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Wer ist meine Familie?
ОглавлениеIm Februar 1955, ich war 8 Jahre alt, beschäftigte mich eines Nachts ein heftiger Traum. Der triste Alltag war mir zu öde. Als kleiner Bruder wollte ich einmal ein spannendes Abenteuer erleben. Die mahnenden Gesichter meiner älteren Brüder kamen mir in Gedanken als hässliche Fratzen immer näher. Aus ihren Mündern sprudelte es nur so von Beschimpfungen und beleidigten Erniedrigungen. Sie machten mich nieder, der Traum wurde zum Alptraum. Schweißgebadet wurde ich wach. Allerdings lagen diese Motzköpfe, anders als ich es mir im Schlaf vorstellte, friedlich auf ihren klapprigen Eisenbetten in unserem Zimmer und schliefen. Bitterkalt und stockdunkel war es. Ich hörte nur das leise Atmen der Schlafenden. Ein heftiges Magengrummeln war der Grund meiner saublöden Panikattacke. Mir war unwohl. Zum Anlass der Geburtstagsfeier meiner Mutter aßen wir zur letzten Mittagsmahlzeit Berliner Küche. Gekochte Blut- und Leberwürste lagen auf dem Teller. Als Beilage gab es Sauerkraut und Quetschkartoffeln überzogen mit ausgelassenem Speck. Dieses Gericht schmeckte sehr lecker, war aber für meinen empfindlichen Magen- und Darmtrakt einfach zu fettig.
Das rächte sich nun. Der Durchfall kündigte sich mit heftigen Magenkrämpfen an. Ich musste noch einmal raus zum Klo. Raus im wahrsten Sinne des Wortes. Es war wohl schon Mitternacht vorbei. Vorsichtig kroch ich aus meinem Bett um bloß keinen Lärm zu machen. Ich durfte meine Brüder nicht wecken. Schließlich mussten alle morgens wieder früh aufstehen um entweder zur Arbeit oder zur Schule zu gehen. Leise schlich ich mich im Dunkeln aus dem Zimmer, zog mir in der Küche meine Gummistiefel an und verließ das Haus. Denn unser Plumpsklo, auch Donnerbalken genannt, befand sich weit hinter unserem Wohngebäude, abseits im Dunklen, des Nachts geheimnisvoll anmutenden Garten. Die zweistelligen Minustemperaturen sorgten in diesem fiesen, vereisten Winter dafür, dass sich schon seit längerer Zeit die Eisblumen an den Fensterscheiben unseres Behelfsheimes in ihrer schönsten kunstvollsten Pracht zeigten. Nur im Pyjama bekleidet, mit meinen Gummistiefeln an den Füßen, stampfte ich, widerwillig, frierend durch den hohen Schnee, der sich im Garten seit einiger Zeit immer mehr und höher auftürmte. Gespenstige Geräusche und gruselige Mondschatten prägten nachts, in der damaligen dünnbesiedelten Gegend am Rande des Dorfes Bramfeld die Szene. Hinter jeder Ecke vermutete ich eine böse, finstere, skrupellose Gestalt.
Mein Darm meldete sich mit ernsthaften Attacken. Es wurde höchste Zeit, dass ich alsbald das Örtchen der Glücksseligkeit erreichen würde, sonst wäre alles in die Hose gegangen. Als ich endlich am Schuppen angekommen war, öffnete ich mit großer Sorge, dass sich hoffentlich im Inneren niemand aufhält, der mir Gewalt antun könnte, die marode Tür. Knarrend und quietschend bewegte sie sich schwerfällig in den Raum hinein. Der starke Wind rüttelte heftig an den Holzwänden und aufgepeitschter Schnee drängte sich durch die Ritzen und den Spalten der Außenbretter. In dieser baufälligen Bretterbude waren neben Gartengeräten, Kohlen und anderem Krimskrams auch unsere Hühner und unser Klo untergebracht. Für mich war es hier im Dunkeln ein Horrorort. Nachdem es mir nach einigen Versuchen geglückt war mit einem Streichholz eine Kerze anzuzünden, um ein wenig Licht in der Dunkelheit dieser Hölle zu haben, sah ich, dass sich der Schnee inwendig als Teppich niedergelassen hatte. Auch die Sitzfläche vom Klo war weiß überzogen. Ein besorgter, vorsorglicher Blick, bei Kerzenschein, in die Tiefe des Kackeimers und drum herum war mir sehr wichtig und notwendig, um mich davon zu überzeugen, dass dort kein Vieh lauerte und etwa auf die Idee käme mich zu beißen, denn Ratten und anderes Ungeziefer suchten hier auch Schutz vor der Kälte. Besonders Marder schlichen sich immer wieder in unseren Stall, um die Hühner zu killen. Nachdem ich den Sicherheitscheck durchgeführt und den Schnee von der Sitzfläche der Klobretter entfernt hatte, saß ich nun zitternd, nicht nur vor Angst, sondern auch vor der scheußlichen Kälte, auf dem Klo. Der Darm wollte es so, dass ich einsam und allein dieser Situation ausgesetzt war. Kein Familienmitglied dachte daran, mich in der späten Stunde meiner Not zu begleiten und zu beschützen. Hätte ich Schwäche gezeigt, wäre ich obendrein noch als Angsthase verspottet worden. Gespenstiges, lautes Hundegeheul, als ob Wölfe jaulten, war aus der Ferne zu hören. Aus dem nahen Hühnerstall konnte man unruhiges Scharren vernehmen. Die Gummistiefel baumelten nun nervös unter den heruntergelassenen Pyjamahosenbeinen, während ich bemüht war mein Geschäft schnellstens zu erledigen. Jedoch der Durchfall brauchte seine Zeit. Hoffnungsvoll bald fertig zu sein, rieb ich ängstlich am Klopapier, wie damals üblich, ein Blatt einer in Stücke gerissenen alten Bildzeitung. Dieses Groschenblatt, wie es der Volksmund in der Zeit nannte, weil eine Zeitung 10 Pfennige kostete, bekam zum Schluss seiner Existenz noch eine bedeutende Aufgabe. Um mich von meinem Elend abzulenken, schaute ich mir im Kerzenschein das Stückchen Papier genauer an. Voller Begeisterung sah ich, als begnadeter Knabenfußballer, mit einer eigenen ansehnlichen Torquote, schemenhaft auf diesem Fetzen ein Bild mit Fußballern von meinem Hamburger Sport Verein. Für einen Moment waren meine fürchterlichen Ängste wie weggeblasen. Ich schwärmte kurz vom Fußball und träumte davon auch einmal meiner Lieblingself im Stadion zuschauen und zujubeln zu können. Für mich war klar, sollte ich es von hier wieder lebend ins Haus und bis in mein Bett schaffen, werde ich alles daran setzen, mir im kommenden Frühjahr ein Spiel vom Hamburger SV, im Stadion am Rothenbaum, mit meinem Idol, dem Jungstar und Mittelstürmer Uwe Seeler, anzusehen. Ich schaffte es auch diesmal wieder unversehrt, allerdings mit dem Abdruck des verschmierten Spielerbildes am Po, zurück in mein Bett. Diese in all den Jahren notwendigen, nächtlichen, voller Angst und Panik absolvierten Plumpsklobesuche, entwickelten in mir eine gewisse Entschlossenheit, Dinge anzupacken, die sich nicht jeder traute. Bewusst wurde mir dieser Mut aber erst später. Mit dem baldigen Besuch beim HSV war für mich das Unmögliche abgemacht. Allerdings ahnte ich schon, alleine ins Stadion zu fahren, würde mir nie und nimmer erlaubt werden. Da brauchte ich meine Eltern gar nicht erst zu fragen. Dass ein älterer Bruder oder mein Vater mich, den Hamburger Nachzügler, dahin begleiten würden, war genauso undenkbar. Ich wusste schon, welche Antwort ich bekommen hätte. “Du bist viel zu jung, hast eh keine Ahnung vom Fußball, schade um das teure Eintrittsgeld“. Ich musste das also alleine durchziehen. In der Enge, in der wir wohnten, war es allerdings schwer Geheimnisse zu verbergen. Not macht erfinderisch, es war mir tatsächlich gelungen meine Vorbereitungen zum Stadionbesuch, der Familie geschickt zu verheimlichen. Der Erwerb einer Eintrittskarte war für mich als Mittelloser eine teure Angelegenheit. Ich bekam ja kein Taschengeld. Wer bekam damals schon Taschengeld? Also musste ich mir etwas einfallen lassen. Als Lösung kam für mich Schrottsammeln in Betracht. Wochenlang habe ich dann täglich nach Altmetall gesucht. Bis ich genug ergattert hatte, wurde das kostbare Gut sorgsam von mir in einem Versteck gebunkert. Den Schrotthöker kannte ich von früheren Sammelaktionen mit meinen älteren Brüdern. Als ich annahm endlich genug gesammelt zu haben, konnte ich das Zeug dann dort verkaufen. Bei der Abgabe meiner kostbaren Fracht wurde ich mit Sicherheit von dem Schrottganoven übers Ohr gehauen, aber der Erlös reichte trotzdem. Gerade noch rechtzeitig zum letzten Heimspiel in der Oberligasaison 1954/55 am Sonntag, den 24. April 1955, konnte ich mir von dem verdienten Geld die ersehnte Eintrittskarte kaufen. Mein HSV war schon Meister und musste im letzten Heimspiel gegen die Elf von Göttingen 05 antreten. Dann war er da, mein großer, ersehnter Tag. Mein erster Besuch beim HSV stand an. Ich war sehr angespannt. Ich hatte ja keinen blassen Schimmer, was mich im Stadion am Rothenbaum so erwartet. Denn mein Wissen lag bei null. Im Frühjahr 1955 hatten wir natürlich auch noch keinen Fernseher. Meine Kenntnisse über den Oberligafußball holte ich mir Sonntagabends aus dem Radio. Dann hockte ich immer vor unserem Volksempfänger. Denn nach den 19.00 Uhr-Nachrichten auf NWDR und dem Aufruf an die Hafenarbeiter sich am nächsten Morgen in der Admiralitätstraße zu melden, weil soundso viel Arbeiter benötigt wurden, folgten dann die Sportmeldungen; meist zuerst aus Köln und dann aus Hamburg. Voller Spannung hörte ich mir dann die Spielergebnisse an und freute mich, wenn mein Verein gewonnen hatte. Es war ein Sonntag, ich verabschiedete mich von meiner Mutter mit der Notlüge, dass ich, wie häufiger am Sonntag, zum Bramfelder Sportplatz ginge, um mir ein Fußballspiel anzusehen. Hier in der Ersten Herren spielten Kuddl Dedecke als Mittelstürmer und Harry Kakutsch im Tor. Sie waren für uns Kinder auch schon Idole, zumal Harry uns häufig geholfen hat auch ohne zu bezahlen am Kassenhäuschen vorbei auf den Sportplatz am Diekstücken zu kommen. Aber die richtigen Fußballgrößen waren natürlich die Spieler vom Hamburger Sportverein. Von Bromfeld geiht de Strootenbohn. Diese Aussage hörte ich häufiger von den plattdeutsch sprechenden Alt- Bramfeldern. Ich dachte dann immer, sie meinten, wenn du die Welt kennenlernen möchtest, dann setz dich in die Straßenbahn und fahr los. Das habe ich dann auch gemacht, obwohl mir doch ganz schön mulmig zu Mute war, als ich zum ersten Mal alleine in der Straßenbahn der Linie 9 saß und in Richtung Hamburger Innenstadt fuhr. Das Abenteuer, zum Stadion zu fahren, musste ich jetzt durchziehen. Es war in mir eine Mischung aus Neugier, Vorfreude und schlechtem Gewissen. Nach einiger Zeit erreichten wir mit dem Rhabarber Express. So nannte man liebevoll unsere Linie 9, weil sie in Bramfeld an vielen Rhabarberfeldern vorbei fuhr, den Bereich der Hamburger Straße. Dort lagen noch bis 1953 große, hässliche Trümmerberge, der von den Alliierten Bombern im Zweiten Weltkrieg zerbombten Wohnblöcke. Immer wenn ich mit meiner Mutter mit der Straßenbahn dort vorbei kam, erzeugte der Anblick dieser Ruinen in mir Angstzustände und es lief mir ein kalter Schauder über den Rücken. Hier hatten die Alliierten 1943 mit der Operation Gomorrha beim dritten Großangriff einen verheerenden Bombenabwurf durchgeführt. Viele tausend Menschenopfer waren zu beklagen. Insgesamt sollen fast 37.000 Opfer, darunter viele Kinder, Frauen, alte Menschen, durch das Bombardement vom 24. Juli bis zum 03. August 1943 in Hamburg ums Leben gekommen sein. Die Perversion der Alliierten die Bombardierung durch eine Mischung von Luftminen, Spreng-, Phosphor- und Stabbrandbomben durchzuführen galt allein dem Ziel zur Vernichtung der Zivilbevölkerung. Denn deutsche Fabriken zu zerbomben, machte in britischen Kriegsüberlegungen keinen Sinn, weil diese vom Gegner einfach wieder aufgebaut würden. Tote Arbeiter könnten so schnell nicht ersetzt werden. Wenn dabei auch noch Frauen und Kinder krepierten, umso eher, dachten die Alliierten, wäre der Kriegswillen der deutschen Naziherrschaft und deren Volk gebrochen. Die restlichen, zertrümmerten Mauerreste, die dort auf dem freien Gelände noch viele Jahre lagen, erinnerten mich auch gleichzeitig immer an Berlin. Dort war ich nach dem Ende der Berliner Blockade zwischenzeitig häufiger zu Besuch bei meiner Oma Pauline, der Mutter meiner Mutter, im Westteil der Stadt. Sie wohnte in einem Mehrfamilienhaus, wobei die eine Hälfte des Hauses nur noch eine unbewohnbare, zerbombte Ruine war. Hier in Berlin waren noch viel, viel mehr Trümmer an den Straßenzügen als Relikt des Zweiten Weltkrieges zu sehen. Diese grausamen Ruinenbilder werde ich wohl zeitlebens nie vergessen. Schon damals als Kind war mir klar, in den Trümmern starben sehr, sehr viele Menschen und der Krieg ist grausam und kann nur von Wahnsinnigen gewollt sein. Die Bahn juckelte derweil weiter, an Mundsburg entlang, quälte sich durch die enge Straße Lange Reihe in Richtung Innenstadt zum Hauptbahnhof. Bimmelte sich durch die Mönckebergstraße, bevor sie den großen Platz am Rathaus überquerte. Sie fuhr dann weiter über den Jungfernstieg am Alsterhaus vorbei. Nachdem sie dann den Gänsemarkt passierte, erreichte sie den kaiserlichen Dammtorbahnhof. Weiter durch den Mittelweg rumpelte die Straßenbahn über Winterhude dann ihrem Endziel, dem Hamburger Flughafen, entgegen. Ich bin dann allerdings schon am Mittelweg, in Höhe der Hallerstraße, ausgestiegen. Hier konnte man schon den Rummel und das Drum und Dran der Fußballveranstaltung spüren. Meine Stimmung hellte sich auf. Voller Erwartungen machte ich mich auf den Fußweg ins Stadion am Rothenbaum. Auf diesem Sportplatz spielte mein HSV in dieser Zeit seine Heimspiele aus. Von weitem war die Arena schon sichtbar. Ein für mich imposantes, großes Etwas, eben ein Stadion mit Tribünen, Kassenhäuschen, Wurst- und Bierständen, wehenden Fahnen und einer Lautsprecheranlage, deren Durchsagen man bis weit nach außerhalb hörte. Als ich endlich am Eingang zum Stadion beim Kartenabreißer angekommen war, merkte ich, dass das Spiel schon angepfiffen war. Schnell bin ich über die Treppe zur Plattform der Stehplätze hochgestiegen. Doch was sah ich dann, kein Spielfeld und keine Spieler. Meine Enttäuschung war riesengroß, denn eine nicht endende, undurchdringbare Menschenwand baute sich vor mir auf. Erwachsene Männer, alle mit Hut und breiten Schultern standen dort grölend und beobachteten das Spiel von meinem HSV. Nur ich konnte nichts sehen. Nun stand ich als kleiner Steppke traurig dahinter. „Bin einfach zu spät angekommen. So ein Mist“, dachte ich. Es schien aussichtslos zu hoffen, dass irgendwer auf die Idee käme, Erbarmen mit mir zu haben, um mich durch diese Menschenmauer nach unten durchzulassen. Eine Lösung musste her. Vorerst blieb mir nur vorbehalten, die Zuschauer zu beobachten. Ich schaute mir das Geschehen sozusagen von hinten an und beobachtete die Männer, wie sie mit dem Spiel und ihren Spielern miteiferten, sie beklatschten und die gegnerischen Spieler ausbuhten. Dabei tranken viele Bier und im Laufe der Zeit merkte ich, dass die Menschenmauer brüchig wurde. Die Leute hatten wohl doch schon das eine oder andere Bier intus und mussten nun pinkeln gehen. Das Bollwerk der Menschenmasse wurde durchlässig. Das war meine Chance, so konnte ich mich durch die Massen drängeln, musste mir dabei allerhand blöder Sprüche anhören, wie: „Na Mittagsschlaf zu Ende und hast du frische Windeln an, du Grünschnabel!“ Ich schaffte es, trotz aller Demütigungen, bis nach unten und stand nun hinter dem Tor mit voller Sicht auf das Spielfeld. Mein Traum wurde wahr. Ich hatte es geschafft, konnte nun mein Idol Uwe Seeler sehen. Leider wurde er gerade gefoult. Mit schmerzverzerrtem Gesicht lag er am Boden. Die Zuschauer pfiffen den Gegner aus. Doch Uwe rappelte sich wieder auf und das Spiel ging weiter. Kurze Zeit später rächte sich ein robuster HSV-Abwehrspieler mit einer rüden Grätsche an dem fiesen, gegnerischen Rubber, der dann zu Fall kam und mit einem lauten Schrei den Rasen umpflügte. Das Stadion flippte vor hämischer Freude aus. Zum Spielschluss jubelten die Zuschauer begeistert. Sieg, Sieg, Sieg. Mein HSV gewann natürlich das Spiel sicher und gekonnt mit 4:0. Das war es, hautnah dabei, beim Oberligafußball, nahe meinem Idol. Welch ein schönes Gefühl. Ich genoss den Augenblick in vollen Zügen. Mein erträumtes Abenteuer ging gerade in Erfüllung. Davon hätte ich gerne mehr erlebt. Im Übrigen verlor der HSV sein letztes Punktspiel dieser Oberliga Nord Saison 1954/55 ausgerechnet gegen den Stadtrivalen Altona 93 mit 3:2. In dieser Mannschaft spielte zu der Zeit Uwes älterer Bruder Dieter. Als Tabellenerster schloss der HSV die Saison souverän mit 47:13 Punkten und 108:41 Toren vor der Elf von Bremerhaven 93, Altona 93 und Werder Bremen ab. Somit wurde die Mannschaft unter dem neuen Trainer Martin Wilke zum 17. Mal Norddeutscher Meister und erreichte die Endrunde zur Deutschen Meisterschaft. Der Trainer und der Jugendtrainer Günther Mahlmann schafften in der zurück liegenden Saison den Umbruch mit neuen Spielern, die in die Ligamannschaft geholt wurden. Neben Uwe Seeler kamen dazu auch die talentierten Nachwuchsspieler Klaus Stürmer und später Jürgen Werner und Gerd Krug. Uwe Seeler und Klaus Stürmer schossen sich gleich mit vielen Toren in die Herzen der Anhänger. Die Norddeutsche Torschützenkönigskrone musste sich allerdings Uwe Seeler mit dem damaligen, älteren Sturmpartner Günter Schlegel mit jeweils 28 erzielten Pflichtspieltoren teilen.
Deutscher Meister wurden sie damals leider nicht. In den Gruppenspielen belegte der HSV nur den zweiten Tabellenplatz, hinter der dem 1. FC Kaiserslautern. Rot-Weiß Essen holte sich, mit dem Nationaltorhüter Fritz Herkenrath und dem Weltmeister Torschützen von 1954, Helmut Rahn, diese Würde. Als Erster der Gruppe 2 besiegte die Mannschaft am 26. Juni den hohen Favoriten 1. FC Kaiserslautern im Endspiel im Niedersachsenstadion Hannover mit 4:3. Das war schon eine Sensation, gegen die „Walter Elf“ aus der Pfalz, die mit fünf Weltmeistern von 1954 antrat, zu gewinnen. Die von mir geliebte HSV-Mannschaft wurde erst in der Saison 1959/60 wieder Deutscher Meister. Sie gewann nach einem großen Kampfspiel mit 3:2. Mit seinem zweiten Treffer in der 87. Minute sicherte Uwe Seeler den Sieg gegen den 1. FC Köln. Den dritten Treffer für den HSV gelang Linksfuß Gert, genannt Charly, Dörfel, in der 79. Minute zum zwischenzeitlichen Spielstand von 2:1. Berauscht vor Glück machte ich mich nach dem Spiel auf die Socken, um nach Hause zu fahren. Nachdem ich mich in die Büsche verschlagen hatte um auch erst mal zu pinkeln, stieg ich an der U-Bahnhaltestelle Hallerstraße in die Hochbahn. Nach Spielschluss wollten natürlich alle Fans gleichzeitig den Heimweg antreten. Es herrschte ein riesiges Gedränge auf den Treppen zum Bahnhof und unten auf dem Bahnsteig. Zeitweilig hatte ich Angst, dass ich zerquetscht würde, mir blieb bei diesem Geschiebe die Luft weg. Aber irgendwie habe ich es geschafft in eine U-Bahn zu gelangen, die mich, mit einmal Umsteigen in der Kellinghusenstraße, nach Barmbek brachte. Hier musste ich noch einmal in die Straßenbahn umsteigen. Glücklich und zufrieden saß ich nun wieder in der Linie 9, die mich dann in unser Dorf zurück schaukelte. Ich hatte einen Sitzplatz und schaute mir aus dem Fenster die vorbeigleitende Gegend an. Es spiegelte sich mein Gesicht in der Scheibe und da sah ich mich stolz sitzen. Ich, der kleine Furz, hatte es geschafft, unbeschadet meinen ersten Stadionbesuch beim HSV am Rothenbaum zu erleben. Einige Szenen des Fußballspiels mit Uwe Seeler und Klaus Stürmer huschten in meinem Gedächtnis noch einmal vorbei. Uwes Kopfballspiel, Klaus Pässe, einfach genial. Ich stellte mir vor, auch einmal so ein guter Fußballballspieler zu sein, um dann in einer Mannschaft wie dem HSV oder Real Madrid, den „Königlichen“ spielen zu dürfen. Dort spielte damals der argentinische Alfredo Di Stefano als Mittelstürmer. Er galt als Ausnahmefußballer, wegen seiner Torgefährlichkeit. Seine überraschenden Vorstöße in den gegnerischen Strafraum stellten nahezu jede Abwehr vor größte Probleme. Gleich in seiner ersten Saison für den Klub 1953/54 erzielte er 27 Treffer. Von den Fans bekam er den Beinamen „Die Lanzenspitze“. Real feierte nach 21 Jahren wieder die spanische Meisterschaft. Meine freudige Fantasie überwältigte mich. Je näher ich allerdings nach Hause kam, umso mehr schwand meine Glückseligkeit. Wegen der Notlüge gegenüber meiner Mutter hatte ich ein ungutes Gefühl im Bauch und ein schlechtes Gewissen im Kopf. Ich machte mir schon Sorgen, ob mein Ausflug ein gutes Ende nehmen würde. Besonders nachdenklich wurde ich in dem Moment, als die rumpelige Straßenbahn auf dem Heimweg durch die Fabriciusstraße fuhr und an der Haltestelle Seehof quietschend anhielt.
Hier am schönen Bramfelder See führte die Seehofstraße durch ein Tor auf den Ohlsdorfer Friedhof. Als ich das riesige schmiedeeiserne Eingangstor erblickte, erinnerte ich mich an einen für mich prägenden, traurigen Besuch 1950 mit meiner Mutter, auf diesem großen Friedhof. Nach der Übersiedelung im November 1945 aus dem russischen Sektor von Ost-Berlin nach Hamburg in die Britische Besatzungszone, wohnte meine Familie in ärmlichen zwei Zimmern in einem bäuerlichen Nebengebäude im Dorf Bramfeld an der Teichstraße, direkt gegenüber vom Alten Teich. Der Ort gehörte seit 1867 zum Kreis Stormarn im preußischen Schleswig-Holstein. 1937, in der Nazizeit, kam der Bereich als Stadtteil im Zuge des Groß-Hamburg-Gesetzes zu Hamburg. Nach dem ersten Weltkrieg war hier das größte Gemüseanbaugebiet nach den Vier- und Marschlanden. Die Kohl- und Rhabarberfelder, die sich zu beiden Seiten der Bramfelder Chaussee von der Barmbeker Grenze bis zur Ortsmitte bei der Osterkirche erstreckten, waren für einige Jahrzehnte dessen Markenzeichen.
Von der Unterkunft, eines ziemlich runtergekommenen Reetdachhaus, war es für meine kurzen Beine schon ein weiter, beschwerlicher Wanderausflug bis zum Ohlsdorfer Friedhof. Wir wollten dort, so sagte es mir meine Mutter, meine Schwester Barbara besuchen.
Der Ohlsdorfer Friedhof wurde am 01. Juli 1877 eingeweiht und ist mit 391 Hektar der größte Parkfriedhof der Welt. Über das gesamte Areal verteilen sich 235.000 Grabstätten. An einem schönen Sommertag nahm mich also meine Mutter an die Hand, um mit mir dorthin einen Spaziergang zu machen. Entlang der Straßenbahngleise, der Linie 9, die ab 1948 von hier über Barmbek in die Hamburger Innenstadt führte, gelangten wir zum Friedhofseingang Seehof am Bramfelder See, an dessen Nordufer der Hauptfriedhof Ohlsdorf grenzt. Dieser See, ein Fleckchen Paradies, früher als “Neuer Teich“ bezeichnet, ist deutlich größer als der “Alte Teich“ . Durch den Bau einer Schleuse zur heutigen Seebek trug dieser See seinen Teil zur Bewässerung der örtlichen Gemüseanbauflächen bei.
Die Sonne strahlte durch die Blätter der großen Bäume, die am Rande der Allee standen.
Meine Schwester “wohnte“- so hatte man mir es als Kind erklärt - schon ziemlich weit weg auf dem Friedhof. Die Lust zum Laufen war bei mir aufgebraucht und ich wollte und konnte nicht mehr. Kantstein rauf, Kantstein runter hopste ich widerwillig die Straße entlang. Meine Mutter sang mit mir das Kinderlied Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein. Sie wollte mich ermutigen, den letzten Kilometer Fußweg auch noch zu schaffen. Der Friedhof sah für mich wie ein schöner Park aus. Die Eichhörnchen kletterten übermütig die Bäume rauf und runter. Sie waren putzig und lustig. Es sah alles so still und friedlich aus, aber für mich war es auch irgendwie unheimlich. Als wir dann die Hauptstraße verlassen hatten und über einen schmalen Weg zu einer Stelle kamen, wo ein einfaches Holzkreuz stand, hatte sich diese komische Stimmung in mir abrupt verstärkt. Ich wurde ganz still und nachdenklich. Hier wohnte sie, meine Schwester Barbara, im Grab. Sie war das fünfte Kind unserer Familie und wurde nicht einmal vier Jahre alt. Während der Flucht vor den Russen erkrankte die Arme an Diphtherie. Ohne Medikamente endete diese Infektionskrankheit für sie am 14.12.1945, wenige Wochen nach der Ankunft in der neuen Heimat, tödlich. In Erinnerung an ihre Tochter fing meine Mutter hemmungslos an zu weinen. Ihre Trauer war mir vorher nie so bewusst gewesen. Ich stand geschockt neben ihr, denn ich konnte mit meinen drei Jahren ihre Gefühle nicht deuten. Nach einer Weile nahm sie mich in den Arm und wir trösteten uns gegenseitig. Meine Mutter blieb mit mir noch lange am Grab und erzählte mir von Barbara. Sie war unfassbar traurig, dass sie meiner Schwester nicht helfen konnte und erzählte mir von dem schrecklichen Krieg und versuchte mir zu erklären, warum hier auf dem Friedhof die toten Menschen vergraben werden müssen. Ich war bestimmt schon vorher mit meiner Mutter am Grabe meiner Schwester gewesen, aber dieser Besuch war für mich so intensiv, dass mir dieses Ereignis als erste Kindheitserinnerung auf Dauer geblieben ist und ausgerechnet heute nach dem Fußballspiel wieder hoch kam. So wie mir muss es vielen Menschen hier auf dem Friedhof ergangen sein. Denn es lagen hier tausende Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Zu ihnen zählen die deutschen Soldatengräber beider Weltkriege, die Gräber und Ehrenanlagen der verschiedenen Nationen, wie Britische, Niederländer, Polnische und Sowjetische, die Bombenopfergräber, die Gräber jüdischer Opfer und die der Widerstandskämpfer im Dritten Reich. Allein 36.918 Bombenopfer wurden in einem Sammelgrab und 2.282 in Einzelgrabanlagen beigesetzt. Der parkähnliche Friedhof war ein würdevoller Bestattungsort, konnte aber die Trauer und Sorgen der Hinterbliebenen nicht mindern.
So sorgte sich auch meine Mutter vehement um ihre Kinder. Auch wenn ihr jüngster Sohn nachts alleine auf das Plumsklo hinter dem Haus im dunklen Garten gehen musste und der sich dort abenteuerliche Dinge einfallen ließ. Nun erreichte ich kleiner Schwindler mit schlechtem Gewissen ziemlich spät unser Zuhause. Offiziell kam ich ja von unserem heimischen Sportplatz. Hoffentlich wollte niemand von mir hören wie das Endergebnis vom Spiel der BSV 1. Herrenmannschaft lautete. Auf dem Heimweg, von der Straßenbahnkehre bis zu unserem Haus hatte ich leider niemanden getroffen, den ich danach hätte fragen können. Nach dem 20-minütigen Fußmarsch kam ich also ohne Kenntnis wie das Spiel endete zu Hause an. Die Frage danach wäre mir schon recht peinlich gewesen. Zum Glück blieb mir dieses Problem erspart. Wie so häufig waren die anderen Familienmitglieder mit sich selbst beschäftigt. Keiner nahm Notiz von meiner Heimkehr und so brauchte ich mich auch nicht zu erklären. Obwohl ich zu gerne meinen größeren Brüdern von dem Erlebnis, Uwe Seeler live beim Fußballspielen zu sehen, erzählt hätte, zumal sie auch noch in erster Linie Sympathie zum Berliner Fußballclub Hertha BSC hatten. Das ging aber leider nicht, sonst hätte ich in den folgenden Zeiten mit Sicherheit nicht mehr die Möglichkeit gehabt, mich hin und wieder unbemerkt von der Familie abzusetzen, um alleine zu den Spielen meines HSV am Rothenbaum zu fahren.
In unserem Garten, im Pfirsichweg, stand tatsächlich ein Pfirsichbaum. Er war wohl schon recht alt und beschenkte uns kaum noch mit leckeren, süßen Früchten. Dieser Baum stand von seiner Art her alleine in mitten von Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Kirschbäumen, die sich darin übertrumpften in der Erntezeit uns mit vielen wohlschmeckenden, saftigen Früchten zu erfreuen. Dieser ziemlich große, aber schon gebrechliche Pfirsichbaum mit spröden Ästen, erschien mir als Kind, war einsam unter den anderen Bäumen in unserem Garten. Genauso erging es mir, dem Hamburger in der Berliner Familie. Es gab für mich niemanden, dem ich meine Sorgen, Nöte oder Wünsche anvertrauen konnte. Meinen Eltern und Geschwistern fehlten die Fähigkeiten mir, dem Kleinsten, zuzuhören um mich gegebenenfalls mit Ratschlägen zu versorgen oder auch einmal Mitgefühl an meinen Problemen zu zeigen. Ich hatte einfach die Klappe zu halten und musste mich immer hinten anstellen. Andere Vertrauenspersonen waren für mich nicht vorhanden. So teilte ich mir meine Gefühle mit dem Pfirsichbaum und erzählte ihm auch, dass ich heute heimlich beim HSV am Rothenbaum war. Ich berichtete ihm, wie ich ganz alleine mit der Straßenbahn zum Fußballstadion gefahren bin. Wie ich mich durch die Zuschauer gedrängelt habe, um das Geschehen auf dem Fußballfeld sehen zu können. Voller Begeisterung schwärmte ich dann noch einmal von den Spielern des HSV, wie sie gerannt und gekämpft haben und wie der Torwart unglaubliche Paraden gezeigt hatte, damit der Ball nicht in seinem Netz zappelte. Die alten Zweige des Baumes bewegten sich heftig im Wind, als ob er mir ein Lob und Anerkennung aussprechen wollte. Ich fühlte mich vom Pfirsichbaum sehr geehrt. Zur Belohnung kickte ich noch mit ihm eine Weile, denn sein dicker Stamm war ein verlässlicher Rückpassgeber und beim Daddeln stellten wir uns in meiner Fantasie immer wieder die für mich offenen Fragen: „Warum steht dieser Pfirsichbaum hier in unserem Garten und nicht irgendwo in China?“ „Und in was für eine Familie, die mit welchem Schicksal behaftet ist, bin ich eigentlich hinein geboren worden ?“