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Der Nationalitätenkonflikt 34
ОглавлениеTrotz mancher warnender Indizien hielt Engels – und zunächst auch mit ihm Adler – in dieser für die Habsburgermonarchie wie für die österreichische Sozialdemokratie gleichermaßen wichtigen Frage an der von Otto Bauer später so genannten Haltung des „naiven Kosmopolitismus“35 fest: Die nationale Zugehörigkeit wird als „bürgerlicher Vorurteil“ gesehen, das mit dem siegreichen Klassenkampf von selbst verschwindet. In einer Grußadresse an die tschechischen Genossen zu ihrer Maifeier 1893 bekräftigte Engels seine Ansicht, „dass der ganze Nationalitätenhader nur möglich ist unter der Herrschaft der großen grundbesitzenden Feudalherren und der Kapitalisten … und dass, sobald die Arbeiterklasse zur politischen Herrschaft kommt, aller Vorwand zu nationalem Zwist beseitigt ist.“36
Wenn im Hainfelder Parteiprogramm auf das Nationalitätenproblem mit der Aussage, dass die Sozialdemokratische Partei als internationale Partei „die Vorrechte der Nation“ – immerhin an erster Stelle genannt –, „der Geburt“37 etc. verurteile, nur pauschal Bezug genommen hatte, so musste man bald danach erkennen, dass der „naive Kosmopolitismus“ keine tragfähige Grundlage für ein Lösung bot. Kautsky konnte bereits 1896, ein Jahr nach Engels’ Tod, nicht umhin einzugestehen, „dass die alte Marxsche Haltung unhaltbar geworden ist – wie auch seine Haltung gegenüber den Tschechen. Es wäre ganz unmarxistisch, seine Augen den Tatsachen zu verschließen und am alten Marxschen Standpunkt zu beharren.“38
Das Nationalitätenproblem wurde am stärksten virulent in den hochindustrialisierten gemischtsprachigen Gebieten Böhmens und Mährens, aber auch in den südlichen Kronländern mit slowenischer und italienischer Bevölkerung. Konflikte entstanden insbesondere im Bereich der Gewerkschaften, wo lokale tschechische Gewerkschaften gegen den Zentralismus der von deutschsprachigen Arbeitervertretern kontrollierten Branchenverbände und der zentralen Gewerkschaftskommission aufbegehrten. Für die tschechischen Sozialdemokraten war „das Streben nach Aufrechterhaltung einer einheitlichen Bewegung nicht immer nur Ausdruck des Internationalismus, sondern kann auch den Tendenzen eines bestimmten Großmachtnationalismus dienen.“39
Karl Kautsky (1854–1938), um 1915/1920.
Eine Grundsatzdiskussion des Nationalitätenproblems fand 1899 auf dem Parteitag in Brünn (Brno) statt. Das sog. „Brünner Nationalitätenprogramm“ sah vor, die historischen Kronländer aufzulösen und an ihrer Stelle demokratisch organisierte „national abgegrenzte Selbstverwaltungskörper“ zu bilden („Territorialprinzip“, entspricht den von Engels angedeuteten Vorstellungen), was allerdings von Anfang an unrealistisch war, weil eine territoriale Entflechtung von Deutschen und Tschechen oft kaum möglich war. Karl Renner hatte in der kurz zuvor erschienenen Broschüre „Nation und Staat“40 das „Personalitätsprinzip“ als alternativen Lösungsansatz vorgeschlagen. Auf staatsrechtlichem Gebiet war das Brünner Programm Ausdruck „einer weitgehenden Integration und Identifikation der Sozialdemokratie mit dem Staat.“41
Die Lösung der Nationalitätenfrage inspirierte die jüngere Generation von sozialdemokratischen Theoretikern zu den ersten Höchstleistungen des seit 1907 so bezeichneten Austromarxismus: Renners Der Kampf der österreichischen Nationen um den Staat (1902),42 und Otto Bauers Die Nationalitätenfrage und die Sozialdemokratie (1907).43