Читать книгу Camille´s Tagebuch - Jörg Trummer - Страница 6
IV. Das erste Tagebuch
ОглавлениеAus dem Schuldgefühl heraus, dass er sich im Gegensatz zu seinen Vorfahren nicht weiter um das Schicksal der Menschheit verdient gemacht hatte, flehte er in der Nacht höhere Mächte an, dass man ihm verzeihe und die Zukunft diktiere, welche er dann niederschreiben werde, um diese Botschaft letztlich seinem Sohn vererben zu können. Und so dauerte es nicht lange, bis Marcel die drei Traumgestalten nachts erschienen und ihn mit verstörenden Zukunftsaussichten fütterten. Morgens, kurz nach dem Aufstehen schrieb er die Albträume auf und schaffte es so in wenigen Wochen ein ganzes Tagebuch zu füllen. Dann rief er Maurice zu sich und präsentierte ihm den apokalyptischen Roman. „Versprich mir, dass Du diese Schrift nur an Deine Kinder weitergibst. Niemand anderer darf von dem Buch erfahren.“ Daraufhin überreichte Marcel das Tagebuch seinem Sohn. Kurz nachdem sein Sohn ihn verlassen hatte, starb Marcel, ohne dass er zu viel leiden musste. Schon am nächsten Tag fand sie Beerdigung statt, da es ein sehr heißer Sommer war, und die Leiche wegen der Hitze sonst schnell verwest wäre. Charles und Jacques verließen anschließend Paris und suchten ihr Glück in der Fremde. Der gehbehinderte Charles kandidierte für ein öffentliches Amt, während Jacques auf Abwege geriet und eine Karriere als Schmuggler machte. Maurice dagegen begann genau wie sein Vater ein Medizinstudium und zog dafür nach Montpellier. Bevor sich die Wege der Brüder trennten, schworen sich die unterschiedlichen Charaktere, sich stets beizustehen wenn der andere Hilfe benötigte und immer füreinander da zu sein. Maurice hielt an den Traditionen seines Vaters fest, und trat genau wie er einer Freimaurer-Loge bei.
Der Ritus der Initiation hatte sich kaum geändert, doch die Weltanschauungen der einzelnen Mitglieder waren weit fortgeschrittener als zu Zeiten der Renaissance. Neben mystischen und spirituellen Einflüssen spielten auch Humanismus und andere moderne Ideale eine Rolle. Zwar waren nur besonders ehrenwerte Männer für die Loge zugelassen, doch wirkte ihr Handeln über die Vereinigung hinaus. Berühmte Freimaurer wie Mozart und Goethe waren Vorbilder und hatten das 18. Jahrhundert durch ihre Kreativität und durch ihr Streben nach künstlerischer Freiheit mitgeprägt. So fühlte sich Maurice Giffrey in einer Reihe mit weltbekannten europäischen Berühmtheiten. Er war besonders wegen seiner demütigen und vertrauensvollen Art sehr beliebt. Obwohl er in der Loge nur den Rang eines Gesellen bekleidete, konnte er mit jedem aus der Gemeinschaft auf Augenhöhe debattieren. Eine strenge Hierarchie gab es nicht. Der Großmeister verschaffte ihm letztendlich eine Anstellung in einer renommierten Arztpraxis, wo Maurice als Chirurg tätig wurde. 1845 heiratete er eine schöne vermögende Witwe, welche ihm drei Kinder gebar, und die ihm bis an sein Lebensende treu sein sollte. Am Hochzeitstag erschienen auch seine Brüder und es gab vieles an Erfahrungen auszutauschen. Jacques hatte inzwischen sein kriminelles Gewerbe für eine kaufmännische Tätigkeit aufgegeben und Charles war Berater des damaligen Bürgerkönigs Luis-Phillipe von Orleans. Doch drei Jahre später, als die Regierung aufgrund der zweiten französischen Revolution gestürzt wurde, kam Charles zu Tode. Maurice war ein Anhänger der Bürgerbewegung und fürchtete als Freimaurer unter der Regentschaft von Napoleon III., als dieser 1852 als Kaiser inthronisiert wurde, wie viele seiner Freunde um sein Leben. So zog es ihn von Montpellier wieder in den Süden nach Marseille, der heimlichen Hauptstadt der Revolution. Er fand schnell wieder Kontakt zu einer Loge und eine Anstellung in der städtischen Klinik. Fünf Jahre lebte er von seiner Familie getrennt, bis diese nachzog. Seine Tochter Camille wuchs zu einer wahrhaften Schönheit heran, während seine beiden Söhne zum Militärdienst einberufen wurden. Maurice, wie seine Ahnen bekennender Pazifist, war mit dieser Situation mehr als unzufrieden, so hatte er seinen Kindern doch immer wahre Werte zu vermitteln versucht.
Eines Abends auf dem Rückweg von seiner Arbeitsstelle wurde er von drei merkwürdig gekleideten Personen aufgehalten. „Wir sind im Auftrag Deines Vaters hier, um Dich darauf hinzuweisen, dass Du eine Mission hast. Dein Vater hatte Dich über die Wichtigkeit dieser Aufgabe informiert. Jetzt ist es an der Zeit, dass Du auch von uns in Deine Bestimmung eingeweiht wirst. In spätestens zweihundert Jahren steht die Welt wie Du sie kennst am Abgrund. Hungersnöte und grausame Kriege werden die Menschheit dezimieren und die Armen immer ärmer werden lassen. Die Reichen werden dagegen aufgrund ihrer Habgier, Machtgelüsten und Korruption immer wohlhabender werden. Du alleine wirst dem nicht Einhalt gebieten können, aber Deine Kinder sind genau wie Du angehalten unsere Prophezeiungen unter die Menschen zu tragen.“ „Mein Vater ist tot, wie solltet Ihr von ihm eine Botschaft überbringen können“, erwiderte Maurice. „Egal ob tot oder lebendig, Du trägst sein Vermächtnis in Dir und musst die Wahrheit weitergeben. Inzwischen haben sich die Zukunftsaussichten verändert, und das nicht gerade zum Guten. Das heißt, dass das Buch, welches Du von Deinem Vater geerbt hast, nicht mehr brandaktuell ist. Du bist von uns angehalten die neuen Prophezeiungen zu notieren und eine Fortsetzung zu verfassen. Die genauen Informationen erfährst Du in Deinen Träumen.“ Als Maurice sich zum Gehen umdrehte, waren die Fremden verschwunden. Das glaubt mir doch keiner, dachte er sich, und als er seinen Söhnen von seiner Begegnung berichtete, hielten sie ihn für verrückt. Also begann er die Weissagungen in einem zweiten Tagebuchband aufzuschreiben, in der Hoffnung, dass es jemand lesen werde, der diese Visionen für glaubhaft halten wird.
Exkurs II
Bachiel: „Sollten wir nicht die gesamte Menschheit warnen? Immerhin steht die Existenz von Milliarden auf dem Spiel.“ Aariel: „Willst Du, dass wieder ein Märtyrer auf der Erde den Glauben der Menschheit durch sein Opfer stärkt? Das ist vor 1800 Jahren schiefgegangen und diejenigen, die heute noch am Glauben an eine höhere Gewalt festhalten, sind zum Teil ebenso verdorben wie der Rest der Gesellschaft. Wir sollten an unserem bisherigen Plan festhalten und weiterhin den Giffreys als Überbringern der unangenehmen Botschaften vertrauen.“ Dariel: „Was auch immer geschehen wird, der Mensch an sich ist das Problem. Er nimmt auf die Natur keine Rücksicht und die wenigen, welche für eine gute Sache eintreten, werden von der Geschichte geschluckt. Wo habt Ihr im Verlauf der Reise durch das Universum Vergleichbares gesehen? Mir wäre es lieber gewesen, wir hätten niemanden auf die kommende Apokalypse hingewiesen.“ Bachiel: „Wenn wir den Einen in das Schicksal der Menschheit einweihen, so gehen wir nicht das Risiko ein, dass schon früh eine Panik ausbricht. Lasst die Menschen ihre verbleibende Zeit noch genießen. Sollten die Giffreys scheitern, hättet Ihr recht gehabt. Sollten sie Eins und Eins zusammenzählen, dann erkennen sie den Wahrheitsgehalt unserer Prophezeiungen.“ Aariel: „Also gut, geben wir der Menschheit noch eine Chance und verlassen uns auf den Einfluss dieser einen Familie. Auch wenn sie keine Prediger sind, könnten sie den großen Plan verändern und den Planeten retten.“
Maurice war von der Begegnung mit den eigenartigen Fremden überfordert und konnte deren Warnung lange Zeit nicht glauben. Das Tagebuch ließ er von niemandem lesen, auch nicht von seinem Bruder. Camille und ihren Brüdern kam die Geheimnistuerei ihres Vaters merkwürdig vor, aber er weihte keines seiner Kinder in sein Geheimnis ein. Im Jahr 1875 wurde Maurice im Alter von siebzig Jahren schwer krank. Er bestellte seine Kinder ein letztes Mal zu sich ein und bat sie, ihm zu vertrauen, auch wenn sie sich damit schwertun könnten. Er kam gleich zur Sache, indem er sprach: „Ich habe Euch damals von meiner Erfahrung mit den drei Fremden berichtet, und das war nicht die einzige Begegnung mit ihnen. Sie sind mir dutzende Male im Traum erschienen, mit dem Ziel, dass ihr Vermächtnis an Euch weitergeleitet wird. Denn in zweihundert Jahren droht die Menschheit auszusterben, und sie haben mich und meine Kinder, also Euch dafür auserkoren, diese Visionen zu verbreiten. Dazu war ich aus welchen Gründen auch immer nicht in der Lage.“ Maurice griff unter seine Matratze und holte die beiden Bücher hervor. „Dies sind zwei Tagebücher, eines von mir, das andere von Eurem Großvater, und da steht alles drin, was Ihr für diese Mission wissen müsst.“ Er reichte das Buch zunächst seiner Tochter, da sie ihm immer die Liebste war. Camille schwor am Bett ihres Vaters, dass Sie die Niederschrift lesen und verinnerlichen werde. Sein ältester Sohn Rene dagegen hielt seine gesamte Familie danach für unzurechnungsfähig und interessierte sich kein bisschen für die Niederschriften seines Vaters. Auch nicht, als Maurice am folgenden Morgen tot in seinem Bett lag.