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4 Schlägermütze

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Mach auf! Bitte, mach auf! Bitte, bitte: Mach auf! Meine Mutter macht nicht auf. Im Schlafzimmer hat sie sich eingeschlossen. Immer öfter tut sie das.

Mein Vater sagt: Mensch, wir wohnen jetzt nicht mehr in Bad Grund, diesem Kaff, sondern in Goslar, der alten Kaiserstadt. Weißt du, wie viel Einwohner Bad Grund hat? Viertausend. Und weißt du, wie viel Einwohner Goslar hat? Vierzigtausend. Du wolltest doch immer nach Goslar! Zum Bürovorsteher hat man mich befördert. Das gibt hundertsechsunddreißig Mark mehr im Monat. Hundertsechsunddreißig. Und die Knappschaft zahlt mir später eine Pension, von der andere nur träumen. Und seit der Koreakrieg ausgebrochen ist, geht’s dem Bergbau wieder richtig gut. Mensch, unser Sohn besucht jetzt das Gymnasium. Du wolltest doch immer, dass er das Gymnasium besucht! Ich weiß nicht, was du hast. Ich weiß es wirklich nicht.

Ich knie mich vor die Tür und beuge mich zum Schlüsselloch vor. Meine Mutter hat den Schlüssel abgezogen, so dass ich durch einen Lichtschacht ins Schlafzimmer blicken kann. Hinter der Gardine erhebt sich der Förderturm des Erzbergwerks Rammelsberg. Viele Hundert Meter tief fahren die Kumpel in den Berg hinein. Hundertsechzig Gramm Silber und ein Gramm Gold enthält jede Tonne des Erzes, das sie in den Stollen aus den Wänden sprengen und auf Loren laden. Das Silber, das wir prägen zum Taler blank und wert – bedenke, dass drum der Knappe in Berges Tiefe fährt.

Mein Fußballverein heißt nun Goslar 08. In der Amateuroberliga Niedersachsen-Ost, der zweithöchsten deutschen Klasse, spielt er – wie der SC Peine 48, der vor drei Jahren in Bad Grund nur mit 1: 2 gegen Schalke 04 verlor. Blauweiß – die Farben von Schalke 04 sind auch die Farben von Goslar 08. Und wie bei Peine 48 und Schalke 04 hat bei Goslar 08 jeder Spieler eine Nummer auf dem Rücken: Torwart Macha die Nummer 1, Mittelläufer Thielemann die Nummer 5, der Halblinke Schröder die Nummer 10, Linksaußen Juppe die Nummer 11. Rückennummern! Nur Spitzenmannschaften haben Nummern auf dem Rücken.

Ich presse das Auge ganz dicht an das Schlüsselloch, um den Ausschnitt, der sich bisher auf den schmalen Streifen bis zum Fenster beschränkte, zu erweitern. Mein Blick erfasst jetzt auch die Bettkante und das Bild von der Spree, die durch eine Wiesenlandschaft mit einem einsamen Baum in der Mitte fließt. Ein Sonnenstrahl wandert durch das Zimmer. Ich folge ihm in der Hoffnung, dass ich in seinem Kegel meine Mutter erkenne. Das Licht löst sich in Dunkelheit auf.

Würde meine Mutter, was häufig der Fall ist, im Zimmer auf und ab gehen, von Ecke zu Ecke, von Wand zu Wand, dann würde sie, für einige Sekunden wenigstens, den von mir einsehbaren Winkel kreuzen. Dann könnte ich von ihrem Gesicht, ihrem Gang ablesen, wie sie sich gerade fühlt. Wie traurig sie ist, wie lange es dauern könnte, bis sie die Schlafzimmertür öffnet. Meine Mutter geht nicht auf und ab. Auf dem Bett, das sich meinem Blick entzieht, wird sie liegen. Ich wende das Auge vom Schloss ab und presse stattdessen das Ohr dagegen. Schläft sie? Schluchzt sie? Atmet sie noch? Ist sie tot? Oder stellt sie sich tot?

Ich hämmere mit den Fäusten gegen die Tür, schreie: Mach auf! Bitte, bitte: Mach auf! Ich forme die Hände zu einem Trichter und flüstere durch das Schlüsselloch: Dann sag doch wenigstens was. Irgendwas. Meine Mutter sagt nichts.

Meine Lieblingsspieler bei Goslar 08 sind Torwart Macha und Mittelläufer Thielemann. Torwart Machas Stärke, schreibt die »Goslarsche Zeitung«, ist seine Reaktionsschnelligkeit auf der Linie. Das zeichnet auch »Todos« Brandt aus, mein Vorbild vom SV Viktoria Bad Grund. Verrate ich Todos, wenn ich nun Torwart Macha bewundere? Ich erkläre beide zu meinen Vorbildern. Und von meinen Mitspielern in der Straßenmannschaft lasse ich mich – wie damals in Bad Grund – Todos rufen.

Torwart Macha, der als Schlosser in der Kleiderfabrik Odermark arbeitet, trägt während des Spiels eine Mütze, eine Schlägermütze. Sie besteht aus einem Schirm und einer Wölbung, die aussieht wie eine aufgeblasene Kröte. Ein Druckknopf hält die beiden Teile zusammen. Auch ich besorge mir eine Schlägermütze – eine dunkelgraue, wie sie Torwart Macha auf dem Platz benutzt. Ich bezahle sie von meinem Taschengeld, das fünfzig Pfennig in der Woche beträgt. Als mein Vater die Mütze auf meinem Kopf entdeckt, schimpft er: »Du siehst ja aus wie ein Prolet! Schlägermützen sind Proletenmützen. Ich verbiete dir, mit dieser Mütze rumzulaufen!«

Das Auge und das Ohr beginnen von dem ständigen Druck zu schmerzen. Ich verlasse meinen Posten am Schlüsselloch und knülle eine Seite aus meinem Schreibheft zu einer Kugel zusammen. Nachdem ich sie in die Luft geworfen habe, befördere ich sie mit dem Fuß in Richtung Schlafzimmertür – mal mit dem Spann, mal mit dem Innenrist, mal mit dem Außenrist, mal mit der Pieke. Der Rahmen der Tür, hinter der meine Mutter auf dem Bett liegt und grübelt, ist das Tor. Habe ich nicht eben ein Räuspern gehört? Ist das ein Zeichen, dass die Tür sich gleich öffnet? Die Tür bleibt zu.

Während meiner Übungen mit der Papierkugel führe ich mir das schönste Erlebnis vor Augen, das ich seit unserem Umzug nach Goslar hatte. Im Stadion am Osterfeld wird das Punktspiel gegen Tuspo Holzminden abgepfiffen. Um den Spielern ganz nahe zu sein, renne ich zu dem Steg, der vom Platz in die Kabinen führt. Als Torwart Macha auf mich zukommt, stelle ich mich ihm in den Weg und blicke zu ihm auf. Ich möchte ihm sagen, wie gut er wieder gehalten hat. Aber ich bringe kein Wort über meine Lippen.

Torwart Macha legt seine Hand auf meine Schulter und sagt: »Na, mein Junge?« Auf dem 45 Minuten, also eine Fußballhalbzeit, langen Weg zu unserer Wohnung im Bergtal Nummer 8 fasse ich mir immer wieder auf die Schulter, die Torwart Macha berührt hat, und ich stelle mir vor, wie er hechtet, faustet, fängt. Als ich mit dieser Schulter eine Kiefer streife, bin ich traurig, weil ich glaube, dass ihr Zweig auch Torwart Machas Berührung wegwischt.

Meine Mutter sagt: Wie kann man sich über einen Krieg freuen? Auch wenn der Koreakrieg dem Erzbergwerk Rammelsberg Vorteile bringt – es bleibt ein Krieg. Und Kriege sind furchtbar. Das weißt du als ehemaliger Soldat doch selbst. Ich weiß es jedenfalls. Ja: Ich wollte immer nach Goslar. Aber glücklich bin ich hier nicht. Hast du gesehen, wie komisch der alte Müller mich neulich angeschaut hat? Der alte Müller mag mich nicht. Seine Frau mag mich auch nicht. Die grüßt mich nicht mal. Niemand mag mich in Goslar. Und ich mag mich auch nicht. Mein Bruder mag mich. Aber der lebt in Berlin, an der Spree.

Mittelläufer Thielemann, den ich genauso bewundere wie Torwart Macha, arbeitet als Schriftsetzer in einer Buchdruckerei in der Bäckerstraße. Auch Fritze Flügge, ein anderer Kriegskamerad meines Vaters, arbeitet dort. Mein Vater ist nicht gut zu sprechen auf ihn. Fritze Flügge, sagt er, verkehrt nachts in Bars und trinkt dort Sekt. Fritze Flügge sei ein Lebemann. Nur die Haute wo Laute trinke Sekt. Fritze Flügge gehöre aber gar nicht zur Haute wo Laute. Mein Vater trinkt Weinbrand, aber nie Sekt und nur ganz selten Korn. »Korn«, sagt er, »trinken die Proleten.«

Ich mag Fritze Flügge gern. Ich glaube, er mich auch. Weil er weiß, wie sehr ich Mittelläufer Thielemann bewundere, nimmt er mich irgendwann mit zu seiner Arbeitsstelle. Ich gehe durch ein Spalier vibrierender, ratternder Maschinen, die Blöcke aus Blei von sich stoßen. An einer der Maschinen sitzt der Mittelläufer Thielemann, der einzige Spieler von Goslar 08, der sich auch im bitterkalten Winter die Ärmel hochkrempelt. Sogar in die Niedersachsen-Auswahl hat man ihn schon berufen. Als er mich entdeckt, hält er kurz mit seiner Arbeit inne und lächelt mir zu. Mir. Nur mir. Wenn ich in Mathe mal wieder eine Fünf geschrieben habe oder wenn sich meine Mutter, wie heute, im Schlafzimmer einschließt, denke ich auch an dieses Lächeln.

Der Arzt sagt: Es liegt an den Wechseljahren. In den Wechseljahren kommt es bei Frauen oft vor, dass sie tagelang traurig sind. Mit Tabletten kriegen wir das schon wieder hin. Auch halb ausgebrütete Hühnereier sind gut für die Nerven. Der Schnabel des Kükens muss schon zu sehen sein. Augen zu – und runter damit! Aber wenn das alles nichts hilft, dann kommen wir um ein paar Wochen Woltorf nicht herum.

Woltorf? Wenn man irgendwas Dummes anstellt, dann sagen die Leute: Du kommst nach Woltorf, in die Klapsmühle. Meine Mutter soll nicht nach Woltorf. – Mach auf! Bitte, bitte: Mach auf!

Abends. Mein Vater deckt den Tisch. Es gibt – wie gestern und vorgestern und vergangene Woche und vorigen Monat und letztes Jahr und vorletztes Jahr – Schweinehack mit Zwiebeln, Hausmacher Leberwurst, gute Butter, Griebenschmalz und Harzkäse, in dem es, wenn Brummer über ihn hergefallen sind, vor Würmern wimmelt. Mein Vater untersucht ihn deshalb jedes Mal vor dem Verzehr mit einer Lupe.

Als Zutaten gibt es Rettiche und Radieschen aus unserem eigenen Garten. Die schmalen Wege zwischen den Beeten habe ich, stundenlang einen Fuß vor den anderen setzend, getreten. Mit einer Schnur hat mein Vater nachgeprüft, ob sie auch schnurgerade waren. Verliefen sie nicht »auf Kante«, musste ich zur Strafe Unkraut jäten. In Bad Grund habe ich mal beobachtet, wie ein wütender Vater seinen Sohn mit einer Zaunlatte verfolgte. Der Sohn lief in seiner Not einfach quer über die Gartenbeete. Der Vater benutzte die schnurgeraden Wege zwischen den Beeten. Und so entkam der Sohn seinem Vater.

Die Tür öffnet sich. Meine Mutter kommt herein. Sie setzt sich, als sei nichts gewesen, an den Tisch. Das Blaupunkt-Radio spielt Schlagermusik. Rudi Schuricke singt.

Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt,

Und vom Himmel die bleiche Sichel des Mondes blinkt,

Ziehn die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus,

Und sie legen in weitem Bogen die Netze aus.

Nur die Sterne, sie zeigen ihnen am Firmament

Ihren Weg mit den Bildern, die jeder Fischer kennt.

Und von Boot zu Boot das alte Lied erklingt,

Hör von fern, wie es singt:

Bella, bella, bella Marie,

Bleib mir treu, ich komm zurück morgen früh,

Bella, bella, bella Marie,

Vergiss mich nie.

Meine Mutter singt mit. Laut. Sehr laut. Zu laut.

Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen

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