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DER AUSTROMARXISMUS – THEORIE UND POLITIK 75
Оглавление„Austromarxismus“ war ursprünglich eine Sammelbezeichnung von österreichischen Autoren des wissenschaftlichen Sozialismus. Mit den in dem kurzen Zeitabschnitt von der Jahrhundertwende bis zum Ersten Weltkrieg erschienenen Publikationen Rudolf Hilferdings, Karl Renners, Otto Bauers und Max Adlers erlangte die bis dahin kaum existente Theorieproduktion der alt-österreichischen Sozialdemokratie in kurzer Zeit eine hohe internationale Reputation.
Otto Bauer (1881–1938), 1919.
Auf der Grundlage der orthodox-marxistischen, nicht-revisionistischen politischen Ökonomie waren die Austromarxisten bestrebt, den wissenschaftlichen Sozialismus im Kontext zeitgenössischer sozialwissenschaftlicher (z. B. Österreichische Schule der Nationalökonomie) und philosophischer Strömungen (Neukantianismus) zu positionieren, unter Berücksichtigung von neuen Entwicklungstendenzen in Wirtschaft und Gesellschaft der Zeit nach Marx.
In seinem Beitrag „Kausalität und Teleologie im Streite um die Wissenschaft“ zum 1. Band der Marx-Studien versuchte der Philosoph Max Adler (1873–1937) eine Synthese zwischen der Erkenntnistheorie Kants und der Marx’-schen Gesellschaftstheorie.76 Allerdings fällt dem Versuch einer Kantischen Fundierung des Marxismus die dialektisch-materialistische Erkenntnistheorie zu Opfer. Die geringe theoretische Kohärenz der Theorieansätze des wissenschaftlichen Austromarxismus zeigt sich etwa darin, dass Renner eine naiv-positivistische Erkenntnistheorie vertrat, in seinen politökonomischen Auffassungen stärker Lassalle als Marx und Engels verpflichtet erscheint. In der Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis bestanden erhebliche Meinungsdifferenzen zwischen den aktiven Politikern Renner und Bauer und Max Adler, den Renner als „marxistischen Scholastiker“77 bezeichnete.
Karl Renner (1870–1950), um 1905.
Anknüpfend an Victor Adlers Formel über das Verhältnis von Reform und Revolution ist die Verbindung von revolutionären marxistischen Zielsetzungen und Klassenkampf mit praktischer Reformarbeit in der Gegenwart das grundlegende Merkmal des „politischen Austromarxismus“ der Zwischenkriegszeit.78 Der Austromarxismus ist antirevisionistisch und vermeidet Kritik an einzelnen Theoremen von Marx und Engels.79 Deutlich ist die Abgrenzung zum bolschewistischen Kommunismus80 durch das Festhalten am demokratischen Parlamentarismus bei konsequenter Ablehnung von Gewalt als Mittel zur Erlangung der politischen Macht, auch auf Seiten des linken Parteiflügels. Als Vermächtnis Victor Adlers wirkte in der Partei auch in der Zeit der Republik ein starkes Streben nach Einheit zwischen rechten und linken Strömungen nach, um eine Spaltung der Arbeiterbewegung wie in Deutschland nach dem Weltkrieg zu vermeiden.
Als sich am Ende des Weltkriegs das heutige Österreich als demokratischen Republik konstituierte,81 sah sich die Sozialdemokratie, die mit Renner den Staatskanzler und zahlreiche Minister stellte, plötzlich in den Besitz der Staatsmacht gelangt, allerdings in einer Koalitionsregierung ohne eigene parlamentarische Mehrheit. In dieser Phase extremer politischer Instabilität verfolgte die Partei eine anti-revolutionäre Politik. Im Unterschied zu Deutschland gelang es, gewaltsame Aktionen der sog. Roten Garden zu verhindern, vor allem aber, die Kontrolle über die Arbeiterräte zu erlangen und so einer kommunistischen Rebellion den Boden zu entziehen. Ebenso bedeutend war die soziale Reformpolitik der unmittelbaren Nachkriegsjahre. Unterstützt vom Druck aus den Betrieben und von der Straße konnte die Sozialdemokratie eine Vielzahl von Sozialgesetzen durch das Parlament bringen, welche die soziale und wirtschaftliche Lage der Arbeiter kurzfristig fühlbar verbesserten und dadurch wahrscheinlich entscheidend zur Beruhigung der politischen Lage beitrugen.82 Langfristig bilden die Gesetze bis heute die Grundlage des modernen Sozialstaats. Allen Aufforderungen von Seiten der ungarischen Räteregierung, ihrem Beispiel zu folgen, erteilte die österreichische Sozialdemokratie eine klare Absage.
Durch die Parlamentswahlen von 1920 wurden die Christlichsozialen zur stärksten Partei. Im Gesamtstaat auf die Oppositionsrolle beschränkt, behielt die Sozialdemokratische Partei die unangefochtene politische Kontrolle über die Bundeshauptstadt Wien, wo weitreichende soziale Reformmaßnahmen verwirklicht wurden („Rotes Wien“). Die Neuausrichtung der politischen Strategie wurde durch die Oppositionsrolle entscheidend geprägt.
In der Opposition bestimmte Otto Bauer den politischen Kurs der Partei. In seinem Buch Die österreichische Revolution (1923) hatte er die Beteiligung an einer Regierungskoalition mit einer der bürgerlichen Parteien von der Bedingung abhängig gemacht, „ob die Koalitionsregierung ein zweckdienliches, ein wirksames Mittel im Klassenkampf sein kann.“83 Für die Erreichung einer absoluten Mandatsmehrheit bei Parlamentswahlen hätte die Partei allerdings die Stimmen beträchtlicher Teile der bäuer-lichen und „kleinbürgerlichen“ Bevölkerungsgruppen gewinnen müssen. Das bedeutete reformistische Politikangebote, großteils ohne „revolutionäres Potenzial“, in Spezialprogrammen (Sozialdemokratisches Agrarprogramm 1925, Angestelltenpolitik) und im neuen Parteiprogramm (Linzer Programm) 1926.
Die Zielsetzung, für nicht-proletarische Arbeitnehmerschichten wählbar zu werden, wurde durch die revolutionär-marxistische Terminologie des Programms konterkariert. Es bekräftigt das Ziel der Sozialdemokratie, „die Mehrheit des Volkes unter der Führung der Arbeiterklasse zu sammeln … und der Arbeiterklasse die Herrschaft in der demokratischen Republik zu erobern.“ Heftigen Widerspruch in der Öffentlichkeit und bei den anderen Parteien, aber auch Bedenken in den eigenen Reihen rief die Aussage hervor, „die Arbeiterklasse wäre gezwungen, den Widerstand der Bourgeoisie mit den Mitteln der Diktatur zu brechen“84, sollte diese nach einem Wahlsieg der Sozialdemokratie versuchen, den planmäßigen Umbau der Gesellschaft zu sabotieren. Besonders an dieser Stelle zeigt sich eine krasse Fehleinschätzung der realen Machtverhältnisse, die sich bald danach noch massiv zu Ungunsten der Sozialdemokratie verschlechterten. Dies zeigte sich, als im Februar 1934 der Versuch der bewaffneten Organisation der Partei, des Republikanischen Schutzbundes, die Republik gegen den Zugriff der autoritär-faschistischen Kräfte zu verteidigen, mit der vollständigen Niederlage endete.