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7 Klapsmühle

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Warten. Warten. Warten. Im Wartesaal des Bahnhofs in Goslar auf den Zug nach Braunschweig warten. Im Wartesaal des Bahnhofs in Braunschweig auf den Zug nach Peine warten. Vor dem Bahnhof in Peine auf den Bus nach Woltorf warten. Im Besucherzimmer der Klapsmühle in Woltorf auf den Arzt warten. Während des Gesprächs zwischen meinem Vater und dem Arzt darauf warten, dass ich das eine oder andere Wort aufschnappen kann. Elektroschock, lautet der einzige Begriff, den ich heraushöre.

Nach dem Gespräch zwischen meinem Vater und dem Arzt auf meine Mutter warten. Sie ist noch dünner und blasser geworden, blickt mich mit leeren Augen an, sagt nichts. Bin ich in einem Film? Ja, ich bin wohl in einem Film. Aber es ist kein Film mit Silvana Mangano und auch nicht mit Torwart Macha und Mitteläufer Thielemann.

Sonntag, 16. März 1952, Stadion am Osterfeld, Punktspiel der Amateuroberliga Niedersachsen-Ost zwischen Goslar und Peine, 29. Spieltag, 28. Minute: 1: 0 durch Salier, 68. Minute: 2 : 0 durch Voges, 85. Minute: 3 : 0 durch Nebelung. Mit 66 : 50 Toren und 38 : 25 Punkten rückt die Mannschaft, meine Mannschaft, auf den sechsten Tabellenplatz vor. »Das beste Spiel der Serie«, schreibt am Montag die »Goslarsche Zeitung«. Obwohl ich am Sonntag einer der 4000 Zuschauer war, lese ich den Bericht so häufig, dass ich ihn am Ende auswendig kann. 3: 0, nur fünf Ränge hinter dem Spitzenreiter – und das wenige Tage vor meinem Geburtstag!

Donnerstag, 20. März 1952. Nun bin ich schon zwölf. Am Mittag steht plötzlich der schmächtige Volksschüler Jörg vor unserer Veranda. Sein Vater betreibt an der Ecke, an der die Bergstraße in die Rammelsberger Straße mündet, einen Kiosk. Wenn ich bei ihm Negergeld kaufe, die schwarzen Taler aus Lakritze, schenkt er mir jedes Mal ein Tütchen Brausepulver dazu. Von seinem Kiosk blickt er auf ein mittelalterliches Haus, dessen Giebel eine Weisheit aus goldenen Buchstaben ziert: »Das Glück des Hauses – das Glück der Welt.«

Die Familie wohnt in einer Holzhütte, die sie sich selbst gezimmert hat und die einsam auf einer Wiese hinter dem Krankenhaus Theresienhof steht. Ich lerne Jörg kennen, als ich ihn auf dem Weg von der Schule zu unserer Wohnung dabei beobachte, wie er nach einem Ball sucht, der im ungemähten Gras verschwunden ist. Ich helfe ihm bei der Suche, und als wir den abgewetzten Tennisball endlich gefunden haben, lädt mich Jörg in das Zimmer ein, das gleichzeitig als Wohnzimmer, Schlafzimmer und Küche dient. Auf dem Tisch in der Mitte sitzen einige Hühner, die jedes Mal, wenn wir uns beim Torwartspiel den Ball zuwerfen, aufgeregt gackern und mit den Flügeln flattern.

»Herzlichen Glückwunsch!«, sagt Jörg und drückt mir auf unserer Veranda den Tennisball in die Hand, mit dem wir beide erst vor wenigen Tagen gespielt haben. »Mein Geschenk für dich!« Als meine Mutter die Tür öffnet, um uns hereinzulassen, nähert sich mein Vater der Veranda. Er mustert Jörg von oben bis unten, bemerkt die ungeputzten Schuhe und das Loch in einem der Strümpfe, blickt ängstlich zum Fenster, hinter dem die gnädige Frau wohnt, zeigt auf den schmutzigen Tennisball in meiner Hand und fragt: »Was ist das denn?«

»Das ist das Geburtstagsgeschenk von Jörg.«

»Und wer ist Jörg?«

»Jörg wohnt in der Hütte hinter dem Theresienhof.«

»Du gibst den Ball sofort zurück!«

»Warum?«

»Weil ich dir das Ballspielen verboten habe und weil dieser Junge kein Umgang für dich ist.«

Ich zögere. Dann gebe ich Jörg den Tennisball zurück. Er wendet sich ab und läuft, ohne sich umzudrehen, in Richtung der Hütte, in der die Hühner mitten unter den Menschen wohnen und in der auch ich am liebsten wohnen würde.

20. März, nachmittags. Mein Vater ist nach dem Mittagessen zurückgekehrt in sein Büro. Meine Mutter hat einen Geburtstagstisch für mich vorbereitet. In der Mitte liegt eine mit Geschenkpapier umwickelte Kugel. Ich entferne die Hülle so langsam, dass die Spannung möglichst lange anhält. Ich erkenne eine Naht und Schnüre. Ich taste mich über die Haut, die mir fremd vorkommt. Ist sie aus Gummi? Nein, Gummi fasst sich anders an; härter. Ist sie aus Leder? Ja: Sie muss aus Leder sein. Ein Lederball ist das. Ein richtiger Fußball. Ein Fußball, wie ihn Torwart Macha in den Händen hält, wenn er eine Flanke unschädlich gemacht hat. Ich streichele den Ball und frage: »Von euch?«

»Von mir.«

»… und wenn …?«

»Wenn ich dir einen Fußball schenke, dann darfst du damit auch spielen. Es muss ja nicht auf unserem Grundstück sein. Es gibt doch genügend andere Möglichkeiten.«

Ein langer Zaun mit einer Tür an der Seite trennt die Wohnhäuser im Bergtal von der Straße, an der sich das Verwaltungsgebäude des Erzbergwerks Rammelsberg befindet. Ein besseres Übungsziel als diesen Zaun kann man sich kaum vorstellen. Will man seine Fähigkeiten als Feldspieler trainieren, reagiert man mit dem Fuß auf den zurückprallenden Ball – eine Zeit lang mit rechts, dann mit links, schließlich abwechselnd mit rechts und mit links. »Thielemanns Stärke«, hat die »Goslarsche Zeitung« geschrieben, »ist seine Beidfüßigkeit.«

Geht es darum, die Reaktionsschnelligkeit als Torwart zu verbessern, entscheidet man sich, je nach der Geschwindigkeit und der Flugbahn des Balles, für den Stand oder den Sprung, das Fangen oder das Fausten. Die letzten zehn Schüsse widme ich den Verboten und den Geboten, die mir mein Vater auferlegt hat. Immer wenn der Ball, beschleunigt von meiner Kraft und meiner Wut, gegen den Zaun prallt, stelle ich mir vor, eine dieser Regeln ausgelöscht zu haben.

Du darfst keine Forellen aus dem Bach fischen, denn das ist Wilddieberei! Schuss. Rumms. Gelöscht.

Du sollst nicht »Danke« sagen, wenn du keinen Kuchen mehr möchtest, sondern: »Nein, danke.« Schuss. Peng. Gelöscht.

Du darfst nicht die Hitparade des amerikanischen Soldatensenders AFN hören, denn das ist Negermusik, und der Ami hat uns in Remagen behandelt wie den letzten Dreck. Schuss. Klatsch. Gelöscht.

Du sollst die Hände aus den Taschen nehmen, wenn du der gnädigen Frau begegnest. Schuss. Wumm. Gelöscht.

21. Juli 1952. Die »Goslarsche Zeitung« meldet: »Hoffnungsvoller Start unserer Fußballer. Zum ersten Male seit 1936 griff am Sonntagabend die deutsche Fußballmannschaft in das Olympische Fußballturnier ein.« – 3:1 gewinnt die deutsche Amateurmannschaft in der finnischen Stadt Abo gegen Ägypten. Ihre Aufstellung kann ich am nächsten Tag aufsagen wie eine Ballade von Friedrich Schiller: Schönbeck, Eberle, Post, Sommerlatt, Jäger, Gleixner, Mauritz, Stollenwerk, Zeitler, Schröder, Ehrmann.

25. Juli 1952. Nach einem 0 : 2-Rückstand schlägt die deutsche Olympiamannschaft in der Verlängerung den Favoriten Brasilien mit 4 : 2. »Das Ra-ra-ra Germania«, schreibt die »Goslarsche Zeitung«, »brandete als Aufpulverungspille über das Stadion.«

29. Juli 1952, abends. Mein Vater nimmt an einer Sitzung teil, bei der über das bevorstehende Fest der Goslarer Bergleute, das berühmte Bergfest, gesprochen wird. Der Nordwestdeutsche Rundfunk überträgt zur gleichen Zeit aus dem Olympiastadion in Helsinki das Halbfinale zwischen Deutschland und Jugoslawien. Meine Mutter schaltet das Blaupunkt-Radio ein. Sie bleibt an meiner Seite, als der Reporter die neunzig Minuten schildert.

5. Minute: Der jugoslawische Halblinke Mitic flankt, der Halbrechte Bobeck vollendet. 0:1.

Deutschland stürmt. Schuss von Schröder. Verteidiger Stankovic lenkt den Ball gegen den Pfosten.

12. Minute: Stollenwerk schießt. Tooor! 1:1.

Deutschland drängt, erzwingt fünf Ecken. Schröder spielt steil auf Zeitler. Der Ball geht knapp am Tor vorbei.

25. Minute: Bobeck dringt in den Strafraum, schießt: Tor. 1: 2. Cajkovski nimmt einen Querpass auf, verwandelt unhaltbar für Schönbeck. 1: 3.

Zweite Halbzeit. Deutschland stürmt. Sommerlatt schießt. Knapp vorbei. Schröder schießt. Knapp vorbei. Indirekter Freistoß für Deutschland. Von der Unterkante der Latte prallt der Ball ins Feld zurück. Der finnische Schiedsrichter Wolf Kerni pfeift das Spiel ab. Jugoslawien gewinnt 3:1.

Meine Mutter macht das Radio aus. Das magische Auge, das wie wild hin und her flackerte, wenn sich die Stimme des Reporters vor Eifer überschlug, erlischt mit zwei, drei Sekunden Verzögerung. Meine Mutter geht zum Fenster und starrt mehrere Minuten schweigend in die heraufziehende Dunkelheit. Mit einer ruckartigen Bewegung dreht sie sich um und setzt sich zu mir auf das Sofa. Sie sagt: »Ich will nicht mehr.«

»Was willst du nicht mehr?«

»Leben.«

»Warum willst du nicht mehr leben?«

»Weil ich das Leben nicht mehr aushalte. Ich bin für dieses Leben nicht geschaffen. Du bist es auch nicht. Ich werde gehen. Und ich glaube, es ist besser, wenn ich dich mitnehme.«

Ich lege mich schlafen. Wie in jeder Nacht seit dem 20. März, ruht der Lederball neben mir. Heute Nachmittag habe ich ihn wieder eingefettet. Ich schließe die Augen und spule den Film mit dem Spiel gegen Jugoslawien ab. Da ich nur die Reportage im Radio gehört habe, komme ich mir dabei vor wie der Kriegsblinde im Osterfeld-Stadion. Ach, hätte Deutschland doch gewonnen!

Torschrei - Bekenntnisse eines Fußballsüchtigen

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