Читать книгу Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen - Jürgen Bertram - Страница 11
6 Jägergeist
ОглавлениеSchularbeiten machen. Den in meinem Kopf aufbewahrten Film mit den schönsten Fußballszenen abspulen. Nach dem unberechenbar von der Wand zurückprallenden Radiergummi hechten. Zwei, vielleicht drei Stunden lassen sich füllen mit diesem Programm. Doch dann zwängt sich das Gespenst der Langeweile durch den Türspalt. Ich vertreibe es, indem ich Ablenkung bei meiner neuen Freundin suche: der »Goslarschen Zeitung«. Sie ist immer für mich da, und sie hat mir immer etwas Neues zu erzählen.
Die ersten Seiten, die von fernen Gegenden wie Palästina, Korea oder Indochina handeln und auf denen regelmäßig ein Opa mit einem Indianergesicht erscheint, der Konrad Adenauer heißt, überfliege ich. Die Artikel über Goslar 08, von denen ich nicht einen einzigen auslasse, lese ich wieder und wieder. Am Samstag, dem 3. November 1951, dem letzten Tag meines Stubenarrestes, erregt auch eine Sonderseite im Lokalteil meine Neugier. Sie ist dem »Tag der Goslarer Jäger« gewidmet – und in fast jedem Absatz kommen zwei Begriffe vor, die mir seit meinen Kindertagen in Bad Grund vertraut sind: »Krieg« und »Kameraden«.
Der »Oberst a. D. Freiherr von Ledebur vom Jäger-Bataillon des Infanterie-Regiments 17« schreibt: »Pflicht der lebenden Kameraden gegenüber ihren gefallenen Kameraden ist es daher, die Geschichte des vergangenen Krieges und die Taten der Goslarer Jäger aus dem Dunkel der Nachkriegszeit wieder herauszureißen und dafür zu sorgen, dass dieses heldenhafte Ringen nicht im Reich des Vergessens versinkt.«
Der schöne Erich, der dicke Otto, der schlaue Willi, mein Vater: Waren das auch Helden? Aber warum musste mein Vater ein Jahr im Wald arbeiten, wenn er ein Held war? Ich lese weiter: »Im polnischen Feldzug stürmt das Jägerbataillon Nummer 17 am 5. September 1939 in schneidigem Angriff den Barowa-Berg bei Petrikau, den Schlüsselpunkt der polnischen Stellung. Es ist ein hohes Lied wahren deutschen Soldatentums und echten Jägergeistes.«
Morgen Nachmittag müssen meine Helden von Goslar 08 schneidig angreifen, wenn sie ihr Punktspiel gegen die Spitzenmannschaft des VfL Wolfsburg gewinnen wollen. Um 10.30 Uhr, entnehme ich der »Goslarschen Zeitung«, beginnt am Jägerdenkmal eine Feierstunde. Da ich mich am Sonntag wieder frei bewegen kann, beschließe ich, diesen Tag auch für mich zu einem Festtag zu machen: vormittags Goslarer Jäger, nachmittags Goslar 08.
Das Jägerdenkmal an der Wallstraße liegt direkt am Weg von unserer Wohnung zum Stadion. Es zeigt einen riesigen Soldaten aus Eisen, der, das Gewehr im Anschlag, vor einer steinernen Wand kniet. Die Wand ist mit Efeu bedeckt. Sie würde sich also ideal zum Torwarttraining eignen. In einen Grabstein neben dem Denkmal ist ein Totenkopf gemeißelt, unter dem sich zwei Knochen kreuzen.
Mehrere Tausend Menschen, etwa so viele wie bei einem Heimspiel von Goslar 08, säumen das Denkmal, als eine Gruppe schwarz gekleideter Männer, es sind bestimmt Kriegskameraden, vor dem eisernen Soldaten einen Kranz niederlegt. Eine Kapelle spielt dazu ein traurig klingendes Lied. Der alte Herr neben mir weint, während er es mitsingt.
Ich hatt’ einen Kameraden,
Einen bess’ren findst du nit.
Die Trommel schlug zum Streite,
Er ging an meiner Seite
In gleichem Schritt und Tritt.
Eine Kugel kam geflogen.
Gilt’s mir oder gilt es dir?
Ihn hat es weggerissen,
Er liegt vor meinen Füßen
Als wär’s ein Stück von mir.
Als die Kapelle die ersten Takte des nächsten Liedes spielt, erheben sich auch die Männer, die bis zu diesem Zeitpunkt auf einer Stuhlreihe unmittelbar vor dem Denkmal saßen. Einige von ihnen haben nur ein Bein, einige nur einen Arm, einige nur ein Bein und nur einen Arm. Einer hat gar keine Arme mehr.
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt,
wenn es stets zum Schutz und Trutze
brüderlich zusammenhält.
Von der Maas bis an die Memel,
von der Etsch bis an den Belt –
Deutschland, Deutschland über alles,
über alles in der Welt.
Zum Abschluss der Feier tritt ein Redner vor den eisernen Soldaten. »General Brüning ist das«, flüstert mir mein Nachbar mit feierlicher Stimme zu. »Nimm mal die Hand aus der Tasche!« General Brüning sagt: »Lassen Sie mich die Gedenkstunde als ein Zeichen der Rehabilitierung werten dafür, dass in der Zeit nach 1945 unsere Toten in so schändlicher Weise diffamiert wurden.«
Ein Beifall wie nach einer kühnen Parade von Torwart Macha brandet auf. Ich klatsche nicht, weil ich den Sinn der Worte zwar erahne, aber nicht begreife. Als mein Nachbar mich strafend anschaut, klatsche auch ich. In die Schweigeminute, die der Rede folgt, ruft jemand: »Heil Hitler!« Als sei dieser Gruß ansteckend, ertönt es nun vor mir, hinter mir, neben mir: »Heil Hitler!« Manche Männer strecken, als sie »Heil Hitler!« rufen, ihren rechten Arm aus. Sie halten ihn in der gleichen Höhe wie Torwart Macha, wenn er den Ball nach einer Ecke aus dem Strafraum faustet.
Im Stadion am Osterfeld habe ich meinen Stammplatz. Zwei Reihen unter mir steht der berühmte Kunstturner Alfred Schwarzmann, der bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin dreimal Gold und zweimal Bronze gewann. Am Ratsgymnasium ist er, ausgerechnet er, mein Sportlehrer. »Du hängst am Reck wie ein nasser Sack«, sagt er bei fast jeder Übung an diesem Gerät zu mir. Und als ich mal meine Turnhose vergesse, befiehlt er mir, sie von zu Hause zu holen. Anderthalb Stunden brauche ich hin und zurück.
Wenn Alfred Schwarzmann im Stadion in meine Richtung schaut, versuche ich sofort, seinem Blick auszuweichen. Ich habe Angst vor ihm. Ich denke immer, dass er mich bestrafen will. Vielleicht will er das ja gar nicht. Kann sein, dass ich vor ihm Angst habe, weil ich vor meinem Vater ständig Angst habe. Alfred Schwarzmann, das weiß ich vom schönen Erich, war nicht nur beim Turnen ein Held, sondern auch im Krieg. Fallschirmjäger, Ritterkreuz … Wenn der schöne Erich diese Wörter ausspricht, leuchten seine Augen.
Links von mir steht ein Zuschauer, der auch bei Regenwetter eine dunkle Brille und am Ärmel eine gelbe Binde mit drei dicken schwarzen Punkten trägt. Ein Kriegsblinder, der nur den halben Eintrittspreis bezahlt, ist das. Bei Smolensk, tuschelt man sich in der Halbzeit zu, hat ihn der Iwan mit dem Flammenwerfer erwischt. Smolensk? Iwan? Richtig: Von Smolensk und dem Iwan ist auch ständig die Rede, wenn sich mein Vater mit seinen Kriegskameraden trifft. Aber sie erzählen sich immer nur die Geschichte, wie der dicke Otto bei Eiseskälte in einen vom Iwan belagerten Wald geschissen und sich dabei fast den Arsch abgefroren hat.
Der Kriegsblinde wird von einem jungen Mann, seinem Sohn, untergehakt. Vom Anpfiff bis zum Schlusspfiff schildert er seinem Vater wie ein Reporter das Geschehen auf dem Platz. »Wolfsburg greift über rechts an, Thielemann klärt und gibt weiter zu Zahorsky. Der passt zu Schröder. Schröder kurvt nach innen, dringt in den Strafraum ein. Schröder schießt: Toooor! 1: 0 für Goslar 08.«
Mit zwei, drei Sekunden Verzögerung reißt der Kriegsblinde die Arme hoch. Er verliert das Gleichgewicht, strauchelt, kippt gegen die Zuschauerwand in der Reihe vor ihm. Der Sohn richtet ihn wieder auf, stellt ihn neben sich. »Siebte Ecke für Wolfsburg. Thielemann rettet auf der Linie. Schilling flankt zu Schulze, Schuss: Toooor! 2 : 0 für Goslar 08.« – »88. Minute. Stasch steht frei vor dem Torwart. Stasch schießt. Toooor! 3: 0 für Goslar 08.« Als der Jubel der 2500 Zuschauer bereits verklingt, ruft auch der Kriegsblinde: »Tooor!« Diesmal kann er die Arme nicht hochreißen. Sein Sohn hält sie fest.