Читать книгу Sein Traum von Harmonie - Jürgen Heiducoff - Страница 7
Das Zerbrechen der Familie überschattet die glückliche Kindheit
ОглавлениеZu Hause herrschen seit Wochen schlechte Stimmung und Streit. Vater Fritz trennt sich von Marie und der Familie. Die „Versorgungsehe“ nach Kriegsende mit der zehn Jahre älteren Marie erwies sich nun als überholt. Fritz hatte eine jüngere Frau gefunden. Mutter Marie verbietet Jura den Kontakt zu seinem Vater. Diese Umstände reißen ein tiefes Loch in Juras Leben. Er hat doch seinen Vater auch sehr lieb. Sehnsucht nach künftiger Harmonie kommen auf. Er träumt davon, dass sich Vater und Mutter wieder versöhnen könnten. Doch die Realität ist eine andere.
Jura mutiert zum Herrscher über Haus, Hof und Garten. Er genießt alle Freizügigkeiten, kann seine Ideen verwirklichen und beginnt mit den Jahren Schuppen und Speicher umzubauen. Er findet Reliquien aus der Nazizeit. Da sind Bücher und Akten , die den Nationalsozialismus verherrlichen. Sie stammen von den vier Söhnen Pauls. Einer ist in Russland gefallen, der andere bislang vermisst und der dritte hat sich in den Westen abgesetzt. Er war Offizier des Heeres und wollte den Russen nicht begegnen. Der Grund dafür wird immer ein Geheimnis bleiben. Der jüngste Sohn ist Fritz – Juras Vater.
Jura erfährt, dass Paul, ein anerkannter Arbeiterveteran, lange Jahre keinen Kontakt zu seinen Söhnen, allesamt stramme Nazis, haben durfte. Seine Frau habe dies den Kindern strengstens verboten.
Doch Jura lässt kein Mitleid mit Opa aufkommen, sondern Stolz auf ihn. Jura lernt von Großvaters Vorsätzen: „Nur der Kampf hat Sinn im Leben“ oder „Tue recht und scheue niemand, meide das Böse, das ist Verstand“. Diese verewigt Opa auch in seinen Eintragungen in Juras Poesiealbum.
Bei alledem: Jura bleibt ein individueller Träumer. Er träumt von Harmonie. Dies ist auch eine Art Flucht vor den Enttäuschungen der zerbrochenen Familie.
Jura entwickelt – nicht ohne Zutun seines Opas - Sympathien für die Arbeiterbewegung und besonders für August Bebel. Gleichzeitig empfindet Jura starken Hass gegen alles, was an den Faschismus erinnert.
Opa setzt sich im Gemeinderat mit dem Wunsch durch, die Borngasse, in der sich sein Haus befindet, in August-Bebel-Straße umzubenennen.
Paul ist stolz darauf seit 1901 der Gewerkschaft und seit 1904 der Sozialdemokratischen Partei anzugehören. Nach einem zeitweiligen Wechsel in die USPD kehrte er zurück zur SPD. Diesmal seit der Vereinigung von SPD und KPD zur SED ist eine Rückkehr ausgeschlossen. Paul mochte die Kommunisten nicht. Einige von ihnen seien in SA - und SS - Uniformen aufgetaucht und nach dem Krieg wieder in der KPD angekommen. Paul weiß, dass es gelogen ist, wenn sie behaupten, sie hätten dies im Auftrag der Partei getan.
Auf kommunaler Ebene werden viele der vormaligen Widerstandskämpfer in führenden Positionen eingesetzt. Leider mangelt es ihnen zu oft an der erforderlichen Qualifikation. Das gilt für Betriebsleiter ebenso wie für Polizisten oder Lehrer. Lehrer werden wegen der früheren NSDAP - Mitgliedschaft aus dem Schuldienst entfernt und durch Neulehrer ersetzt. Die Qualität des Unterrichtes leidet stark darunter.
Doch eines muss man anerkennen: ihre Überzeugungen, ihr Antifaschismus und ihre Friedensliebe waren echt. Aber leider reicht das nicht immer.
Tiefen Eindruck haben die Vorbereitungen der Maifeiern auf den Jungen hinterlassen. Da werden oben neben dem Speicherfenster die Flaggen gehisst: die rote Arbeiterfahne und die der DDR. Haus und Hof werden mit Birkenzweigen und Fähnchen geschmückt. Am Vorabend der Maifeier findet traditionell ein Fackelumzug statt, der am großen Lagerfeuer auf dem Sportplatz endet. Am 1. Mai selbst findet in fast jedem Dorf eine Maidemonstration statt. Später, in den 1970er Jahren werden die Demos auf der Basis der Betriebe durchgeführt. Alles erfolgt dann konzentrierter. Jura nimmt gern daran teil. Ihm stehen seine Pionierkleidung mit der roten Nelke und die weißen Kniestrümpfe. Ihn begeistern die Fanfarenzüge und Trommlergruppen aus den umliegenden Betrieben.
Seit Fritz weg ist, muss Mutter Marie von früh bis abends hart arbeiten um den Lebensunterhalt zu bestreiten. In den Ferien fährt Jura mittags mit dem Fahrrad hinüber zur Fabrik, um mit Mutter in der Kantine zu essen. Anschließend darf er sich in den Werkhallen des Reparaturwerkes umsehen.
Die Arbeit ist hart und der Lohn von Mutter reicht nur für ein bescheidenes Leben. So gibt es statt Limo oder Cola eben nur kalten Muckefuck zu trinken. Und oft muss sich Jura mit Griebenschmalz auf dem Brot zufrieden geben. Gemüse und Obst gibt es genügend aus dem eigenen Garten. Kartoffeln werden in ausreichender Menge eingekellert. Frische Eier legen die Hühner. In der Vorweihnachtszeit wird der Stollenteig selbst hergestellt und zeitig morgens zum Bäcker gebracht. Der Stollen reichte manche Jahre bis Ostern.
Die Versorgung mit Süßigkeiten und Schokolade übernimmt Mutters Schwester Anna, indem sie regelmäßig Westpakete schickt.
In Haus, Hof und Garten mutiert Jura zu einer Art Pascha. Paul lässt dem Jungen freien Lauf. Seit Vater Fritz weg ist, darf Jura auch Freunde empfangen. Unter den Jungen ist es üblich, Krieg zu spielen und alle haben geschnitzte Waffen. Jura hasst diese Kriegsspiele. Sicher das Resultat des pazifistischen Einflusses von Opa Paul. Opa hat beide Weltkriege erleben müssen und versucht die Kinder immer wieder von der Sinnlosigkeit der Kriege zu überzeugen.
Opa Paul hat immer Zeit für den Jungen. Er schnurrt ständig irgend welche Melodien vor sich hin. Spontan flucht er aber auch schon Mal unangekündigt.
Bei alledem: die Bilder der Gasse, des Schachtgrabens, der hohen Pappeln und der Schnauder, einem Bach, den Jura mit seinen Freunden umzuleiten versuchte, werden für immer in Juras Erinnerung haften bleiben. Da sind aber auch die alte und neue Kolonie, die Mühle, das Rittergut und die alte Dorfkirche, die Jura bleibend beeindrucken. Wenn im Schlosspark Jahrmarkt ist, beeindrucken die Schaukeln und das Riesenrad den Jungen. Es sind diese alten Bilder, die Juras Erinnerung noch heute prägen.
Das Dorf ist von seiner ihr eigenen Harmonie geprägt. Da ist eine gewachsene Infrastruktur. Es gibt ein Konsumgeschäft, eine HO (Handelsorganisation), einen Bäcker, ein Fisch- und Gemüsegeschäft, zwei Fleischerläden, einen weiteren Tante – Emma – Laden und diverse Handwerker wie Tischler, Stellmacher und Sattler. Nebenher betreibt dieser oder jene ein Fuhrgeschäft und die Rolle für das Glätten der Bettwäsche.
Die Bauern sind in einer LPG (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft) zusammen geschlossen.
Die meisten der kleinen Handwerker und Händler können später in den 1990er Jahren der Konkurrenz der Supermärkte und Dienstleistungsbetriebe in den nahen Städten nicht mehr widerstehen. Die über Jahrhunderte gewachsenen dörflichen Strukturen werden unwiderruflich zerstört.
Für die Einhaltung von Recht, Gesetzen und Ordnung sorgen zwei Polizisten, sogenannte Abschnittsbevollmächtigte (ABV).
Im Gemeindeamt herrscht der Bürgermeister. Da befindet sich auch die Dorfbibliothek.
Jura radelt zu gern in die nahe gelegene Stadt Lucka, um dort für einen Groschen Eis zu essen. Lucka gehört bereits zu Thüringen. An heißen Sommertagen geht es mit dem Fahrrad zum Tagebausee. Jura hat trotz des fehlenden Vaters eine glückliche Kindheit. Das lehrt ihn, dass Glück und Zufriedenheit nicht unbedingt finanziellen Überfluss voraussetzt. Eigentlich hat er alles, was man von einer Kindheit erwarten kann. Und dennoch bleibt er ein Träumer.