatte –«
»– Wohltätigkeitsorganisationen –«
»– St. Cuthbert’s Church –«
»– Verwandte über ganz New England verstreut –«
»– ein ganz schöner Schock, aber kein großer Schock –«
»– die geliebte Maude hat uns dieses Haus überlassen –«
»– uns zusammen, ihren beiden Schwestern und ihrem Sohn – Gerard –«
»– ah ja: Gerard – dein Onkel, ein Junggeselle –«
»– sie hat sich um uns gesorgt – und um ein paar andere aus der Familie –«
»– unseren lieben Neffen Gerard, den du kennenlernen wirst –«
»– wir haben nicht geheiratet, so wie Maude; sie war sehr unerschrocken –«
»– sie war so betrübt über deinen Vater, sie konnte nicht –«
»– konnte es nicht ertragen –«
»– schon allein der Gedanke, dass –«
»– über viele Jahre, schon allein der Gedanke, dass es dich gab.«
»– Obwohl sie von dir wussten –«
»Ja! Wir alle wussten davon – nur –«
»– die Jahre flogen vorbei –«
»– flogen vorbei …«
Während dieses ermüdenden Hin und Her, wird ein kunstvoll verziertes, matt-silbriges Tablett in den Salon gebracht, feierlich auf dem Tischchen direkt vor Clare abgestellt. Tassen und Löffel klirren. An ein paar Stellen angeschlagenes, doch wunderschönes zartes Wedgwood Porzellan, stilvoll gemusterte Silberlöffel, nur leicht angelaufen. Wer auch immer das Tablett hereingebracht hat, ist nicht zu erkennen, denn ihr – sein? – Gesicht ist von der aus der Teekanne aufsteigenden Dampfwolke vollkommen eingehüllt.
»– ich gieße ein. Hier, Clare –«
»– deine Tasse, Clare –«
»– deine Tasse, extra für dich ausgewählt –«
»– Rosenknospen, geliebt von unserer lieben Maude –«
»– und dieser Löffel! – eigentlich ein Babylöffel –«
»– dein Löffel –«
Clare reibt sich die Augen, müde von der langen Fahrt, und sieht, dass die Großtante, die den Tee umrührt, Elspeth ist, wenn es nicht Morag ist … Und wer ist die andere Person im Raum? Clare schaut unruhig umher; ihre müden Augen können niemanden entdecken.
Dann folgt ein erneutes Intermezzo unerbittlichen Geplappers. Als ob Vögel mit ihren spitzen Schnäbeln an ihr pick-pick-picken. Natürlich, so denkt Clare, wollten die alten Großtanten ihr nichts Böses; sie meinen es gut mit ihr; sie sind einsam, suchen wohl Gesellschaft; sie sind aufgeregt, sie kennenzulernen, so wie auch sie selbst aufgeregt ist, ihre Tanten kennenzulernen.
Clare, die sonst sehr wählerisch ist, was Essen und Trinken angeht, chronisch untergewichtig, hat auf einmal mehr Appetit, als sie sich je vorstellen konnte: auf lauwarmen English Breakfast Tea mit ranzig riechender Milch. Und Pepperidge Farm Ingwerkekse, nicht mehr ganz frisch, die in ihren Fingern zerbröseln, ihr den Mund wässrig machen, so köstlich …
»– (Sie ist viel zu dünn!)«
»– (Dem werden wir schon abhelfen!)«
Wie seltsam, die Großtanten reden über Clare, als wäre sie gar nicht im Raum.
Ihre Augenlider werden schwer. Sie ist plötzlich so müde. Mit glitzernden Augen hinter blank polierten Bifokalgläsern beobachten die Großtanten sie ganz genau.
»– Schlafenszeit, Liebes? Dein Zimmer ist bereit –«
»– gut durchgelüftet und frisch hergerichtet für dich –«
»– (Achtung! Nimm ihr die Tasse ab, bevor sie herunterfällt –)«
»– (Nimm du sie, du bist näher dran!)«
Noch nicht einmal 21 Uhr, sehr früh noch, um schlafen zu gehen, denkt Clare. Doch es fühlt sich viel später an. Mitternacht.
Clare ist so müde, dass sie kaum noch die Augen offen halten kann. Wie unhöflich von ihr, im Beisein der Großtanten einzuschlafen … Schafft es kaum noch, vom Samtsofa aufzustehen. Schafft es kaum noch, ihre Wörter zu artikulieren, sich zu entschuldigen.
(Was ist mir ihr passiert? Clare denkt, Sie haben mich vergiftet! – doch dieser Gedanke gleitet hinein und wieder hinaus aus ihrem Kopf, wie ein kurzer Faden, den man durch ein Nadelöhr zieht.)
Es gibt einen kurzen Augenblick, einen entscheidenden Punkt (wie jener Augenblick damals, kurz bevor Clare den Anruf in Bryn Mawr entgegengenommen hatte, als sie hätte entscheiden können, nicht dranzugehen), in dem Clare den Großtanten hätte entkommen können, aus dem Salon ausbrechen, in das schwach erleuchtete Foyer hinausstolpern und raus auf die Veranda in die eiskalte, frische Luft, und von da aus in ihr Auto, das am Straßenrand parkt. Aber all das tut sie nicht, denn sie hat gar keine Chance, es zu tun. Sie ist einfach nur schrecklich schläfrig. Kindliche Geborgenheit in ihrer Schläfrigkeit und im Nichtstunkönnen der Schläfrigkeit. Bei diesen liebenswürdigen Großtanten.
Weiß nicht, was passiert, aber fügt sich: die Treppe hinauf! Ein Zimmer bereit für sie, seit Tagen. (Jahren?)
Wie schwach sie ist, doch Clare nimmt ihren Koffer in die Hand, um ihn die Treppe hinaufzutragen. Der Koffer (der vorher nicht schwer gewesen war) ist jetzt sehr schwer. (Sie hat nur ein paar Kleidungsstücke dabei, ein paar Bücher, ein zweites Paar Schuhe, Hygieneartikel in einem Kunststoffbeutel – nichts Schweres eigentlich.) Die kleine, plumpe, missgestalte Morag lacht liebevoll – oder ist es höhnisch? »Lass mich« – schafft es, mit ihrem Armstumpf den Koffer, auf ihrem Oberschenkel abgestützt, triumphierend die Treppe hinaufzutragen.
Clare reibt sich die Augen, starrt ihr hinterher. Fehlt Morag wirklich ein Teil ihres Arms?
Clare kann es nicht genau erkennen.
»– hier herein, liebe Clare! Dies –«
»– ist bereit für dich.«
Elspeth, die Großtante mit dem hellen, feuerfarbenen Haar, fliegt an Clare vorbei und führt sie ins Gästezimmer. Clare hat den Eindruck, die glamouröse Großtante schwenkt eine Fackel über ihrem Kopf – aber nein, natürlich keine Fackel.
Erstaunlich, dass ihr das Gästezimmer in diesem fremden Haus vertraut erscheint – einer der Orte, an dem Einzelheiten wie Wände, Decken, Fußböden nicht genau festgelegt sind, eher unbestimmt, im Nebel. Ich bin zu früh gekommen, der Traum ist noch nicht bereit. Gibt es hier Sauerstoff zum Atmen? Angst hat sie keine. Im Gegenteil, sie hat das Gefühl, an einen vertrauten Ort zu kommen, ein Ort, der sie lange schon erwartet hat.
»Raus! – aus den Schuhen –«
»Raus! – aus den Socken –«
»Dies auszieh’n –«
»Das auszieh’n –«
»Und das noch –«
Wie Äther steigt die Lethargie von der steifen, ausgebleichten Satindecke des Himmelbetts hinauf, um Clare in die Arme zu nehmen. Die Matratze ist sehr hart – Rosshaar. (Woher weiß Clare das? Clare weiß es.) Auf dem Gänsefederkissen rollt ihr Kopf hin und her, als ob er vom Körper abgetrennt wäre. All ihre Glieder sind schlaff, widerstandslos. Ihre Gedanken in Fetzen, zerrissen. Und dann Dunstschwaden, wie Wolken. Hoch oben fegen Atlantikwolken über sie hinweg.
Geschäftig, glücklich zupfen die Großtanten an ihrer Kleidung, beugen sich gurrend über sie, als wäre sie ein großes, hilfloses Baby. Aus der Distanz hört sie (sehr zu ihrer Bestürzung), dass sie »keine besondere Schönheit« sei, doch wenigstens »kommt sie nach ihm, nicht nach ihr. Diese Frau war so gewöhnlich.«