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1 Teufelstal

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Schweigen. Auch am Sonntag beim Frühstück: dieses grauenhafte Schweigen. Meine Mutter schweigt, weil sie ständig an ihre Eltern, meine Oma und meinen Opa, denkt. In Berlin, im Stadtteil Wedding, kamen sie, kurz vor Toresschluss, bei einem Bombenangriff ums Leben.

Mein Vater schweigt, weil er in Gedanken bestimmt schon wieder bei seiner Arbeit im Wald ist: Die Axt anlegen. Den Stamm spitzen. In Deckung gehen. Die Äste entfernen. Aufpassen, dass kein Vogelnest beschädigt wird. Den Stamm in Stücke sägen.

Ein Jahr lang muss mein Vater, der vor dem Krieg als Buchhalter der Erzgrube »Hilfe Gottes« in Bad Grund im Oberharz hinter einem Schreibtisch saß, im Wald arbeiten. Das ist die Strafe dafür, dass er einem Mann folgte, der auf den Briefmarken in der Schublade einen Schnurrbart trägt und den die Erwachsenen »Adolf« nennen. NSDAP, SA, Oberscharführer … mit den Begriffen in dem Fragebogen, mit dem sich mein Vater wochenlang beschäftigt hat, kann ich nichts anfangen. Aber sie bedeuten wohl etwas Böses.

Der ältere Bruder meines Vaters, mein Onkel Ernst, ist im Krieg gefallen. In der Eifel. Am 13. Februar fünfundvierzig. Auch kurz vor Toresschluss. Gefallen? Kann man nicht wieder aufstehen, wenn man gefallen ist? Nebenan schimpft der alte Bartels mit seiner Frau. Wenn sie zurückschimpft, jault Molli auf, der schwarze Spitz der beiden. Der Himmel ist grau, dunkelgrau – wie gestern und vorgestern und vorige Woche und die Woche davor. Die Uhr an der Wand tickt, tickt, tickt. Bitte, sagt was; irgendwas. Meine Eltern sagen nichts.

Ich renne vom Roland, dem Hügel, auf dem wir wohnen, in Richtung Kurpark, streife die Sträucher der Schrebergärten, in denen Mokri haust, der Italiener, der, wie die Leute erzählen, unsere Katzen wegfängt und brät oder kocht oder dünstet oder gleich roh verzehrt und der mit seiner Flinte auf die Vögel schießt, die im Liederbuch meiner Volksschulklasse 1a vorkommen. Amsel, Drossel, Fink und Star. Alle Vögel sind schon da. Alle Vögel, alle.

Der »schöne Erich«, ein Kriegskamerad meines Vaters, sagt: Wenn die Italiener nicht so feige gewesen wären, dann hätten wir den Krieg noch gewonnen. Anschließend erzählt er immer einen Witz. »Fragt der eine: Kennst du Italiener? – Antwortet der andere: Ja, aber nur flüchtig.« Auch der schöne Erich war irgendwo Mitglied. Nur aus einem doppelten Buchstaben besteht der Name: SS.

Auf dem Iberg, wo die Sage vom Zwergenkönig Hübich spielt, der einer armen Bergmannsfrau silberne Tannenzapfen schenkte, knarzen die Buchen im Novemberwind. Seltsame Laute weht er aus dem Teufelstal zu mir herauf: Uuiiii. Pfuuiiii. Aaaaah. Als eine Lichtung den Blick freigibt, erkenne ich ein rechteckiges, von Pfützen übersätes Feld, auf dem Pulks junger Männer, deren Konturen immer wieder hinter einem Schleier aus Schneeregen verschwimmen, einen Ball vor sich hertreiben.

Ich stolpere, rutsche, springe den Hang hinunter. Kaum bin ich am Rande des Platzes zum Stehen gekommen, fliegt der klitschnasse Lederball wie ein Geschoss auf mich zu. Aus Angst, er könne unmittelbar vor mir aufprallen und mir mitten ins Gesicht klatschen, stoppe ich ihn mit dem linken Fuß und halte ihn wie ein waidwundes, aber keineswegs erledigtes Wild für fünf, sechs Sekunden unter der Sohle fest. Dann hebe ich ihn auf und werfe ihn einem der keuchenden Männer in den kurzen Hosen zu. Der leitet ihn, ein knappes »Danke!« knurrend, an einen Mitspieler weiter. Er läuft, dreht sich, zielt, trifft. Toooor!, rufen die Zuschauer und umarmen sich.

Ich – jawohl: Ich – habe die Aktion eingeleitet, die mit Triumph und Jubel endete. Ein Schauer des Glücks erfasst mich. Ich speichere mein Erlebnis in allen Einzelheiten im Kopf, bewahre es dort auf wie einen Schatz.

Mir ist klar, dass ich mich heute Vormittag unerlaubt von zu Hause entfernt habe. Also erwartet mich nach meiner Rückkehr eine Strafe. Um die Begegnung mit meinem Vater hinauszuzögern, erfinde ich Spiele. Ich spiele Fußball mit mir selbst.

Aus einer Böschung löse ich drei Steine. Zwei Steine lege ich in einem Abstand von zwei, drei Metern parallel zueinander auf den Bürgersteig. Das sind die beiden Pfosten. Der dritte Stein soll, nachdem ich aus etwa 15 Metern Entfernung gegen ihn getreten habe, möglichst über die Linie dazwischen schurren. Zehn Versuche gebe ich mir. Bin ich mehr als fünfmal erfolgreich, habe ich gewonnen. Daneben … drin. Drin … daneben. Drin. Drin. Daneben. Drin. Pfosten … drin. 6 : 4 für mich.

An einer Reihe von Büschen hängen erbsengroße weiße Beeren, Schneebeeren. Sie halten dem heißesten Sommer und dem kältesten Winter stand, und selbst die hässlichen Krähen, die über jedes tote Getier herfallen, wagen sich wegen ihres bitteren Geschmacks nicht an sie heran. Ich pflücke die Beeren, sammele sie in der hohlen Hand, werfe sie in die Luft, katapultiere sie mit dem Fuß, ohne dass sie den Boden berühren, wieder in die Höhe. Einmal, zweimal … siebenmal, dreizehn Mal. Dann versuche ich das Kunststück mit dem Knie. Zum Schluss gelingt es mir sogar, eine Beere mit der Hacke so gefühlvoll weiterzuleiten, dass ich sie mit dem Kopf auffangen und balancieren kann.

Als mich mein Vater gleich im Flur bestraft, spule ich die Bilder von meinem Erlebnis im Teufelstal ab. Die Backpfeife rechts – klick: der Schuss. Die Backpfeife links – klick: das Tor. Die Kopfnuss – klick: der Jubel. Im Wohnzimmer haben sich, wie so oft am Sonntag, die Kriegskameraden meines Vaters versammelt – der »schöne Erich«, der »dicke Otto«, der »schlaue Willi«. Auf dem Tisch stehen Bierflaschen und Teller voller hoch mit Zwiebeln beschichteter Mettbrötchen. »Na, das gibt vielleicht ein Konzert heute Nacht im Schlafzimmer«, sagt mein Vater. Der schöne Erich sagt: »Zwiebeln sind doch noch gar nichts. Was meinst du, wie du nach Bohnen trompeten kannst! Jedes Böhnchen ein Tönchen.« Der schlaue Willi sagt: »Wenn’s Arschl brummt, ist’s Herz gesund.« Der dicke Otto sagt: »Darauf kannst du einen lassen.«

Der schöne Erich reicht meiner Mutter einen Zehnmarkschein. Er fragt: »Kannst du den wechseln?« »Nein, kann ich nicht.« – »Ach, ich dachte, du bist in den Wechseljahren.« Mein Vater holt die Packung mit den Kyriazi-Zigaretten aus dem Schrank. Kyriazi gibt es nur am Sonntag. Und auch nur, wenn die Kriegskameraden zu Besuch sind. Gold Dollar oder Ernte 23, die alltags geraucht werden, sind rund und stehen senkrecht in der Schachtel. Kyriazi sind oval und ruhen waagerecht in einem Bett aus Silberpapier. Aus Ägypten kommt der Tabak. Auch König Faruk soll ihn schätzen.

Westfront. Ostfront. Smolensk. Iwan. Dünkirchen. Perpignan. Polacken. Panzerfaust. Zum hundertsten Mal höre ich diese Namen, diese Begriffe. Aber nur mit Perpignan kann ich etwas anfangen. In Perpignan, in Südfrankreich liegt das wohl, ist den Soldaten ein Hund zugelaufen, ein Mischling. Und Major Jenner, der alte Jenner, hat es ihnen erlaubt, den Hund zu behalten und mit ihm von Etappe zu Etappe zu ziehen. Zum Obergefreiten haben sie Lumpi Heiligabend zweiundvierzig befördert.

Mein Vater nimmt seine Gitarre von der Wand und setzt sie sich vorsichtig auf sein Knie. Die Gitarre hat es besser als ich. Die Männer singen.

Alle Tage ist kein Sonntag,

Alle Tag gibt’s keinen Wein,

Aber du sollst alle Tage

Recht lieb zu mir sein.

Und wenn ich einst tot bin,

Sollst du denken an mich,

Auch am Abend, eh’ du einschläfst

Aber weinen darfst du nicht.

Der dicke Otto sagt: »Im Osten hatten die Flüchtlinge nicht mal das Schwarze unter den Fingernägeln. Und hier werden sie plötzlich alle zu Großgrundbesitzern.« Bei uns zu Hause hat man den pensionierten Volksschullehrer Josef Mainka einquartiert. Aus Hirschberg stammt er. In Oberschlesien liegt das. In »Schläsien-Obber«, wie mein Vater sich ausdrückt.

Das Bilderbuch, das mir Herr Mainka geschenkt hat, handelt von Rübezahl, einem Berggeist, der, einen knorrigen Stab umklammernd, durch die schwarzen Wälder des Riesengebirges stapft. Mit seiner in Lumpen gehüllten, gewaltigen Gestalt flößt er mir Angst ein. Nachts träume ich manchmal von Rübezahl. In der Nacht nach dem Fußballspiel im Teufelstal träume ich von dem Schuss, dem Tor, dem Jubel.

Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen

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