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Der Kampf um das Wahlrecht
ОглавлениеIn diesem Sinne war es konsequent, dass Engels Victor Adlers in der österreichischen Partei umstrittenen Kurs in der Auseinandersetzung über das allgemeine Wahlrecht voll unterstützte. Kurz vor seinem Rücktritt hatte der konservative Ministerpräsident Graf Taaffe einen Entwurf für eine Wahlrechtsreform eingebracht, dem zufolge zwei Drittel der Reichsratsabgeordneten in einer dritte Kurie gewählt werden sollte, für die eine deutliche Ausweitung des Stimmrechts für männliche Bürger vorgesehen war.28 Ziel Taaffes war die Stärkung des Reichszusammenhalts, aber auch seine Befürchtung, die österreichischen Arbeiter könnten nach dem Vorbild ihrer belgischen Genossen, die 1893 mit Massenstreikaktionen das allgemeine Wahlrecht erkämpft hatten, zu ebensolchen Aktionen schreiten („belgisch reden“). Der Entwurf wurde vom Reichsrat mit großer Mehrheit abgelehnt. Victor Adler trat allen Bestrebungen, die Taaffe’sche Wahlreform durch außerparlamentarische Aktionen zu unterstützen, entschieden entgegen, was ihm in der Partei und auch von linksliberaler Seite manche Kritik eintrug. Er stoppte sogar eine während seiner Abwesenheit zur Teilnahme am Zürcher Kongress der Internationale von den anderen Vorstandsmitgliedern in Gang gesetzte Kampagne für die Taaffe’sche Vorlage.29 Ausschlaggebend dafür war, wie Adler in einem Bericht an den Parteitag wenig später sagte, dass „wir unmöglich unser Programm einer Augenblickssituation zuliebe aufs Spiel setzen konnten; … einer Regierung zuliebe, welche den Ausnahmezustand in Wien und Prag auf dem Gewissen hat, nicht die Kastanien aus dem Feuer holen (konnten), … womit wir das Proletariat in Missverständnisse geleitet (hätten).“30
Engels versicherte Adler in der Sache seiner vollen Zustimmung, dass es „mit den Torheiten“ (gemeint Massenstreikaktionen) ein Ende habe31. Kautsky schrieb dazu an Engels, dass ohne Adlers Einschreiten „die heißblütigen Österreicher wohl eher eine zweite Auflage des Ausnahmezustands über Wien erreicht hätten.“32 Engels begründete seine zur Zurückhaltung mahnende Position auch damit, dass „der politischer Strike entweder sofort siegen, oder in einer kolossalen Blamage endigen, oder schließlich direkt auf die Barrikaden führen (muss)“, und jedenfalls das Risiko viel zu hoch sei.33
Mit seiner Erwartung einer baldigen Einführung des neuen, breiteren Wahlrechts war Engels allerdings zu optimistisch. Die Wahlrechtsreform von 1897 blieb klar hinter dem Taaffe’schen Entwurf zurück, und die Wahlresultate waren vor allem in Wien, wo die Sozialdemokratie in der allgemeinen Kurie kein einziges Mandat erreichte, enttäuschend. Es dauerte bis zum Jahr 1907, dass der Reichsrat erstmals nach allgemeinem, gleichem Wahlrecht für Männer gewählt wurde. Die Partei errang 87 Mandate (entspricht einem Anteil von 17 %), war jedoch von Anfang an durch ihre ethnische Heterogenität als bloßer Dachverband im Parlament empfindlich geschwächt. 1911 ging die Mandatszahl sogar auf 84 zurück – von einem „Siegeslauf“ wie in Deutschland zu Engels’ Lebzeiten konnte keine Rede sein.