Читать книгу Hatz - Jørgen Gunnerud - Страница 4

2

Оглавление

Nach zwanzig Minuten Fahrt lichtete sich der Wald, und eine der schönsten Kulturlandschaften Norwegens lag vor ihnen. Umgepflügte Äcker und gelbe Stoppelfelder badeten in der tief stehenden Morgensonne. Breite Hügel erstreckten sich wellenförmig über den ländlichen Bezirk Toten. Gihle hielt in einer Kurve an.

»Gibst du mir noch was zu rauchen?«

Sie zündeten ihre Zigaretten an, und Moen ließ den Blick über die Landschaft schweifen, vom hoch oben gelegenen Vestre Toten über Lena in Østre Toten bis hinunter nach Skreia und den Höfen bei Balke. Auf den Höhenzügen lagen gut sichtbar die größten Höfe mit den kurzen, uralten Namen und intakten Grabstätten der Vorfahren. Ein paar weiß angemalte Kirchen waren ebenfalls gut erkennbar und zeugten von der legendären Gottesfürchtigkeit der Totener. Moen gehörte dem Nachbarvolk an. Er stammte aus Hadeland und lächelte in sich hinein bei dem Gedanken, den er eben formuliert hatte: Die legendäre Gottesfürchtigkeit der Totener. Sein Freund, der gottesfürchtige Totener, unterbrach die Gedankenfolge.

»Dort liegt Lundby, oder Store Lundby, um genau zu sein.« Asbjørn Gihle deutete auf die nächstgelegene Anhöhe. »Siehst du das lange, zweistöckige Gebäude mit dem Walmdach?«

Moen nickte und studierte die Anlage; ein enormes, rot gestrichenes Wirtschaftsgebäude mit Glockenturm, ein breites, gelbes Vorratshaus, Gesindestuben und Holzschuppen.

»Sieh mal nach rechts, dort, vor den Grabhügeln.«

Moen lenkte den Blick auf eine Häusergruppe. Siedlungshäuser aus den 70er-Jahren. Er nickte.

»Internat und Personalwohnungen.« Gihle legte den Gang ein und fuhr weiter.

»Eine Anstalt?«

»Aus der Bahn geworfene Jugendliche.«

»Jugendhilfe oder Psychiatrie?«

»Um ehrlich zu sein, ich bin nicht ganz sicher.«

Und dann, als er den Wagen nach rechts lenkte und die lange Ulmenallee nach Store Lundby hinauffuhr, murmelte Gihle: »Mein Bruder betreibt den Nachbarhof, Lille Lundby. Meine Schwägerin leitet diese Einrichtung.« Er drehte sich zu Moen: »Ich hoffe, ich gelte deswegen nicht als befangen.«

»Das klären wir dann später.«

Als sie angekommen waren, gingen sie vom Auto zum Haus, in dem das Verbrechen stattgefunden hatte, eine dunkel gebeizte, großzügige Siedlungsvilla aus den 70er-Jahren mit Souterrain. Auf der Treppe saß Gihles Kollege, Odd Sørli. Ein rundlicher Typ Mitte vierzig, in T-Shirt und Flanellhemd gekleidet, saß daneben und hatte den Arm um die Schultern des weinenden Riesen gelegt.

»Das ist mein Bruder Harald«, sagte der Lensmann und hob den Arm zur Begrüßung. Harald Gihle stand auf und fühlte sich deutlich unbehaglich.

»Ich vertrete Sissel. Sie ist vollkommen zusammengeklappt, als sie von dieser Geschichte hier erfahren hat. Du weißt ja, wie das ist«, sagte er zu seinem Bruder. »Tut mir wirklich leid.« Lensmann Gihle schnitt eine Grimasse und ergriff die Türklinke.

»Dann schauen wir mal, was passiert ist.«

Die Tür war verschlossen.

»Ist jemand hier?«, fragte er Sørli.

»Ein Junge und ein Sozialtherapeut. Die anderen sind auf einem Ausflug. Gehen Sie von der anderen Seite rein. Jenny hält Wache und der Arzt ist noch da.«

Vor dem Souterrain lag eine große Thermopenscheibe. Sie war aus dem Fensterrahmen herausgeschraubt worden und lag ordentlich auf dem Rasen. In der Fensteröffnung stand eine Polizeibeamtin in dunklem Overall. Sie hatte eine gedrungene Nase und helles Haar. Ihr war sichtlich unwohl, und Asbjørn Gihle legte die Hand auf ihre Schulter und drückte sie vorsichtig. Dann drehte er sich zu Moen:

»Das ist Jenny Kammerstuen.« Ihr erklärte er, wer Knut Moen war. Moen nickte und blickte sich um.

»Wollen wir reingehen?«

Die Polizeibeamtin reichte ihnen vier Überzüge. Die streiften sie sich über ihre Schuhe, und Moen warf einen Blick auf die Uhr. Die zeigte fast 08:00. Er kletterte durch die Fensteröffnung in den kahlen Kellerraum. Der Boden war mit Couronnesteinen übersät. Das Brett lag in einer Ecke zusammen mit dem Tisch, auf dem es gelegen hatte. Die Tür zum Kellerzimmer stand offen, und Moen schaute hinein. Er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was er da sah. In gerader Linie von seinem Standort über das verschlissene Vinyl und weiter bis zur nächsten Tür zog sich eine etwa einen halben Meter breite Blutspur. Sie endete bei zwei Turnschuhen. Moen atmete tief durch. Er blickte zum Lensmann und ging vorsichtig weiter zur anderen Tür. Er hatte den Kellerflur erreicht. Dort lag eine Frau, die er auf Ende zwanzig tippte. Ihr Kopf ruhte auf der untersten Treppenstufe. Das viele Blut war durch ihre auf den Bauch gepressten Finger herausgelaufen, und Moen konnte sehen, dass sie arge Schmerzen gehabt hatte. Er beugte sich über sie, warf einen kurzen Blick auf die Wunde, richtete sich wieder auf und musterte die Frau aus geringer Entfernung.

Dunkles, kurz geschnittenes Haar. Sonnengebräunt. Die Brüste spannten das enge T-Shirt. Motorradhosen aus Leder. Als Moen die schreckliche Verletzung für einen Augenblick außer Acht ließ, die Augen zusammenkniff und den Menschen betrachtete, der da lag, musste er feststellen, dass es eine ziemlich attraktive Frau war. Es gab etwas Raubtier- oder Katzenähnliches an ihrer ganzen Erscheinung.

Er ging zurück in den Kellerraum, wo Asbjørn Gihle stand und verloren aussah. Moen ließ den Blick ein weiteres Mal prüfend durch den Raum gleiten. Ein schmutziges Viereck an der Holzverkleidung über dem verschlissenen Hüttensofa zeugte davon, dass etwas verschwunden war. Der Fernsehhocker in der Sofaecke stand einsam und verlassen da. Am Anfang des blutigen Streifens, den Anne Sørli hinterlassen hatte, sah er einen halben Fußabdruck. Asbjørn Gihle räusperte sich und zeigte auf etwas.

»Da liegt ein Handy unter dem Sofa. Ob es wohl ihr gehört?«

»Lass es liegen. Ist dir noch was anderes aufgefallen?«

»Das hast du bestimmt schon gesehen. Ihr Schlüsselbund hängt am Gürtel.«

Moen legte die Hand auf Gihles Schulter und sagte:

»Wollen wir nach oben gehen und nachsehen, was wir dort finden?«

Sie stiegen vorsichtig über Anne Sørlis Kopf hinweg und kamen hinauf in einen Gang innerhalb des Eingangsbereichs. Zur Linken führte eine offen stehende Tür in einen großen Aufenthaltsraum, auf der rechten Seite gab es eine Küche. Am Küchentisch saß ein Mann mit gebeugtem Kopf, die Hände vors Gesicht geschlagen. Beim Anblick der Polizisten zuckte er zusammen und erhob sich. Dann entdeckte er den Lensmann. »Gott sei Dank«, sagte er und ergriff Gihles Hand.

»Ich heiße Reidar Olsby. Ich habe sie gefunden.«

»Gihle«, antworte der Lensmann. »Das ist Knut Moen, Kommissar von der Kripo-Zentrale. Sind noch andere hier?«

»Einer der Bewohner, Per Erik Henriksen. Er saß auf der Treppe bei Anne und war voller Blut. Aus einer Verletzung an der Hand floss das Blut wie in Strömen.«

»War er alleine mit ihr?« Gihle stand auf. »Wo zum Teufel ist der Junge jetzt?«

»Er ist im Wachraum, zusammen mit dem Arzt. Er hat was zur Beruhigung bekommen.«

Gihle ging zum Eingang, schloss die Tür auf und schrie Odd Sørli an, er solle seinen Hintern in Bewegung setzen. Sørli stolperte fast in den Flur hinein und erhielt den Befehl, auf den Arzt aufzupassen. Sørli und Gihle verschwanden in dem Zimmer, das Olsby als Wachraum bezeichnet hatte. Die Hälfte der Tür war aus Verbundglas, mit einem sternförmigen Sprung in der Mitte.

Moen setzte sich an den Küchentisch, zündete sich eine Zigarette an und wurde gleich darauf hingewiesen, dass es eigentlich nicht erlaubt sei, innerhalb des Internats zu rauchen.

»Vielleicht könnten Sie uns etwas Kaffee machen?«, erwiderte Moen freundlich. Reidar Olsby lächelte zum ersten Mal. Er stand auf und machte sich an der Kaffeemaschine zu schaffen, während Moen ihn betrachtete. Er war ein gut aussehender, dunkelhaariger Typ, etwas älter als Moen zunächst gedacht hatte. Er hatte einen hellblauen Jeansanzug mit weißem T-Shirt an, à la James Dean, und trug Holzschuhe, etwas, das Moen seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte. Die glatte Olivenhaut wurde nur durch eine hässliche Narbe am Kinn verunstaltet.

»Ich muss Sie etwas fragen: Was ist das hier eigentlich? Ist es ein Jugendheim?«

Reidar Olsby schraubte am Kaffeefilter herum und lehnte sich rücklings gegen die Arbeitsplatte.

»Nein, wir sind hier in der Jugendpsychiatrie, oder besser gesagt, einer psychiatrischen Einrichtung für Jugendliche. Zwölf bis achtzehn. Ein Jugendheim ist Teil der Jugendhilfe. Wir gehören zum Gesundheitswesen.« Olsby grinste schwach. »So steht es auf alle Fälle in den Papieren.«

Moen fragte nicht, was er damit meinte, und rauchte weiter.

»Wollen Sie mich nicht fragen, was passiert ist?«

»Wenn Gihle hier ist. Schenken Sie ihm auch was ein.«

Moen hatte dies in breitestem Oppland-Dialekt von sich gegeben, sodass Olsby ihn erstaunt ansah und fragte, ob er aus Toten komme. Moen erwiderte wahrheitsgemäß, dass er aus Hadeland stamme. Daraufhin lächelte Reidar Olsby schwach und sagte:

»Die Prügelei verschieben wir dann wohl auf später.«

»Es war sieben, als ich zur Arbeit kam. Wir fangen um acht Uhr an, aber ich bin gerne rechtzeitig hier.« Reidar Olsby blickte auf seine Hand, in der er die Tasse hielt. Sie zitterte, und mit einem Klappern stellte er die Tasse ab. »Können Sie nicht einfach nur Fragen stellen? Ich bin etwas aufgeregt.«

»Nehmen Sie sich Zeit«, gab Gihle zurück.

»Also, ich habe gleich bemerkt, dass irgendwas nicht stimmte. Jemand hatte versucht, das Verbundglas der Tür zum Wachraum einzuschlagen. Die Tür war verschlossen, ich habe einen Schlüssel, aber Anne war nicht da drin. Ich hab eine Weile hier oben gesucht, und dann fand ich sie im Keller.« Er seufzte schwer, und seine Stimme klang ein wenig gebrochen.

»Per Erik saß mitten auf der Treppe. Er war blutüberströmt.

Ich weiß nicht, ob es sein Blut war oder das von Anne, denn er hatte sich ziemlich übel die Hand verletzt.«

Moen unterbrach: »Wie hat er sich benommen?«

»Er wiegte sich hin und her und war völlig in seinen eigenen Gedanken versunken.« Reidar Olsby zuckte leicht mit den Schultern.

»Er hat ja große Probleme. Das Einzige, was er mir gesagt hat, war, dass er es getan hat.«

Das war erst mal eine Erleichterung, dachte Moen und sah zu Gihle, der mit Olsby beschäftigt war.

»Was haben Sie dann gemacht?«, fragte der Lensmann. »Sie hatten alleine Wachdienst, nicht wahr?«

»Per Erik saß ruhig auf der Treppe, während ich einen Rettungswagen rief. Danach telefonierte ich mit der Dienststelle des Lensmanns und wurde zu Sørli durchgestellt. Er sagte, Sie seien auf Jagd und Ihr Telefon sei abgestellt. Er meinte, dass man Sie holen müsse, und er fragte mich, ob ich solange die Stellung halten könne. Er werde so schnell wie möglich eine andere Kollegin herschicken, sagte er, und die kam dann gleichzeitig mit dem Arzt.«

»Hatten Sie keine Angst, dass der Junge eine Waffe bei sich haben könnte?«

»Ich hab’s überprüft und alles durchsucht. Nichts gefunden.«

»Aber war das nicht riskant? Ihre Kollegin wurde umgebracht.«

»So hab ich’s immer gemacht. Wenn Sie Zeit haben, können Sie ja mal unsere Messersammlung begutachten.«

Moen überhörte die Einladung.

»Hatten Sie denn bemerkt, dass in den Keller eingebrochen wurde?«

Reidar Olsby sah Moen erstaunt an. »Wir sind gleich nach oben in die Abteilung gegangen.«

Während Moen die Auskünfte auf sich wirken ließ, fragte Gihle: »Wo sind die anderen Jugendlichen?«

»Die sind auf einem Ausflug in Schweden, zusammen mit dem restlichen Personal. Per Erik durfte nicht mitfahren. Ich kümmere mich in einer Doppelschicht um ihn, und Anne hat die Nachtwachen übernommen.«

»Weshalb durfte er nicht mitfahren?«

»Das ist eine lange Geschichte. Wollen Sie sie jetzt hören?«

»Wie lautet die Kurzfassung?«, warf Moen ein.

Reidar Olsby überlegte einen Moment.

»Er hat eine Praktikantin angegriffen.« Er zuckte mit den Schultern. »Das klingt nicht besonders toll, ich weiß, aber die Geschichte ist nicht so einfach. Soll ich was darüber erzählen?« Moen schüttelte den Kopf.

»Das kann warten. Alle werden ihre Aussage machen können, aber verraten Sie mir eins: Wie alt ist der Junge?«

»Er ist fünfzehn.«

»Was ist mit den Erziehungsberechtigten? Wir würden ihn gerne vernehmen.«

»Die Mutter ist mit dem Stiefvater und zwei neuen Kindern irgendwo im Süden im Urlaub. Der Vater wohnt in Nordnorwegen, und ich weiß auch nicht, ob er uns überhaupt helfen kann.«

»Ist es möglich, den Vater zu kontaktieren, sodass er jemandem eine Vollmacht erteilen kann?«

»Das müssen Sie mit der Leitung klären. Da habe ich nicht genügend Einblick.« Reidar Olsby blickte verstohlen zu Asbjørn Gihle. »Aber das ist vielleicht leichter gesagt als getan, mehr will ich dazu nicht sagen.«

Ohne eine Miene zu verziehen, sagte Asbjørn Gihle: »Sagen Sie, was Sie auf dem Herzen haben, Olsby. Sie werden mich sowieso nicht schockieren können.«

»In einer solchen Situation sollte die Leiterin der Einrichtung hier sein und nicht zu Hause liegen. Das ist kein Zufall, um es so auszudrücken.«

Moen sah auf die Uhr.

»Gibt es jemand anderen, der sich um diese Angelegenheit kümmern kann?«

»Das wäre dann der Abteilungsleiter hier, Kjell Mannsåker, aber der hat eine Besprechung in der Stadt.« Nach einer Pause fügte Olsby hinzu: »Also Oslo meine ich, nicht Gjøvik.«

»Haben Sie seine Telefonnummer?«

Reidar Olsby bejahte, und Moen bat ihn, Gihle die Nummer zu geben. »Schaff ihn so schnell wie möglich her.«

Gihle ging hinaus in den Aufenthaltsraum. Moen und Olsby blieben zurück und sahen einander an, bis Olsby einwarf:

»Niemand hier in der Abteilung kann Per Erik in seine Obhut nehmen, wenn Sie das glauben.«

»Warum denn nicht?«

»Das ist eine lange Geschichte.«

Moen lächelte: »Okay. Gibt es jemanden in Per Eriks Nähe, der diesen Job machen kann? Jemand, der nicht hier arbeitet und nicht erst um die halbe Welt fliegen muss?«

»Wir haben hier eine Schule, und er hat ein ziemlich gutes Verhältnis zu seinen Lehrern, besonders zu einem.« Reidar Olsby sank in sich zusammen.

»Kann ich bald gehen? Ich fühle mich nicht gut.«

»Nein, Sie müssen noch bleiben und uns helfen.«

Hatz

Подняться наверх