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III. Ein neues Zeitalter

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Er war glücklich verheiratet mit der schönen Beatrice, der jüngsten von vier Töchtern des obersten Baumeisters. Doch er war im Grunde für harte Arbeit nicht geschaffen. Stattdessen las er viel und besaß viele unterschiedliche Interessen. Er besuchte im Gegensatz zu den meisten seiner Vorfahren regelmäßig Messen und hatte einen festen und unverrückbaren Glauben an Gott. Da er sich im Handwerk eher nicht zuhause fühlte, begann er zu schreiben, besonders über Zusammenhänge von theologischen und weltlichen Themen. Er war als ehrlicher Calvinist gegen den Ablasshandel und vermied es daher öffentlich über seine Einstellung zur katholischen Kirche zu reden. Seit der finalen Verfolgung der Hugenotten zum Ende des siebzehnten Jahrhunderts, lebten Protestanten wie er sehr gefährlich, und so war es nur eine Frage der Zeit, bis er sich mit seiner Familie entschied auf das Land zu ziehen, wo er sich den nötigen Schutz vor den Schergen des Königs erhoffte. Als Ludwig der IV. 1715 starb, sah Matthieu für sich und seine Familie wieder eine Perspektive, doch der Hass zwischen den verfeindeten Lagern hatte sich noch nicht gelegt. So begab es sich, dass er eines Tages auf dem Weg nach Hause drei merkwürdig gekleideten Männern begegnete, die ihn anhielten und sogleich beim Namen nannten. „Woher wisst Ihr, wie ich heiße?“, wollte Matthieu wissen, und eine der Gestalten, deren lange schwarze Mäntel aufgrund des auffrischenden Windes klatschende Geräusche machten, begann intensiv auf den Gesellen einzureden. „Wir verfolgen Deinen Stammbaum schon seit über dreihundertfünfzig Jahren und haben Deine Ahnen immer beobachtet. Das liegt vor allem daran, dass Du genau wie Deine Vorfahren immer edle und ehrliche Absichten hattest. So mahnen wir Dich und Deine Familie, in den Norden zu ziehen, da in spätestens fünf Jahren die nächste schreckliche Pestwelle den Süden Frankreichs überziehen wird, und dass dafür höhere Mächte verantwortlich sind, denen die Menschen auf Erden nicht Einhalt gebieten können. Gleichzeitig ist die Seuche eine Strafe für all jene, die den Glauben verloren haben und falschen Tugenden frönen. Verkündige denen, welche Dir zuhören, dass es auch in Zukunft in regelmäßigen Abständen zu schlimmen Seuchen kommen wird, die vor allem diejenigen befallen werden, welche Maßlosigkeit der Demut vorziehen. Natürlich wird es auch Opfer geben unter den Armen und den Gläubigen, es muss immer wieder eine natürliche Auslese stattfinden, da der Mensch ansonsten die Erde zerstören wird. Das wird zwangsläufig in einer Zukunft, welche Du nicht mehr erleben wirst zum Untergang der gesamten Menschheit führen. Gestalte Dein Leben im Glauben an die Existenz höherer Mächte, ehrfurchtsvoll und gütig, so wird es Dir und Deiner Familie viele Jahre lang an nichts mangeln.“ Matthieu glaubte an für sich nicht an Geister, doch diese Begegnung ließ ihn an seinen bisherigen Überzeugungen zweifeln. Als er nach Hause kam, teilte er Beatrice sofort seine überirdische Erfahrung mit, wagte es aber nicht, seinen Kollegen auf der Baustelle von dem besonderen und mysteriösen Vorkommnis zu berichten.

Exkurs I

Bachiel: „Wenn wir den Menschen die Wahrheit über das Ende ihrer Art und ihrer Welt erzählen, wird es eine Panik unter ihnen geben, und unsere Mission wird noch schwieriger, da Kriege um Macht und die letzten Ressourcen folgen werden. Wir dürfen in keinem Fall weitere Märtyrer schaffen, welche für unsere Sache sterben.“ Aariel: „Wenn niemand von dem großen Plan erfährt, wird auch in der Zukunft große Ungerechtigkeit zwischen den Menschen vorherrschen. Die Reichen werden versuchen sich als erste in Sicherheit zu bringen und die Ärmsten werden leiden und auf die übelste Art krepieren.“ Dariel: „Es wird neue Strömungen unter den Menschen geben und Giffrey könnte einer von ihnen sein, der sein Wissen und seine Spiritualität weitergibt. Ich habe die Hoffnung, dass letzten Endes die Menschheit zur Vernunft kommt und die Prophezeiung abgewendet werden kann. Da das Ende der Menschheit erst in etwa vierhundertfünfzig Jahren angekündigt ist, kann noch vieles passieren.“ Bachiel: „Wir werden seine Familie und seine Nachkommen weiter beobachten und dafür sorgen, dass unsere Prophezeiungen weitergegeben werden. Mehr können wir für den Augenblick nicht tun. Die nächste Epidemie steht bevor, und er muss beweisen, dass er seine Mitmenschen erreichen kann und seiner Verantwortung bewusst werden.“ Aariel: „Er wird einer Gruppierung beitreten, welche sich, für Humanität, Hilfsbereitschaft und Toleranz einsetzt, und er wird die Prüfungen, die er ableisten muss, letztendlich erfolgreich bestehen.“

Matthieu indessen war sich seiner Aufgabe nicht sicher. Sollte ausgerechnet er, ein relativ unbedeutender Handwerker für Frieden und Demut unter den Menschen sorgen? Wieso wurde gerade er ausgewählt, oder wussten noch andere von der bevorstehenden Apokalypse?“ Sein Plan war, wie von den drei Männern empfohlen, mit seiner Familie in die Normandie zu ziehen, um der nächsten Epidemie zu entkommen. Als er Marseille verließ, waren die Menschen in seiner Umgebung von Armut betroffen, die meisten waren aber noch von guter Gesundheit. Es war das Jahr 1720, als Matthieu erfuhr, dass der ganze Süden des Landes von einer neuerlichen Pestwelle erfasst wurde. Zehntausende wurden dahingerafft, aber dank einer Mauer, 1721 als Schutzwall gegen die Pest errichtet, erreichte die Seuche den Norden Frankreichs nicht. Matthieu begann in der Bauhütte seinen Arbeitskollegen während der Mittagspausen die Thesen, welche ihm von den drei Gestalten gepredigt wurden, weiterzugeben und zu diskutieren. Doch stießen die Prophezeiungen bezüglich des Weltuntergangs auf wenig Begeisterung bei den Handwerkern, und so gab er es irgendwann auf, seine Mitmenschen bekehren zu wollen. Nach acht weiteren Jahren, Matthieu war inzwischen zum Meister berufen worden, es war das Jahr 1730, erfuhr er durch einen Freund, dass es in Paris eine Bauhütte gebe, wo Menschen in Gemeinschaft spirituelle und mystische Gedanken austauschten, welche seinen nicht unähnlich wären. Erfreut, dass es anscheinend mehr aufgeklärte Leute wie ihn gebe, beschloss er in die Großstadt zu reisen und diese Menschen kennenzulernen. Nach drei Tagesritten erreichte er Paris und suchte das besagte Gasthaus in der Rue des Boucheries auf, in der diese Loge, wie diese Gemeinschaft sich nannte, tagte. Als er in den von der Schänke separierten Gastraum eintrat, wurde er ermahnt wieder zu gehen, da dies eine geschlossene Veranstaltung nur für Mitglieder sei. Doch Matthieu blieb hartnäckig, erklärte, wer er sei, und dass er die große Entfernung nur zurückgelegt habe, damit er mit dem Gedankengut dieser Gemeinschaft vertraut gemacht werde. Da erhob sich plötzlich der Mann an der Stirnseite der Tafel und sprach zu Matthieu: „Ich bin Andre-Lebreton, der Vorsitzende dieser Runde aus ehrenwerten Mitgliedern. Ihr seht nicht so aus, als stammt ihr aus einer angesehen Familie, was für Euch automatisch eine mögliche Eintrittskarte in unseren Kreis hätte bedeuten können. „Ich stamme aus dem Norden Frankreichs“, antwortete Matthieu, „und bin in meiner Innung ein angesehener Handwerksmeister. Ich würde mich gerne mit Euch austauschen, und wäre bereit alle dafür maßgeblichen Regeln zu beachten. Ich habe nämlich gehört, dass es in einer Loge wie Eurer klare Bestimmungen gibt, die eingehalten werden müssen.“ „Wenn Du wahrhaftig ein Baumeister bist, so stehen Deine Chancen nicht schlecht, in unseren Kreis aufgenommen zu werden. Maitre Laverne und Maitre Bonsaque sind ebenfalls Handwerksmeister. Die ersten Freimaurer wurden so genannt, weil sie Baumeister und Maurergesellen waren. Sie bilden den Ursprung unserer Vereinigung. Du musst allerdings zunächst eine Initiation durchlaufen“, erklärt Lebreton. „Und davor musst Du Dich mit unseren Werten und Riten auseinandersetzen. Wenn Du alle Prüfungen bestehen solltest, wären wir bereit Dich in unseren illustren Zirkel aufzunehmen. Am besten stimmen wir kurz ab, wer dafür oder dagegen ist.“ Die Abstimmung verlief günstig für Matthieu, und so mietete er sich ein Zimmer in der Stadt, um am folgenden Tag wieder das Gasthaus aufzusuchen.

Dort wurde er schon erwartet. Lebreton und die anderen Logenmitglieder baten Matthieu nach draußen, wo drei Kutschen auf sie warteten. „Deine Einweihung findet auf dem Landgut meiner Familie statt“, sagte Lebreton, als sie schon unterwegs waren. Nach circa eineinhalb Stunden erreichten sie das Ziel, eine hochherrschaftliche Villa in spät-barocker Bauart. Im Foyer stellten sich alle in einem Kreis auf und hielten sich an den Händen. Danach erklärte Lebreton die Werte, welche die spezielle Magie der Freimaurerei beinhalteten. So machten ihn die anderen Meister und ehrenwerten Bürger mit den besonderen Aspekten der Geometrie und der Zahlenlehre vertraut, auch wenn Matthieu die meisten der Weisheiten bereits kannte. Doch das wichtigste Ziel des Einzelnen sei das Streben nach Transzendenz, in Verbindung mit der Aufgabe von unnötigem materiellem Besitz. „Du musst Deine Wertgegenstände vor der eigentlichen Initiation ablegen, denn wir streben nach spiritueller Wahrheit. Du brauchst aber nicht in Armut leben. Es ist eher ein Symbol unseres Verzichts auf unnötigen Ballast. Solange die Vorbereitung auf Deine Einweihung dauert, kannst Du im Gästezimmer des Landhauses übernachten.“ Jeden Tag ging Mathieu in einen gesonderten Raum und übte die Meditation, mit dem Ziel den Geist zu reinigen. Am Tag der Initiation wurden ihm bestimmte Symbole vorgelegt, welche er verinnerlichen sollte. Das waren zum einen ein Dreieck mit einem Auge darin, darüber ein Zirkel und darunter ein Winkelmaß. Ein anderes Symbol zeigte ein Pentagramm, in welchem ein Mensch abgebildet war. Das dritte Symbol war ein Totenkopf. Lebreton klärte ihn daraufhin auf, was es mit den einzelnen Symbolen auf sich hatte. Das Pentagramm zum Beispiel wurde ganz im Sinne des Pythagoras ausgelegt, als Symbol für die Vereinigung der Elemente Erde, Feuer, Licht und Wasser. Der fünfte Zacken des Sterns war das Zeichen für den allumfassenden Geist. Lebreton wies ihn weiter daraufhin, dass er auch nach bestandener Einweihung zunächst nur den Stand eines Lehrlings habe. Erst mit fortschreitender Entwicklung werde er den Meistergrad auch in der Loge erhalten. Nachdem Matthieu dieser scheinbaren Herabsetzung mit etwas Unbehagen zugestimmt hatte, wurde er in das sogenannte Vorbereitungszimmer geführt, in welchem er eine Art Wiederauferstehung erleben sollte. Sein altes Ich sei nun gestorben und dafür etwas Neues entstanden. In dem dunklen Raum, der von nur einer Kerze erhellt wurde, befanden sich ein Totenschädel, ein Skelett und ein Tisch, auf dem Salz, Brot, Schwefel und ein Krug Wasser zu entdecken waren. An den Wänden waren noch weitere Symbole zu entdecken. All diese Gegenstände verwiesen darauf, dass nach seinem symbolischen Tod eine innere Reinigung folgen sollte, welche ihn zur absoluten Erleuchtung führen würde. Das alles folgte einem hermetischen Plan, den Matthieu verinnerlichen musste. Nach stundenlangem Aufenthalt in dem dunklen Zimmer, wurde er wieder herausgeführt und als Lehrling der Maurer von seinen neuen Weggenossen begrüßt. „Hole Deine Familie nach Paris“, sagte Lebreton zu ihm. Hier ist Deine neue Heimat, und es soll Euch an nichts mangeln. Wir sorgen füreinander.“

Und tatsächlich setzte sich ein Mitglied der Loge für ihn ein und verschaffte ihm eine Arbeitsstelle für die Renovierung der Kathedrale de Notre Dame. Da er sich mit der schnörkellosen gotischen Baukunst gut auskannte, erntete er von Beginn an großen Respekt bei seinen Handwerkskollegen. Auch in der Loge wurde seine Karriere wohlwollend beobachtet, und da er ständig an seiner selbstlosen Persönlichkeit arbeitete, wurde er schon bald nach der Beförderung zum Gesellen in den Status eines Meisters erhoben. Spätestens jetzt war er mit allen Logenmitgliedern auf Augenhöhe. Auch wenn seine Ansichten bezüglich der Ordnung des Universums und der philosophischen Lehren der Freimaurerei bei einigen Mitgliedern Kritik hervorriefen, galt er nun als geachteter Meister. Er durfte selber Lehrlinge für die Loge ausbilden, und ging in seiner neuen Berufung auf. Dabei hatte er auch nicht vergessen, was die drei Gestalten ihm einst vorausgesagt hatten, es bestärkte ihn nur in seiner Arbeit. Er hoffte, dass sie ihn noch einmal besuchen kämen, damit er den Glauben an ihre Voraussagungen nicht verlor. Doch es ging viel Zeit vorüber, Matthieu hatte inzwischen das stolze Alter von siebzig Jahren erreicht und war Urgroßvater, als zwei seiner Enkel ebenfalls einen Sitz in einer Loge anstrebten. Der alte Mann war glücklich über diese Entwicklung und unterwies sie in die eigentlichen Ziele der Freimaurerei. „Es gilt vor allem, den Unterprivilegierten zur Seite zu stehen, und ehrenvolle Absichten zu haben, dann werdet Ihr einer guten Zukunft entgegen sehen.“

Die beiden Enkel hießen Marcel und Frederic. Matthieu hatte ihnen schon mehrfach von seiner mystischen Begegnung mit den drei Fremden erzählt, doch sie wollten es erst glauben, wenn ihnen das gleiche Schicksal widerfahren sollte. Marcel war der weniger begabte Handwerker und sah seinem Bruder häufig neidisch bei der Arbeit zu, dennoch verfolgte er die gleichen Ziele wie sein Großvater, um irgendwann einmal Großmeister einer Loge zu werden. Als Mathieu starb, standen beide Enkel an seinem Sterbebett und schworen sein Vermächtnis in Ehren zu halten. Die letzten Worte vor seinem Tod, galten Marcel: „Du bist nicht als Steinmetz geeignet, suche stattdessen Deine Zukunft in der Medizin. So wirst Du erfolgreicher sein, als dein Bruder es jemals werden wird, ich bin mir sicher, dass dies Deine Berufung ist.“ Marcel war zunächst erschüttert, hatte er seine Zukunft doch immer im Handwerk gesehen. Als er seinem Bruder von der Botschaft seines Großvaters an ihn erzählte, machte dieser ihm Mut und bestärkte ihn in dieser Absicht. „Ich sah Dich nie als Konkurrenten, da Dir die Ausübung des Steine Bearbeitens nicht mit in die Wiege gelegt wurde. Aber ich weiß auch, dass Du erfolgreich sein kannst, indem Du Deinen eigenen Weg beschreitest, zum Beispiel als Mediziner. Du kannst Dich noch in dieser Woche an der Universität in Paris einschreiben. Ich werde Dich finanziell unterstützen, soviel ist mir Deine Karriere wert.“ Marcel fühlte sich von seinem Bruder unter Druck gesetzt und forderte Bedenkzeit. „Ich werde Dir innerhalb einer Woche meinen Entschluss mitteilen. Bitte gewähre mir diesen Aufschub, ich müsste mich von früheren Zielen verabschieden, dafür benötige ich einige Tage Zeit.“ Marcels Problem bestand nicht darin, dass er dem Arztberuf abgeneigt war, sondern in der Tatsache, dass er immer seinen Vorfahren nacheifern wollte. Und die waren nun mal fast immer Handwerker gewesen. Er glaubte aus der Reihe zu tanzen und Schande über seine Familie zu bringen, wenn er dem Rat seines Großvaters nachkommen würde. Doch schon am nächsten Tag erfuhr er, dass es im Stammbaum der Giffreys schon immer Ärzte gegeben hatte. Ein früher Vorfahre, William Giffrey, soll auch sehr erfolgreich im Kampf gegen die Pest gewesen sein, obwohl dies zu seiner Zeit nicht gebührend genug gewürdigt wurde. Besonders dieser Umstand ließ Marcel zu der Überzeugung kommen, dass er diesem Beruf vielleicht doch etwas abgewinnen könne. Als er seinem Bruder wenige Tage später entgegen trat, teilte er ihm seinen Entschluss mit. „Ich schließe mich Deinem Willen an, möchte aber nicht, dass Du mich während der Ausbildung zum Arzt finanziell unterstützt. Mein Stolz gebietet mir, dass ich für die Kosten alleine aufkomme.“ Die Brüder umarmten sich innig, und schon am darauffolgenden Tag brach Marcel Giffrey nach Paris auf.

Was er über die Medizin wusste, waren gestrige, veraltete Lehren, die vom Fortschritt längst eingeholt waren. So besuchte er an der Universität schon vom ersten Tag an Vorlesungen über Chirurgie und Anatomie bei einem bedeutenden Arzt namens Antoine Petit. Beeindruckt von dem Wissen, welches Petit besaß, entschloss sich Marcel Giffrey so viel wie möglich über diese Themengebiete zu lesen. In der Nacht verdiente er sich sein Geld als Leichenbestatter und später grub er die Toten für angesetzte Obduktionen wieder aus. Das war ein gutes Geschäft für jemanden, der vom Status her nur Student war. Außerdem lernte er dadurch viel über die Anatomie des Menschen. Ein gewisses Problem gab es dennoch, nämlich dass Marcel im wahrsten Sinne des Wortes kein Blut sehen konnte. Da er sich bei Operationen am menschlichen Körper regelmäßig übergab, wurde ihm abgeraten Chirurg zu werden. Doch der junge Mann machte aus der Not eine Tugend, indem er in die Forschung wechselte. Es gab zu viele Krankheiten, die kaum erforscht waren, und medizinische Gegenmittel waren noch nicht erfunden. Er hörte davon, dass jemand herausgefunden habe, dass nach der Verabreichung von einer geringfügigen Menge an Pockenviren das Immunsystem des Menschen gestärkt wurde, und es erste Heilungserfolge gab. Dadurch angespornt wälzte er Bücher über Biologie und Heilkunde. Er lernte den menschlichen Körper ganzheitlich zu sehen und begann dadurch immer mehr die Zusammenhänge von Geist und Körper zu verstehen. 1785 trat er der Academie des sciences bei, um mit den besten Gelehrten zusammenzuarbeiten. Doch schon vier Jahre später kam die Revolution und das Ende der Monarchie, woraufhin das Institut vorrübergehend geschlossen wurde. Marcel selbst kam unter Verdacht ein Royaler zu sein und floh bei Nacht und Nebel aus der Stadt zu seinem Bruder in Orleans. Seine Familie musste er in Paris zurücklassen, was ihn noch mehr schmerzte als die Tatsache, dass er nun ohne berufliche Perspektive war. Doch der nicht mehr ganz junge Arzt gab die Hoffnung niemals auf. So ergab es sich, dass er wie einige andere Wissenschaftler Anfang des 19. Jahrhunderts von allen Vorwürfen freigesprochen wurde und unter Auflagen wieder seinem Beruf nachgehen durfte. 1815 erschien Napoleon Bonaparte ein zweites Mal auf der Weltbühne und hub ein Heer von 125000 Soldaten aus. Marcel, der eigentlich ein Pazifist war, entschied sich als Militärarzt unter dem General zu dienen, auch wenn er zum wiederholten Male seine Familie damit im Stich ließ. In der Schlacht bei Waterloo, die Bonaparte bekanntlich verlor, wurde Marcel gefangen genommen und verbrachte danach ein Jahr in einem preußischen Gefangenenlager, bevor er nach seiner Freilassung nach Frankreich zurückkehren durfte.

Er war inzwischen über fünfzig Jahre alt, als eine Naturkatastrophe die östliche Welt erschütterte. Der Vulkan Tambora in Indonesien war 1816 ausgebrochen, forderte in Asien direkt oder indirekt über siebzig tausend Tote und brachte die Finsternis 1816 auch nach Europa. Der Aschestaub verdunkelte die Sonne und es folgten Hungersnöte in der ganzen Welt. Es war auch das Jahr, in dem die Cholera Europa erreichte und aufgrund dieser Epidemie wiederholt viele Menschen sterben mussten. Marcel Giffrey entschied sich bei der Bekämpfung der Krankheit seinen Beitrag zu leisten und gab den Fachleuten Recht, welche als Grund für die Ausbreitung der Seuche die Verunreinigung des Grundwassers sahen. So strebte er von diesem Zeitpunkt an, die hygienischen Verhältnisse in den Großstädten Frankreichs zu verbessern und an innovativen Arznei-produkten zu forschen. Seine Söhne halfen ihm bei der Erforschung von Heilmitteln, doch Marcel selbst hätte noch hundert Jahre länger leben müssen, bis es einen Durchbruch auf bessere Heilungschancen gab. Kurz vor seinem Tod im Jahr 1835 hatte er ein Erlebnis der besonderen Art, das ihn an die Prophezeiungen seines Großvaters denken ließ. In einem Traum auf dem Sterbebett erschienen ihm die drei Fremden, von deren Existenz er ja längst gehört, aber nie an sie geglaubt hatte, und sie reichten ihr Vermächtnis an ihn weiter.

„Da Du bald von dieser Welt scheiden wirst, hast Du noch die Aufgabe, an Deine Söhne unsere Botschaft weiterzugeben. Da Du es vermieden hast, einer Loge oder einer Vereinigung mit ähnlichen Zielen beizutreten, hast Du im Gegensatz zu vielen Deiner Vorfahren zu keiner Zeit zur Verbreitung der Wahrheit beigetragen. Und diese Wahrheit besagt, dass es weiterhin viele Kriege geben wird, in denen Millionen, egal welchem Glauben sie anhängen, sterben werden. Auch Seuchen wird es geben, manche menschengemacht, andere basierend auf Strafen, welche der Geist des Planeten Euch auferlegt. Beginne an diese Erkenntnis zu glauben.“ Als Marcel Giffrey am folgenden Morgen aufwachte, glaubte er zunächst zu phantasieren, bis er auf dem Stuhl neben seinem Bett einen Fetzen Papier entdeckte. Auf diesem stand geschrieben: „Vergiss nicht, was der Menschheit bevorsteht, solltest Du die Wahrheit ignorieren.“ Dann begann er sich an seinen Traum zurück zu erinnern und berief seine Söhne zu sich. Charles, Jacques und Maurice hatten ungefähr das gleiche Alter und waren alle drei mindestens dreißig Jahre alt, wobei Maurice mit exakt dreißig Lenzen der Jüngste war. „Ich muss Euch in der letzten Phase meines Lebens noch etwas Wichtiges mit auf den Weg geben. Ob Ihr es glaubt oder nicht, ich hatte gestern Nacht eine Begegnung mit drei Boten, die mir wohl Gott selbst gesandt hat. Sie malten mir eine schreckliche Vision der Zukunft aus und baten mich Euch zu instruieren, welchen Beitrag Ihr bei der Verhinderung des grausigen Schicksals der Menschheit leisten könnt.“ Seine Söhne hielten ihn für verrückt, bis zu dem Augenblick, als er als Beweis ihnen den Zettel mit der Botschaft von seinen Traumgestalten zeigte. „Das ist nicht Deine Handschrift Vater, soweit können wir Dir beipflichten. Aber wir denken, und da bin ich mit meinen Brüdern einer Meinung, dass Du einen Albtraum hattest und im Delirium diese Worte irgendwie selbst verfasst hast“, sagte der mittlere seiner Söhne, Jacques zu ihm. „Auch wenn Ihr mir nicht glauben wollt, ich spreche die Wahrheit, und Euer Auftrag ist es diese zukünftig zu verbreiten.“ Wenigstens Maurice, der selber den Arztberuf anstrebte, schien den Worten seines Vaters etwas abzugewinnen und versprach ihm, die Botschaft zu verbreiten. „Vielleicht wird man mich einen Ketzer nennen oder einen Blasphemisten, aber ich glaube Dir, Du hattest als mein Vater immer eine Vorbildfunktion für mich, und ich werde Deinem Ideal so lange wie möglich nacheifern.“ Marcel wusste, dass ihm nur noch wenige Wochen blieben, bevor er das Zeitliche segnete.

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