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II. William Giffrey
ОглавлениеThomas und William wuchsen in einem gut behüteten Umfeld auf. Während Thomas den Mut und die Unbekümmertheit seines Vaters geerbt hatte, war William eher von sensiblem und zurückhaltendem Charakter. Doch trotz ihrer Unterschiede verstanden sie sich gut, und sollte William von anderen Kindern angefeindet werden, so sprang Thomas dazwischen und stand seinem schmächtigen Bruder bei. Mit dem siebten Lebensjahr wurde Thomas als Page an den königlichen Hof berufen, während William sich hauptsächlich mit Büchern beschäftigte. Alfons verstand seinen Adoptivsohn nicht und versuchte ihn immer wieder zu beeinflussen. „Du willst ein Gelehrter werden, dann lerne zunächst Deinen Mann zu stehen. Orientiere Dich an Thomas, er hat im Gegensatz zu Dir den richtigen Weg eingeschlagen.“ Thomas wurde mit vierzehn Jahren zum Knappen ausgebildet. William dagegen ließ sich nicht umstimmen. Ihn interessierten Themen wie die Astronomie, die Medizin und die Architektur. Zumindest bei diesem Handwerk kam er den Interessen seines Vaters nahe, und so sagte Alfons zu seinem Adoptivsohn: „Wenn Du nicht die Kampfkunst erlernen möchtest, dann werde Kathedralen Bauer. Das hat noch Zukunft. William, der glaubte alles werden zu können, gab schließlich dem Wunsch seines Vaters nach und beschäftigte sich ab jetzt mit der Geometrie und dem Zeichnen. Er begann seinem Adoptivvater sogar bei dessen Arbeit zur Hand zu gehen. Unterdessen hatte die Regentschaft in Schottland wiederholt gewechselt. Der Earl of Moray war im Jahr 1332 gestorben und Eward Balliol strebte die Königswürde in Schottland an. Viele Schotten unterstützten allerdings den rechtmäßigen minderjährigen Thronerben David II., den Sohn vom inzwischen verstorbenen Robert Bruce. Für Alfons und seine Familie änderte sich dadurch allerdings nichts. Die Jahre vergingen und die Brüder wuchsen zu jungen Männern heran.
Thomas erhielt wegen seiner treuen Dienste und seiner Tapferkeit, obgleich er nicht von Adel war, schon mit zweiundzwanzig Jahren den Ritterschlag, und der ein Jahr jüngere William wurde in den Stand eines Zunftmeisters erhoben. Obwohl beide so verschieden waren, ähnelten sie sich in den Punkten Ausdauer und Pflichterfüllung. Während Thomas auf Turnieren seine Kampfkünste bewies, interessierte sich der kreative William inzwischen auch für die Medizin. Das ging so weit, dass er aufgrund seines Wissens von Ärzten herangezogen wurde, um seine Meinung bezüglich der Diagnosen und der Behandlung von Patienten beizusteuern. Ein Jahr später im Jahr 1340, inzwischen war der hundertjährige Krieg zwischen England und Frankreich ausgebrochen, folgte Thomas weiter loyal seinem jungen König David II. 1346 kam es zur Schlacht von Neville´s Cross, wo die Schotten eine schwere Niederlage hinnehmen mussten. Thomas geriet genauso wie sein König in Gefangenschaft, konnte ein Jahr später aus London fliehen und kehrte nach Edinburgh zurück. Zwei Jahre später brach auf dem britischen Festland die Pest aus. Besonders in Großstädten wie London, wurde fast die Hälfte der Bevölkerung von der Seuche dahingerafft. Und die tödliche Krankheit machte auch vor Schottland nicht halt. Ärzte hatten Angst sich zu infizieren, doch William sah in der Seuche eine Herausforderung. Er wollte sein medizinisches Wissen einsetzen, um die Pest aufzuhalten. Er sah Aderlass, Einläufe und Brechmittel als die falschen Behandlungsmethoden an und suchte verzweifelt nach alternativen Heilmitteln. Doch musste er schnell feststellen, dass Naturheilmittel keine Lösung gegen die Ausbreitung der Epidemie darstellten. So kam er auf die Idee, nicht die Symptome, sondern die Auslöser zu bekämpfen. Die meisten seiner Kollegen gingen davon aus, dass die Pest durch faulige Dämpfe oder ungünstige Sternenkonstellationen hervorgerufen wurde.
William dagegen war ein guter Beobachter und war der Überzeugung, dass es einen Zusammenhang zwischen dem vermehrten Auftreten von Ratten und der Krankheit geben musste. Als er den anderen Medizinern von seiner Beobachtung berichtete und seine Vermutungen zur Ausbreitung der Krankheit darlegte, wurde er für verrückt gehalten und von der Gilde der Mediziner ausgeschlossen. Einzig zwei Meister des Handwerks vertrauten seinen Schlussfolgerungen, rieten ihm aber sich wieder dem Kathedralen-Bau zu widmen, da sie befürchteten, dass seine Karriere als Arzt in Schottland wohl beendet war. In seinem Stolz wehrte sich William lange gegen seine Verleumder, musste aber angesichts des massiven Drucks von außen dem Protest der Ärzteschaft nachgeben. Thomas erkannte schnell die Probleme seines Bruders und beschloss ihm in jeder Form zu helfen. Ihre Eltern waren zudem an der unheilvollen Seuche erkrankt und so war es nur noch eine Frage der Zeit, bis auch sie sterben sollten. „Unsere Eltern werden bald das Zeitliche segnen, wir sind dann ohne Familie und uns hält ab da nichts mehr in Schottland. Ich würde Dir sogar an das Ende der Welt folgen lieber Bruder.“ William war gerührt von der Ansprache seines Bruders, gleichzeitig aber unentschlossen in Bezug auf die Option Schottland zu verlassen. „Was ist mit Marie und Louise, meinst Du, sie würden unsere Entscheidung mittragen und uns folgen?“ „Wir reden beide mit ihnen und dann werden wir sehen, ob sie unsere Idee unterstützen.“ „Wohin willst Du überhaupt auswandern?“, fragt darauf William, „die Pest gibt es überall.“ Thomas überlegte kurz. „Wie wäre es, wenn wir in die Heimat von Johan und Alfons aufbrechen würden, also nach Frankreich. Wir sind keine Templer wie Johan einer gewesen ist, ergo werden wir dort nicht steckbrieflich gesucht. Ich denke, die Franzosen hätten für uns beide Verwendung. Als Schotten und als Feinde von England gebe es vielleicht sogar die Chance am Hofe von Philipp VI. angenommen zu werden. Du als Arzt und ich als Ritter.“ William erbat sich Bedenkzeit bis zum nächsten Morgen, dann würde er eine Entscheidung treffen. Am folgenden Tag trafen sich die Brüder mit ihren beiden Schwestern und erklärten Ihnen ihren Plan. „Wir werden in Schottland bleiben“, sagte Marie. „Ich habe eine gute Stellung am Hofe und Louise wird bald heiraten.“
Nach der Verabschiedung von ihren Schwestern standen Thomas und William zwei Stunden später am Hafenufer von Leith und suchten eine Möglichkeit, um nach Frankreich überzusetzen. Als sie gegenüber einem Kapitän ihren Wunsch äußerten, erfuhren sie, dass Calais erst vor kurzem von den Engländern erobert wurde. Die ganze Nordküste von Frankreich sei inzwischen gefährlich. Es gebe nur eine Möglichkeit und die wäre, Spanien und Portugal zu umrunden und Marseilles anzusteuern. „Allerdings hört man, dass gerade in Marseille und der Provence die Pest besonders schlimm wüte“, sagte der Kapitän. „Wann würde denn ein Schiff nach Marseille auslaufen“, wollte William wissen. „Morgen früh legt die Konrad in Leith an. Sie fährt die Route nach Südfrankreich, und wenn Ihr genügend bezahlt, bekommt Ihr sicherlich einen Platz auf der Kogge.“ Am folgenden Tag standen Thomas und William an dem Pier, und nach weniger als zwei Stunden konnte William den Einmaster auf See ausmachen. Als das Schiff anlegte, stürmten die Brüder los und unterbreiteten dem deutschen Kapitän ihr Anliegen. „Wir laufen allerdings erst morgen aus“, sagte dieser und fügte hinzu: „Für die Überfahrt berechne ich Euch vier Goldmünzen, und Ihr müsst auf Deck schlafen, da die Kojen alle belegt sind.“ „Wir haben für heute Nacht keine Übernachtungsmöglichkeit, können wir schon heute an Deck schlafen?“, fragte Thomas. „Das kostet zehn Pennys extra“, erwiderte der Kapitän. „Wir haben Getreidesäcke an Bord, damit könnt Ihr Euch einen Schlafplatz einrichten.“ Die Nacht war kalt, und die Brüder wärmten sich gegenseitig, wobei William immer wieder aufwachte und nie richtig in den Schlaf fand. So begann er in der Nacht zu grübeln. Würden die Franzosen seine Meinung als Mediziner akzeptieren, obwohl er keine Ausbildung zum Arzt genossen hatte. Immer noch fühlte er sich mehr zum Mediziner berufen als zum Baumeister, obgleich er so viele Anfeindungen über sich ergehen lassen musste. Kranken zu helfen und nach neuen Heilungsmethoden zu forschen, das sah er als seine eigentliche Berufung an. Am nächsten Tag lief die Konrad aus, an Bord etwa zwanzig Matrosen, ein Duzend Soldaten und fünf weitere Personen, anscheinend Edelleute, darunter drei junge und anmutige Frauen.
Thomas fiel besonders die von ihrer Statur größte der jungen Frauen auf. Sie hieß Isolde und sollte in Frankreich mit einem französischen Grafen verheiratet werden. Ihre Eltern, ein reicher Händler aus Lübeck und seine adlige Frau hatten dem französischen Bräutigam angeblich eine enorme Mitgift versprochen, nur damit Isolde in eine adlige Familie einheiraten konnte. „Lass Dich nur nicht erwischen“, ermahnte William seinen Bruder. „Wenn das herauskommen sollte, dass Du dermaßen mit ihr flirtest, werfen sie uns wahrscheinlich über Bord. Sie ist jemandem anderen versprochen, und das solltest Du akzeptieren.“ Doch Thomas ließ sich nicht abhalten, und traf sich jeden Abend, wenn die Mannschaft schlief, auf dem Kapitell mit seiner Angebeteten, wobei er nicht nur Worte mit ihr austauschte. Die Wochen vergingen und die Kogge war schon auf der Höhe von Gibraltar, da fasste Thomas den Entschluss, nach der Ankunft in Marseille mit Isolde durchzubrennen. Der ahnungslose Vater der jungen Edelfrau erhoffte sich indessen durch die Vermählung seiner Tochter mit dem französischen Grafen besondere Anerkennung in seiner Gilde und in der Zukunft gute Handelsbeziehungen mit französischen Kaufleuten. Erst als die Konrad Wochen später in Marseille einlief, erklärte sich Thomas gegenüber seinem Bruder, der dessen Entscheidung nicht fassen konnte. „Wenn wir in Sicherheit sind, dann lasse ich Dir eine Nachricht über unseren Aufenthaltsort zukommen“, sagte Thomas zu William. „Du kannst uns jederzeit besuchen kommen.“ „Wir wollten uns nie aus den Augen lassen, erinnerst Du Dich, wir haben es uns versprochen“, entgegnete William. „Was soll ich denn in diesem Land alleine. Ohne Dich ist mein Leben nur die Hälfte wert.“ Thomas umarmte seinen Bruder ganz herzlich. „Du hast hier eine Aufgabe. Ich weiß, dass Du ein wunderbarer Arzt bist, auch wenn Du keine allgemeine Zulassung besitzt. Die Menschen hier brauchen Dich. Sieh Dich nur um. Überall liegen Leichensäcke und dann der Gestank von fauligem Fleisch. Du bist geschaffen für diese Herausforderung, ich sehe für mich hier keine Zukunft, aber ich liebe Isolde, und noch heute Nachmittag werden wir zusammen durchbrennen.“ William wurde bewusst, dass sein Bruder es todernst meinte und sich nie eines Besseren belehren lassen würde. Daher gab er nach und ließ Thomas ziehen. Nachdem dieser ein Pferd organisiert und Isolde am vereinbarten Platz getroffen hatte, suchten beide das Weite.
William hatte kaum noch Geld und hoffte auf eine preiswerte Unterkunft, doch die meisten Betten waren belegt. Als er am Hafen von Marseille entlang spazierte, musste er mit ansehen, wie allerorts die Toten auf allen möglichen Pferdekarren meist ohne Leichensäcke übereinander gestapelt wurden. In einer ehemaligen Schmiedewerkstatt sah er, wie Mediziner Kranke behandelten, indem sie diese zur Ader ließen oder sie mit Salben aus Krötenlaich und Hühnerkot einrieben. William war über diese Behandlung entsetzt und sprach einen der französischen Ärzte an. „Das wurde auch schon in Schottland und England versucht und brachte keinerlei Heilung.“ „Wenn Sie meinen es besser machen zu können, so treten Sie ruhig nach vorne und versuchen Sie Ihr Glück.“ „Zunächst sollten Sie wissen, dass die Krankheit hochansteckend ist, und da Sie keine Schutzmasken tragen, werden Sie genauso krank werden wie Ihre Patienten. Zudem weiß ich, dass der Überträger ein Tier ist, höchstwahrscheinlich sind es Ratten. Das habe ich bei meinen Forschungen in Bezug auf den schwarzen Tod beobachten können.“ Der Franzose hielt das Gebaren von William für höchst impertinent und wies ihn zurecht. „Wer sind Sie denn, dass Sie es wagen, uns mit dieser Dreistigkeit Versagen vorzuwerfen. Wir Mediziner sind uns alle einig, dass die Krankheit von giftigen Dämpfen, von ungünstig stehenden Winden und manchmal auch von schlechten Planetenkonstellationen herrührt. Und dann kommen Sie vom englischen Festland daher und behaupten, alles besser zu wissen.“ William blieb unterdessen ganz ruhig und gelassen. „Wenn Sie mich mithelfen lassen, werde ich Ihnen bald beweisen, dass ich Recht habe.“ Obwohl der französische Mediziner William für hochnäsig hielt, erlaubte er ihm, eine Patientin zu behandeln. „Wenn die Krankheit nicht so weit fortgeschritten ist, dann können Sie statt einen Schnitt in die Vene zu setzen, die Lymphknoten aufschneiden“, sagte William. Er begab sich zu einer jungen Frau, die bisher nur wenige Pestbeulen aufwies und verfuhr so, wie er es gerade beschrieben hatte. Doch der Franzose war nicht überzeugt, sondern sagte: „Der Frau geht es keinen Deut besser, das soll also Ihre Wundermedizin sein.“ „Warten Sie eine Woche ab, und lassen Sie sie in ein Umfeld bringen, wo keine Ansteckungsgefahr mehr besteht.“ „Sie können die Frau gerne zu ihrer Unterkunft bringen, wir brauchen hier wegen der Überfüllung ohnehin mehr Platz.“ William bat zwei Helfer, die Patientin nach Hause zu bringen und begleitete sie. Bevor er nach draußen trat, wendete er sich nochmals an den französischen Arzt. „Wenn ich Erfolg haben sollte, dürfte ich sie dann anschließend im Kampf gegen die Seuche unterstützen?“ Sollten Sie, was ich nicht glaube, wirklich einen positiven Effekt erzielen, dann sind Sie hier wieder gern gesehen.“ Als William mit der jungen Frau auf der Bahre deren Behausung erreichte, fühlte er ihr die Stirn und sagte sofort zu ihrer Mitbewohnerin: „Sie hat sehr hohes Fieber, wir müssen sie runterkühlen.“ Neben ihrem Zimmer befindet sich eine Kammer mit einem Waschzuber. „Befüllt den Zuber mit kaltem Wasser und legt die Frau anschließend hinein.“ Dreißig Minuten später war die Temperatur gesunken und die junge Frau namens Anette lag in ihrem Bett und schlief. William verwendete ein altes Laken als Unterlage für die Schlafende, setzt ein Skalpell an ihren geschwollenen Lymphknoten an und schnitt diese vorsichtig ein. Ein Gemisch aus Blut und übelriechender eitriger Flüssigkeit lief aus der Wunde. „Jetzt hilft nur noch abwarten“, dachte sich William und ließ sich auf einem Hocker neben Anettes Bett nieder.
Als er am nächsten Morgen auf dem Boden liegend erwachte, war die junge Frau ebenfalls wach. Trotz der hässlichen Beulen an ihrem Körper, war sie von beeindruckender Anmut. Doch das entging William zunächst. Er war für den Augenblick nur darauf bedacht, dass Anette wieder gesund wurde. Als sie ihren Retter erblickte, schoss ihr die Schamesröte ins Gesicht. „Wer zum Teufel seid Ihr und was macht Ihr neben meinem Bett?“ „Ihr seid sehr krank und ich bin hier, um Euch das Leben zu retten.“ William schaffte es das Fieber seiner Patientin weiterhin zu senken und nach einer Woche konnte Anette sogar wieder aufstehen. „Machen Sie alles ganz langsam“, empfahl ihr der junge Mediziner und stützte sie bei ihren ersten Gehversuchen. Als Anette sich im Spiegel betrachten wollte, warnte William sie, dass dies noch zu früh sei, und ihr nicht gefallen würde, was sie sehen würde. Als sie ihren vernarbten Körper im Spiegel sah, reagierte sie anders als von William erwartet. „Zwar missfällt mir der Anblick meines Körpers, aber Sie haben mir tatsächlich das Leben gerettet, und dafür werde ich Ihnen auf ewig dankbar sein. Darf ich Sie umarmen, und wie kann ich Ihnen meine Dankbarkeit beweisen, wo Sie doch so offensichtlich ein feiner Herr sind?“ Der junge Mann war gerührt von der Hilfsbereitschaft seiner Patientin und äußerte, dass er gerne bei ihr verweilen würde, da er sonst keine Unterkunft habe. „Das soll kein Problem darstellen, ich habe hier genug Platz. Da ich normalerweise abends im Wirtshaus arbeite, können Sie gerne auch mit meinem Bett Vorlieb nehmen, wenn es Ihnen genehm ist.“ „Danke für dieses Angebot, ich nehme es gerne an.“
Am folgenden Tag mischte sich William wieder unter die französischen Ärzte und teilte ihnen seinen Erfolg mit. Doch diese sagten nur, dass er mit der Heilung der Patientin Glück gehabt habe. Sie gestatteten ihm, dass er Ihnen für einen geringen Lohn zur Hand gehen durfte. William war enttäuscht, sah aber für den Augenblick keine Alternative, und so stimmte er dem Angebot zu. Er verrichtete nur niedere Arbeit, zum Beispiel die Toten zu den Scheiterhaufen zu eskortieren oder die Operationswerkzeuge der Ärzte zu reinigen. Abends fiel er dann todmüde ins Bett und war froh, wenn Anette noch im Haus weilte. So verging Woche um Woche, und ein Ende der Epidemie war nicht abzusehen. Eines Abends lag er im Bett, und Anette kam früher nach Hause. Als er von ihr wissen wollte, welchen Grund es dafür gab, erwiderte sie, dass man ihr die Arbeit gekündigt habe. Sie fragte, ob sie sich neben ihn legen dürfe, sie würde ihn auch nicht belästigen. William fuhr ihr mit einer Hand durchs Haar und sagte leise: „Ich möchte aber von Dir belästigt werden und das nicht nur heute Nacht.“ So kam es, dass sie ein Paar wurden. Und damit Anette nicht für eine Hure gehalten wurde, heirateten sie einen Monat später. William war verliebt, hatte aber genug von der Hilfstätigkeit in den Spitälern. Und so beschloss er zusammen mit seiner Frau Marseille zu verlassen. Von dem mühsam Ersparten leistete er sich ein Pferd, und eines Tages ritten beide los, ohne ein genaues Ziel vor Augen zu haben. In einer Wirtschaft erfuhr er, dass Arbeiter für den Kathedralen Bau in Aix-En-Provence gesucht würden und so reisten William und Anette am folgenden Tag in die Provence. Im Grunde kamen sie damit vom Regen in die Traufe, da die Pest auch nicht vor dieser Region Halt gemacht hatte. William jedoch bekam sofort eine Anstellung, und als er erklärte, dass er sich schon in seiner Heimat Schottland mit der Konstruktion von Kirchen beschäftigt habe, wurde er kurze Zeit später Assistent des hiesigen Baumeisters. Um eine weitere Ansteckung durch Lepra oder die Pest zu vermeiden zog das Ehepaar aufs Land. Sie erwarben ein kleines Bauernhaus und Anette begann mit der Aufzucht von Hühnern und Schafen. Als William eines Abends auf dem Heimweg war, kamen ihm drei merkwürdige schwarzbekleidete Männer entgegen. Er wollte an ihnen vorbeireiten, doch eine dieser Personen nahm sein Pferd am Zügel und nötigte William abzusteigen.
„Ich habe kein Geld und sonst auch nichts, was ich Euch geben könnte“, flehte er die Herren an. „Wir wollen Dein Geld nicht William“, antwortete einer der Männer, die weiße Masken mit langen Nasen trugen. „Aber wir möchten, dass Du unsere Botschaft in die Welt hinaus trägst. Wir wissen, dass Du ein ehrlicher und intelligenter junger Mann bist und Du wurdest von uns für diese Mission ausgewählt. Als Gegenleistung garantieren wir Dir und Deiner hübschen Frau Anette, dass Ihr und Eure Kinder von der Seuche verschont bleibt und ein Leben in Frieden führen werdet. Es wird Euch an nichts mangeln und Du wirst im Beruf und auch privat bis an Dein Lebensende Erfolg haben.“ William reagierte völlig überrascht und antwortete dann: „Woher kennt Ihr meinen Namen und den meiner Frau, und von welcher Botschaft sprecht Ihr?“ „Wir wissen alles über Dich und Deine Familie. Und wir wissen auch, dass fast überall auf dem Kontinent ein Drittel der Bewohner diese Seuche nicht überleben wird und das zurecht. Der Mensch hat sich zum alleinigen Herrscher über die Erde erhoben und es gibt einfach zu viele Menschen auf diesem Planeten. Daher wird es irgendwann sehr eng werden für die gesamte Bevölkerung. In naher Zukunft wird es alle Hundert Jahre eine entscheidende Epidemie geben, welche die Bevölkerung ausdünnt, und wenn der Mensch sich nicht ändert wird es spätestens in siebenhundert Jahren keine Menschen mehr auf der Erde geben. Es gibt höhere Mächte im Universum, wie Du sie Dir nie vorstellen könntest, und niemand kann Einfluss auf sie ausüben. Wir bitten Dich, diese Prophezeiungen unter die Menschen zu tragen und andere einzuweihen, welche unsere Botschaft mittragen sollen. Nun reite weiter zu Deiner Familie.“ William stieg angstvoll wieder auf sein Pferd und als er hundert Meter geritten war und sich umdrehte, waren die drei Gestalten verschwunden. Nachdem er zuhause angekommen war, teilte er Anette als erstes seine Begegnung mit den Fremden mit, worauf sie ihn wie erwartet für verrückt hielt. „Du hast wohl beim Ritt nach Hause geträumt und Dir irgendetwas zusammengereimt.“ In der Nacht wachte William an der Seite von Anette auf und meinte dunkle Gestalten vor seinem Bett wahrzunehmen. „Was macht Ihr in meinem Haus?“, war das einzige was er herausbrachte. „Wir wollen Dich nur noch einmal an deinen Auftrag erinnern.“ Sofort weckte er seine Frau und flüsterte: „Sie sind wieder da, siehe nur hin.“ Doch als Anette aufwachte, waren die Gestalten wie vom Erdboden verschwunden. „Du solltest einen Schamanen aufsuchen, der Dich von solchen Eingebungen heilt“, war die einzige Antwort, die er von seiner Frau erhielt.
Am folgenden Morgen ritt er zu seiner Arbeitsstätte und erfuhr, dass der Baumeister in der Nacht verstorben war, und William selbst nun diese Aufgabe ausfüllen musste. Er hatte plötzlich viel Verantwortung, zeigte aber durch Fleiß und genaueste Berechnungen, dass man auf ihn zählen konnte. Nach einer Woche harter Arbeit überkam ihn plötzlich die Idee, den anderen Meistern von seiner kürzlich gemachten Begegnung mit den mysteriösen Gestalten zu erzählen. Während zwei Meister sagten, dass er wohl verrückt oder von Dämonen heimgesucht worden sei, hielt der Älteste namens Theobald zu William. „Er ist eine ehrliche Haut, warum sollte er lügen?“ Nach der Arbeit, bei einem Becher Wein, unterhielten sich die beiden über Williams gemachte Erfahrung. „Du sollst also wie ein Prophet die Menschen zu einer anderen Lebensweise bekehren, habe ich das richtig verstanden?“ „Ich glaube schon, aber ich soll es nicht alleine tun.“ Theobald trank seinen Becher aus und fügte hinzu: „Du bist doch gar nicht gläubig und schon gar nicht der Messias. Wieso glaubst Du, dass Du auserwählt seiest, den Menschen obskure Botschaften zu unterbreiten?“ „Ich glaube an das, was ich gehört und gesehen habe, und Du solltest das Gleiche tun, denn auch vor Dir macht das Schicksal nicht Halt.“ „Von welchem Schicksal sprichst Du? Dass mich der schwarze Tod besiegt. Wenn das geschehen sollte, dann wäre es unabwendbar, und ich würde mich in mein Schicksal fügen.“ William überlegte lange, bevor er antwortete. „Wenn Du allen weltlichen Ballast über Bord wirfst, Demut und Disziplin zu Deinen Tugenden machst, kannst Du Dein Schicksal verändern, das hat mich die Begegnung mit den weisen Männer gelehrt. Ich habe vor, die Gesellen nicht nur im Handwerk, sondern auch im Umgang mit sich selbst und dem Streben nach Vollkommenheit zu unterrichten. Es wäre schön, wenn Du dabei an meiner Seite stehen würdest Theobald. Am besten treffen wir uns morgen früh in der Bauhütte und diskutieren diese Themen, denn alle sind eingeladen etwas dazu beizutragen.“ Am nächsten Morgen begegneten sich William, Theobald und fünf Gesellen am verabredeten Ort und William stellte sofort seine Thesen dar. „Wir sind Maurer oder Steinmetze, um besser zu werden, müssen wir ständig an uns arbeiten. Aber gleichzeitig sollten wir das Wort Gottes berücksichtigen und einen Ausgleich zwischen der persönlichen Entwicklung und den Geboten des Herrn finden. Ich für meinen Teil habe die Bekanntschaft mit drei Reisenden gemacht, welche mir aufgezeigt haben, dass die Pest ein menschengemachtes Problem ist und hauptsächlich mit dem Streben nach irdischer Macht und Maßlosigkeit zusammenhängt.“ „Ihr seid unser Meister und wir achten Euch vor allem wegen Eures Talents und Eures Fleißes“, sagte einer der Gesellen. „Aber sollen wir aufgrund Eurer angeblichen Erscheinungen unser bisheriges Leben auf den Prüfstand stellen?“ Dieser Handwerker und ein weiterer Steinmetz verließen daraufhin die Bauhütte. Doch Theobald und die anderen drei Gesellen harrten aus. „Ich schlage vor, dass wir uns täglich treffen und über weitreichende Themen diskutieren. Mehr verlange ich gar nicht“, äußerte sich William. „Wir bilden eine verschworene Gemeinschaft und das sollte sich auch nicht ändern, daher seid vorsichtig, wem Ihr von unserer Debattierrunde erzählt.“ Mit Ausnahme vom Sonntag trafen sich William und seine Zunftkameraden jeden Tag an ihrem vereinbarten Treffpunkt und diskutierten über weltliche und geistliche Themen oder tauschten Ideen für den weiteren Ausbau der Kathedrale aus.
Inzwischen hatten auch andere Männer aus unterschiedlichen Berufsgruppen von Williams Debattierrunde gehört und so nahm die Zahl der Interessenten stetig zu. Außerhalb der Baustelle ging jedoch das große Sterben weiter. William und die inzwischen schwangere Anette allerdings blieben von der Pest verschont, so wie die drei Fremden es dem jungen Zunftmeister prophezeit hatten. Zwei Jahre später brachte Anette ihr erstes Kind auf die Welt. Es war ein Sohn und er bekam den Namen seines Großvaters Johan. In den folgenden drei Jahren kamen vier Geschwister hinzu, wobei Anette die Geburt ihrer Tochter Marie nicht überlebte. Die Geschwister von Johan und Marie waren Isabelle, Olivier sowie Ferdinand. Da die kleine Waldhütte nicht für sechs Personen ausgelegt war, beschloss William mit seinen Kindern in die Stadt zu ziehen. Er verdiente genug, sodass er eine Amme für die Kinder anstellen konnte, während er weiter für den Bau der Kathedrale verantwortlich war. Seine Schar an Anhängern seiner Lehren indessen wuchs, während die Ausbreitung der Pest nahezu gestoppt war. Im Jahr 1356 wurde William wegen seiner Verdienste als Baumeister an den französischen Hof beordert und unterstand einzig und alleine dem König. Während seine Kinder in einer feudalen Welt aufwuchsen, hielt William an seiner demütigen und friedvollen Weltanschauung fest. Er war nun der Meister aller Baumeister in Frankreich und bereiste die verschiedensten Orte. Fünf Jahre später waren seine drei Söhne Pagen am Hof des Königs und seine Töchter erhielten eine exklusive Erziehung. Im Sommer des Jahres 1368 fand in der Bauhütte wie schon viele Male geschehen eine Versammlung statt, bei welcher William den Zuhörern seine Thesen erklärte. Dummerweise befand sich ein Judas unter den Anwesenden, der die Ideen von William für ketzerisch hielt und ihn beim König anschwärzte. Dieser wollte die Anschuldigungen zunächst nicht glauben, bestellte William zu sich ein, worauf der Baumeister die Wahrheit erzählte, seine Freunde aber nicht verriet. William selbst wurde zum Tode verurteilt und fristete seine letzten Tage im Kerker. In dem feuchten und muffigen Gewölbe, das nur ein kleines vergittertes Fenster besaß rief er Gott an, doch seine Gebete blieben ungehört. Nach wenigen Wochen wurde er schwer krank, und es war ihm egal, ob er an einer Krankheit oder auf dem Scheiterhaufen sterben sollte. Eines Nachts meinte er eine Erscheinung wahrzunehmen. Drei Gestalten, deren Köpfe von Kapuzen verdeckt waren, standen vor ihm. Als er ihre Stimmen hörte, wusste er sofort, dass es nur die drei Weisen sein konnten, die ihm damals am Wegesrand begegnet waren. Eine der drei Gestalten begann sofort zu reden. „Du wirst bald sterben, daran können wir nichts mehr ändern. Doch Du hast Dir Deinen Glauben bewahrt und bist immer ehrlich zu Dir selber wie auch zu anderen gewesen. Dabei hast Du unser Credo verbreitet, so garantieren wir Dir, dass Deine Seele nach Deinem Tod aufsteigen wird, während viele Ungläubige weiterhin durch Seuchen dahin gerafft werden.“ So plötzlich wie die drei Gestalten erschienen waren, so schnell hatten sie sich im Dunkeln wieder aufgelöst. William glaubte zunächst geträumt zu haben, doch er fand anschließend auf dem Steinboden den Teil einer leuchtenden Feder. Wenige Tage später brannte William lichterloh auf dem Scheiterhaufen. Wie durch ein Wunder spürte er bis zum Eintritt des Todes keine Schmerzen. Er nahm einzig wahr, wie der Glaube ihn durchströmte und sein bisheriges Leben an ihm vorbeizog.
Seine Kinder mussten den grausamen Tod ihres Vaters nicht mit ansehen. Alle fünf wurden von Agnes Eltern, die in der Normandie wohnten, aufgenommen. So verschlug es sie wieder aufs Land, worunter besonders die Jungen litten, da sie ihre Ausbildung bei Hofe abbrechen mussten und ihren ehrenvollen Stand einbüßten. Johan, der Älteste, versuchte in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, indem er als Lehrling bei einem Steinmetz anfing. Ferdinand und Olivier beschäftigten sich beim Landhaus ihrer Großeltern mit der Aufzucht von Pferden und Schafen. Da dieses Gewerbe nicht viel einbrachte, beschloss Ferdinand seine Dienste der königlichen Armee anzubieten. So kämpfte er an der Seite der Franzosen gegen die Invasoren aus England. 1374 trat er der französischen Marine bei und wurde ein Jahr später bei der Schlacht von La Rochelle getötet. Indessen wurden Marie und Isabelle mit Händlern aus der Provinz verheiratet. Johan hatte von allen Geschwistern den größten Ehrgeiz und eines Tages sprach ihn ein Geselle auf einer Baustelle an, um zu erfahren, welche Ziele er verfolge. Als er sagte, wer sein Vater war, zeigte sich der Geselle sehr ehrfürchtig. „Ich habe von den Lehren Deines Vaters gehört, von den Zusammenhängen zwischen ehrlicher Arbeit, Glauben und tiefster Demut. Es ist eine Schande, dass er wegen seiner fortschrittlichen Ideen verbrannt wurde. Es wäre schön, wenn wir uns ab und an über seine Ideen austauschen könnten.“ So ging die Verantwortung für das geistige Erbe seines Vaters plötzlich an Johan über. Doch es war eine Verantwortung, der er sich zunächst nicht gewachsen sah. So hatte er von seinem Vater einst erfahren, dass dieser eine merkwürdige Begegnung mit drei Fremden gehabt habe, aber genaue Umstände dieses Zusammentreffens kannte er nicht. Außerdem war er nicht religiös, sondern mehr der weltlichen Lebensweise zugetan. Er baute Kirchen, besuchte sie allerdings nur höchst selten. Daher diskutierte er mit seinen Kameraden lieber über die Architektur als über Gott und dessen Botschaften. Doch eines Tages, Johan war inzwischen Geselle, begab es sich, dass er in einer Spelunke einen alten Mann traf, der dem Alkohol sehr zugeneigt war. Als der Greis Johan sah, ging er direkt auf den jungen Steinmetz zu und sagte: „Du musst der Sohn von William sein. Du bist ihm wie aus dem Gesicht geschnitten, nur viel jünger.“ Johan wurde neugierig und als er erfuhr dass der Name des Alten Theobald war, erwiderte er: „Ich habe durch meinen Vater von Dir gehört, auch dass ihr sehr enge Freunde wart.“ Theobald berichtete daraufhin seinem Gegenüber, dass er die Lehren von Johans Vater verinnerlicht hätte, doch ein Leben nach dieser Doktrin aufgrund des Widerstands durch die Adelshäuser nicht möglich sei. „Du würdest der Ketzerei beschuldigt, genau wie dein Vater. Ich werde Dir etwas über William erzählen, was Du wahrscheinlich noch nicht gehört hast. Es ist wichtig, dass wenn Du Dich an gewisse Regeln nicht hältst, dies Deinen Untergang und vielleicht den der ganzen Menschheit bedeuten würde; nicht heute, wahrscheinlich auch nicht morgen, aber spätestens in sechshundertfünfzig Jahren. „Gab es die Begegnung mit diesen Fremden wirklich, oder war das nur ein Hirngespinst meines Vaters?“, wollte Johan von Theobald wissen. „Ich habe ihm geglaubt und einige mehr auch. Dein Vater ging davon aus, dass die Vernichtung der Menschheit nicht aufzuhalten sei. Vorher werde es allerdings noch mehrere Seuchen geben, welche die Menschen zu überstehen hätten.“ „Das klingt nach den sieben Plagen, mit welchen Gott einst die Ägypter bestrafte. Doch ich kann daran nicht glauben“, erwiderte Johan. „Ich müsste diesen drei Gestalten selbst begegnen, damit ich dieser Geschichte Vertrauen schenken könnte.“ „Vielleicht machst Du irgendwann die gleiche Erfahrung wie Dein Vater und es erscheinen Dir diese mysteriösen Fremden, ob in der Realität oder im Traum.“
Die Jahre gingen dahin, doch Johan blieb eine Begegnung mit den mystischen Gestalten erspart. Er kümmerte sich auch nicht weiter um dieses Thema. Was meinem Vater zugestoßen war, das muss ja nicht unbedingt mein Schicksal beeinflussen, sagte er sich. Er stieg ebenso wie William zum Meister auf und heiratete Adele, die Tochter eines Kollegen. Sie gebar ihm zwei Söhne, die zwanzig Jahre später in ihres Vaters Fußstapfen treten sollten. Theobald war inzwischen gestorben, und die Diskussionsrunden waren vorläufig beendet. Niemand auf der Baustelle interessierte sich weiter für die Vergangenheit oder das ideologische Erbe von Johans Vater. So verstrichen weitere Jahre und Jahrzehnte, ohne dass Schicksalhaftes im Leben der Giffreys geschah. Es dauerte bis zum Jahr 1710, als ein Nachkomme von Johan, namens Matthieu als Handwerksgeselle bei der Errichtung eines kleinen Schlosses in Südfrankreich mithalf.