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Erbeutetes Wissen

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419 A. D.

Mehr als zehn Jahre hatte es gedauert, bis es den Vandalen auf ihrer ständigen Flucht vor den Goten endlich gelungen war, im Süden der iberischen Halbinsel, in der Provinz Hispania Baetica, eine Bleibe zu finden. Schwierigkeiten bei der Landnahme gab es kaum, denn die Fischer und Bauern der Gegend hatten sich kooperativ gezeigt. Aus ihnen waren auch keine Reichtümer herauszuholen, lediglich die größeren Städte, die um ihren Wohlstand bangten, versuchten oftmals erfolgreich Widerstand zu leisten.

Doch dass die Situation nicht für die Dauer ausgelegt war, sah des Königs Bruder, Geiserich, völlig klar. Richteten sie sich in diesem Provisorium irgendwie ein, würden sie schon bald zur leichten Beute der überlegenen Goten werden. Vor seinem inneren Auge schwebte die Vision eines Inselreichs, das genug Raum für sein Volk zu bieten hätte und durch die neue Flotte, sein ureigenstes Werk, verteidigt werden könnte.

Eifrig hatte er an der Reform der Vandalenarmee gebastelt. Längst waren ihm die traditionellen, auf persönliche Treueverpflichtung basierenden Gefolgschaften ein Dorn im Auge gewesen. Die Krieger hatten wohl Seite an Seite gekämpft, doch nach dem Krieg ging man wieder auseinander und verfolgte seine Eigeninteressen weiter wie zuvor. Dieser Usus musste beseitigt werden. Im stehenden Heer Geiserichs nach römischem Vorbild würden die Truppen einzig und allein dem König gehorchen, der ihren Sold bezahlte und sie an der anfallenden Beute beteiligte.

Zielstrebig hatte Geiserich seine schleichende Reform dort begonnen, wo ihm die alten Clane am wenigsten hatten dreinreden können, bei den im Wachsen begriffenen Seestreitkräften. Zum Dienst in der Flotte wurden nur Männer loyaler Häuptlinge zugelassen. Der in größeren Kategorien denkende Geiserich plante nicht nur die Armee, nein, die gesamte Führungselite der Vandalen langsam, aber sicher auszuwechseln. Er hatte von dem, was ihm aus seiner Beschäftigung mit den Griechen und Römern geblieben war, vor allem den Gedanken der Paideua, der Erziehung hochgehalten. Die kommende Elite bedurfte der klassischen Bildung, um mit den sie umgebenden Völkern mithalten zu können. Mit Reiten und Fechten allein war kein Staat zu machen. Da traf es sich gut, dass ihm sein Bruder Gundarich kürzlich diesen griechischen Sklaven, den er bei der Plünderung von Nemausus hatte mitgehen heißen, überstellt hatte.

Lange Jahre war Eudaimon Hauslehrer einer reichen Römerfamilie in Nemausus gewesen. Als ihn dann Gundarich, der König der Vandalen quasi als Privateigentum annektierte, war ihm, als fiele die Sonne vom Himmel und trockne alles Leben aus auf seiner Erde. Hatte er es schon als enorme Zumutung empfunden, die Sprösslinge dieser provinziellen Römer in Geometrie, Arithmetik, Geschichte und nicht zuletzt im Griechischen zu unterweisen, nun war er auch noch in die Hände blonder Bestien aus dem Lande der Hyperboreer gefallen und fürchtete den Rest seines Lebens als Schweinehirt zubringen zu müssen. War es nicht empörend genug, als Angehöriger eines Hellenenstammes, dem Inbegriff des freien Volkes schlechthin, in die Sklaverei verschachert worden zu sein, nur weil sein Vater den Unterhalt für sechs Kinder nicht mehr bestreiten konnte?

Insgeheim hatte Eudaimon, von rascher Auffassungsgabe und großer Gelehrsamkeit, von einem Posten in der Hauptstadt der Welt geträumt, und hätte ihn der richtige Aufkäufer erworben, es hätte ihm dort sicher eine große Karriere offengestanden, doch die Verhältnisse, sie waren nicht so. Sein Erstbesitzer hatte ihn seinem Sohn als Lehrer für dessen Kinder mitgegeben, als dieser sich aufmachte, in der transalpinen gallischen Provinz seine Fortune als Verwaltungsbeamter zu machen. Die politische Laufbahn seines dominus, der sich mit zäher Beharrlichkeit hochgearbeitet hatte indem er investierte, lobbyierte, Ehrenämter in Vereinen übernommen und dergleichen karrierefördernde Maßnahmen mehr ergriffen hatte, bis er endlich als Vollmitglied der kommunalen Kurie beitreten konnte, endete jäh, als drei Jahre später die Vandalen einfielen und ihn ohne großes Federlesen erschlugen.

Die beiden keltischen Sklaven im Hausstand des dominus wurden umgehend auf freien Fuß gesetzt. Eudaimon aber, der schon Morgenluft gewittert hatte, wurde zusammen mit der Matrone sowie den beiden Töchtern, die zuvor übel heimgesucht worden waren, quasi als mobiles Inventar auf die Odyssee der Vandalen mitgenommen.

Schwitzend und zitternd wartete Eudaimon, ohne genauere Vorstellungen der Adresse, an die er nun weitergereicht werden würde, auf seinen Abholer. Die Manieren dieses in seinen Augen selbsternannten „Königs der Vandalen“ – Gundarich war für ihn ein Häuptling von Wilden, mehr nicht – hatten ihn bereits das Fürchten gelehrt, und nun wurde er auch noch seinem noch wilderen Bruder übergeben. Dort sollte er wohl den mehr oder weniger ehrlich gezeugten Kindern anderer, weniger bedeutender Wilder griechische Manieren, Rhetorik und Geschichte beibringen. Es galt, sie bei gleichzeitiger Anreicherung mit antiker Bildung durch die Kinderstube, die sie nie genießen konnten, hindurchzuschießen, wie sich die ibero-romanischen Städter ausdrückten: „margeritas a las puercas“. Er sah sich an der Talsohle seines sozialen Abstiegs angekommen. Tiefer konnte er kaum noch fallen: Nicht nur unfrei, sondern in den Händen von Wilden, die außerstande sein würden, seine Lehren aufzunehmen und anschließend natürlich ihn, als die niedrigste Kreatur in dieser ungerechten Hierarchie, für ihr Scheitern verantwortlich machen würden.

Er rang die Hände und bemühte sich, gefasst zu wirken, wenn nun das Unheil unabwendbar über ihn hereinbrechen sollte. Nichts war ihm geblieben außer den Kleidern an seinem mageren Leib und seiner kleinen Kiste mit den armseligen Habseligkeiten eines Lehrerlebens: Bücher und Schriftrollen, eine Armillarsphäre, der unverzichtbare Gnomon sowie zwei Ersatztuniken und ein wollenes Himation für die kommende Kälteperiode fanden sich darin. Alle anderen Kleidungsstücke, die er besessen hatte, waren in die Truhen Gundarichs gewandert – bis auf seine durchaus ansehnliche Kollektion schön gearbeiteter Schuhe, an welchen sich einige Gefolgsleute Gundarichs erfreuten – diesem selbst waren sie, Enttäuschung der Enttäuschungen, zu klein gewesen.

Dieser Art nicht nur Nicht-Eigentümer der eigenen Person, sondern auch noch in dem bisschen Privatbesitz, das er angesammelt hatte, stark beschnitten, harrte Eudaimon barfuß der Dinge, die da kommen sollten. Seekönig Geiserich also hatte ihn erstanden. Ihm ging der Ruf eines Erfolgsmenschen voraus, auch wenn die äußeren Anzeichen allesamt nicht einen solchen ahnen ließen.

Er sei verschlagen, berechnend, listig bis hinterlistig, besitzgierig und grausam, hieß es. Nicht unbedingt Pluspunkte in einem Empfehlungsschreiben an einen Rhetor, wenngleich Eudaimon sich in der wenig beneidenswerten Lage befand, sich dem Bewerber auf Gedeih und Verderb ausliefern zu müssen.

Als auf dem Gang vor dem kleinen Zimmer unregelmäßige, schleppende Schritte zu hören waren, überlief den sonst so vernünftigen Mann eine Gänsehaut: Der Teufel in allerhöchster Person selbst schlich sich hier an. Da kam er nun also, dieser „Erste Mann der Königlichen Marine der Vandalen“, auch so ein Euphemismus, dachte Eudaimon, schließlich gingen sie, was man so hörte, vorwiegend mit gekaperten römischen Galeeren und gestohlenen Fischerbooten auf große Fahrt. Näher und näher kamen die schleppenden Tritte, und schließlich, als der Unhold vor der Kammer angekommen war, klopfte es sachte an der Tür. Nicht mit der Faust oder einem Eisenring, mit der Fußspitze! Eudaimon war perplex – der Teufel hatte ja Manieren! Anstelle ein „Herein“ oder Ähnliches zu rufen, zog er es seinerseits vor, auf Zehenspitzen über den kalten Boden zur Tür zu staksen und persönlich zu öffnen.

Vor ihm stand die tatsächlich nicht besonders anziehende Gestalt des Seekönigs. Peinlich war ihm sofort, dass er auf die Person des Höhergestellten herabsehen musste, und so zog Eudaimon instinktiv den Kopf ein wenig ein. Sein Gegenüber befand sich weit entfernt vom Gardemaß. Nichts an dem kleinen Mann gemahnte an Adel oder hohen Rang, so wie er in den schweren Caligae und der einfachen Freizeitkleidung des Soldaten im Türrahmen stand. Kein Schmuck, kein Goldgepränge an den Ärmeln, keine Orden zuhauf. Es war nichts anderes als nur diese tiefliegenden grünen Augen, die den Blick des Gegenübers sofort auf das unverhältnismäßig große, ausdrucksvolle Gesicht zwischen den schwer zu bändigenden schwarzen Haaren lenkten und ihn bannten. Ein gewinnendes Lächeln entblößte ein blitzendweißes Raubtiergebiss.

„Geiserich mein Name, darf ich eintreten?“

Keinerlei Gewese um „Seekönig“ oder „Königliche Marine“, der Mann war er selbst – mehr nicht. Doch auf den ersten Blick hatte Eudaimon erkannt, dass diese Definition durchaus genügte. Dieser wiewohl schiefgewachsene Mann hätte das Zeug zum König gehabt, zu einem wirklichen König. Doch waren Eudaimon die Sitten der Wilden so weit bekannt, dass ein Verwachsener sich von vorneherein keinerlei Chancen auf Herrscherwürden auszurechnen brauchte. Dass er in die exotische Rolle eines Flottenchefs schlüpfte, sobald sein Volk sich am Meer niedergelassen hatte, sprach für eine realistische Einschätzung der Gegebenheiten.

„Der Segen des Allerhöchsten begleite Euch!“ Er wies mit der Rechten in die Kammer. Das Lächeln auf dem Gesicht des Seekönigs wurde eine Spur breiter, und er hinkte, das linke, kürzere Bein nachziehend, in den karg ausgestatteten Raum. Er fiel gleich mit der Tür ins Haus. „Man hat mir hinterbracht, du seiest der größte Logiker seit Aristoteles. Ich kann das natürlich nicht selbst überprüfen“, räumte er ein, „aber in welcher Tradition stehst du?“

„Ich bin quasi Enkelschüler des berühmten Rhetors Libanios von Antiochia“, begann Eudaimon zaghaft, „und mein Ziel ist es, obwohl ich selbst Unfreier bin“, er vermied das unschöne Wort Sklave, „liberi, freie Kinder freier Männer, zu ebensolchen heranzubilden. Wofür ich garantieren kann, wenn sie durch meine ‚Fuchtel der Toleranz‘ – so nannte ein früherer Eleve meine Schule – hindurch sind, werden sie frei sein von Fanatismus, Sektiererei oder dogmatischen Einseitigkeiten.“ Was er vorerst verschwieg, war sein Pythagoreismus, inklusive dem Glauben an Reinkarnation und Gewaltfreiheit und seine vegetarische Lebensweise.

„Du bist genau der Mann, den ich suche“, befand Geiserich. „Du wirst es mit einer kleinen Gruppe von Schülern zu tun bekommen, die du zu Menschen bilden sollst. Wandelnde Lexica erwarte ich allerdings keine, Schüler des Liberius.“

„Libanios“, verbesserte ihn Eudaimon und biss sich ob seines Übereifers auf die Zunge.

„Sehr gut, Libanio.“ Geiserich strahlte. „Du brauchst weder vor mir noch vor deinen Schülern zu kuschen, du bist dort nicht der Sklave, sondern der Lehrer für ihre fachliche Ausbildung und ihr Pädagoge für die Heranbildung edler Charaktere. Dazu gehört, dass sie sich ihrer Vorzüge bewusst werden, sie zu pflegen und leben wissen, aber auch an ihren Schwächen arbeiten lernen, die sie nicht als gottgegebene Eigenschaften, sondern als korrigierbare Fehler auffassen sollen. Und wie sie sich selbst behandeln, so sollen sie auch mit ihren Mitmenschen umgehen. Sie werden in eine kriegerische, wilde Zeit hineinwachsen. Deshalb lehre sie, zu ehren, wem Ehre zukommt und den Zagen zu verachten!“

Die Jungen, die durch Eudaimons Schule gehen sollten, würde Geiserich irgendwann in die Welt hinaussenden. Er würde sie als Geiseln oder Botschafter an die Höfe wichtiger Potentaten schicken, wo sie sich zu benehmen wissen müssten. An die hinterwäldlerischen Sueben oder die expansionslüsternen Goten, wo das Leben seiner Emissäre nicht ganz so sicher sein würde, dachte er dabei zu allerletzt. Er hatte Größeres im Sinn. Byzanz, Ravenna oder gar der umherziehende Hof der Hunnenkagane Oktar und Rugila schwebten ihm vor, was aber noch in den Sternen stand.

„Es wird eine Zeit kommen, wo nicht mehr allein durch Schwert und Axt geherrscht wird“, fuhr er fort, „wo mit Hilfe des Wortes Verhandlungen mit dem Feind betrieben werden. Hierzu ist es wichtig, die Jungen nicht nur in den freien Wissenschaften auszubilden. Ich erwarte, dass vor allem deine Unterweisungen in der Philosophie uns von Nutzen sein werden, wenn du verstehst, was ich meine.“

Eudaimon verzog das Gesicht, als hätte er sich gerade einen Knochensplitter zwischen zwei ohnehin schon wackelige, schmerzende Zahnruinen eingebissen.

„Ach, meinst du etwa die alte Anekdote, dass Thales eine bestimmte Mondfinsternis vorausberechnete, eine gute Olivenernte voraussah und alle Ölpressen aufkaufte, wodurch er dann ein reicher Mann wurde? Du denkst an eine Verquickung von Philosophie und Ökonomie, wenn ich dich recht verstehe?“ Er tat einen Schritt in Richtung auf seine Liegestatt. „Entschuldige, ich habe ganz vergessen, dir einen Platz anzubieten, aber es ist nur dieser wackelige Hocker da, wenn du mit ihm vorliebnehmen willst?!“ Er wies auf ein in Hinsicht auf Stabilität höchst zweifelhaftes, roh gezimmertes Sitzmöbel.

Geiserich schlug das Angebot mit einer kurzen Geste aus. Als sein Blick auf die bloßen Füße seines unfreien Gastgebers fiel, bedeutete er diesem, sich auf der Liege niederzulassen. „Nicht in der Hauptsache“, griff er den Gesprächsfaden wieder auf. „Ich brauche als Produkte deiner Schule keine Bankiers, Reeder oder Latifundienverwalter. Wir nisten uns in einer fremden Kultur ein, die uns nähren soll, und es wird uns unmöglich sein, aus ihr zu leben, wenn wir sie nicht kennen und schätzen werden. Es wäre ein Verbrechen, die Jugend so aufwachsen zu lassen, als befände sie sich noch in den Urwäldern Skythiens.“

Eudaimon nickte, wobei er hörbar aufatmete, was Geiserich mit einem Lächeln quittierte. „Natürlich wird sich immer wieder im Verlauf der Geschichte herausstellen, dass es nichts Praktischeres gibt als eine gute Theorie“, begann der Grieche, „aber ich möchte dich warnen, es ist leider durchaus fraglich, ob durch die Unterweisungen in der Philosophie der Lebensverlauf eines Menschen ganz anders gerät, als hätte er sie nicht erhalten. Äußere Bildung muss nicht zu innerer führen! Wo wird das noch augenfälliger, was ein Lehrer in letzter Konsequenz seinem Schüler sein kann als am Beispiel Seneca und Nero? Als Hindernis auf dem Weg zur Krone der Verworfenheit ließ Nero seinen Lehrer ermorden!“

Er bemerkte den schrägen Blick Geiserichs und beeilte sich, die Scharte auszuwetzen.

„Wobei ich mir sicher bin, dass es da am System lag. In der Stoa, wo der Materialismus heilig ist, wo einzig in der Pflichterfüllung ein Lebenssinn gesehen wird, gedeihen sauertöpfische Kreaturen ohne Blut und Pneuma in den Adern. Derartige Vergewaltigungen der Seele bringen meist ihre entsprechenden Nachtseiten zu Tage.“

Geiserich wurde hellhörig: „Du meinst, gute Absichten verkehren sich oft, ohne dass man etwas dazutut, in negative Resultate?“

„Und umgekehrt: Alexander wiederum hatte an seinem Vater Dinge gesehen, die er so nicht leben hätte wollen, da er sie, nach seinem eigenen Ermessen als unwürdig, unköniglich und gemein einstufte.“

„Verstehe“, unterbrach ihn Geiserich, „weil er in der Person des großen Philosophen Aristoteles ein leuchtendes Vorbild erhalten hatte! Alexander, Herr über die Welt, wäre nicht der gewesen, der er geworden war, hätte er nicht in Aristoteles einen derart fabelhaften Lehrherrn gehabt, nicht wahr! Auf einen Menschen dieser Art baue ich, und du scheinst mir dazu geeignet zu sein.“

Eudaimons Zutrauen zu dem schwarzhaarigen, finsteren Seekönig wuchs mit seiner Selbstsicherheit, so dass er sich frei genug fühlte, ihm seine eigenen Überzeugungen zu unterbreiten. „Verzeiht, Herr, wenn ich Euch widerspreche, aber es will uns nach eingehender Untersuchung der literarischen Quellen so scheinen, als seien sich die beiden niemals begegnet! Zweifelsohne sind die militärischen und politischen Leistungen Alexanders beispiellos. Charakterlich halte ich ihn, um es mit Verlaub zu sagen, eher für locker und burschikos: Wenn man bedenkt, was er sich – verzeiht das Wort – im Suff und in der Hybris des Gedankens, Gott-Mensch zu sein, geleistet hat! Die Gewalttaten, derer er sich schuldig machte! Dem Aberglauben, dem er sich schließlich überantwortete! Nirgends sehe ich hier die Handschrift des Stageiriten! Auch ihr extrem dünnerdiger Briefwechsel spricht Bände.“ Eudaimon war in seinem Element, er leckte sich die Lippen. „Oder, lass uns ein Jahrhundert weiter zurückgehen, bleiben wir bei meinem Volk: Nicht einmal die hochgerühmte Zeit der Klassik, jene fünfzig Jahre voller Frieden, Kunst und Kultur vermochten unserer Jugend dauerhaft moralischen Halt zu geben. Nein, es folgte das drei mal neun Jahre währende Massaker der hellenischen Stämme untereinander, die Raserei und der betäubende Rausch des Peloponnesischen Krieges, wo ebendiese Blüte der Jungend wehrlose Gefangene hinschlachtete, Kinder verhungern ließ und Frauen, nachdem sich eine Horde betrunkener Soldaten an ihnen vergangen hatten, zum Gaudium ertränkte. Sie waren zu edler Einfalt und stiller Größe erzogen, doch sie verhielten sich barbarischer als so manche Barbarenvölker ...“

Eudaimon wünschte, letzteres nicht gesagt zu haben. Der Seekönig reagierte mit seinem charakteristischen, in tiefen Tönen meckernden Lachen. „Du redest dich noch um Kopf und Kragen, wenn du so weitermachst!“

Eudaimon blickte zu seinem neuen Besitzer auf. „Ich muss darauf hinweisen, dass ich als Lehrer nur mein Wissen weitergeben und vielleicht noch selbst als Vorbild dienen kann – mehr nicht! Es liegt auch an Wesen und Talent der mir anvertrauten Schüler, sich zu den Menschen zu entwickeln, die dir momentan vermutlich vorschweben, jenen Menschen, die du brauchst. Ich werde nur den Weg weisen, gehen kann ich ihn nicht für sie!“

Geiserich schwieg. Aus glimmenden grünen Augen betrachtete er den zukünftigen Lehrer seiner legitimen Söhne, Hunerich und Gento, sowie Arwids und der anderen. Was er soeben vernommen hatte, war die beeindruckende Rede eines Mannes, der zwar seine Freiheit verloren hatte, aber seine Angst nicht zeigte, der im Geiste frei war. Irgendwann, natürlich nicht jetzt schon, er liebte keine Vorschusslorbeeren, würde er ihn freilassen. „Du hast Mut, Grieche“, verkündete er mit lauter Stimme, „den du auch brauchen wirst, denn die Kinder sind Trotzköpfe, störrisch und ungehobelt, aber auf ihre Art noch sehr verspielt. Ich zähle auf dich, Menschen aus ihnen zu machen!“

Er winkte Eudaimon, ihm zu folgen. Als der sich seiner Kiste zuwandte, bedeutete er ihm, sie stehenzulassen. „Ich werde sie holen lassen“, meinte er beiläufig.

„Es ist aber wichtig, dass nichts“, der Pädagoge zögerte unmerklich, als er nach dem rechten Wort suchte, „wegkommt. Ohne den Inhalt der Kiste kann ich nicht in vollem Umfang unterrichten.“

„Warte hier“, befahl Geiserich und humpelte durch den langen Gang. Er hielt den erstbesten Sklaven, der ihm über den Weg lief, an und schärfte ihm ein, bei Bedrohung seines Lebens, die betreffende Kiste zu bewachen. Eudaimon, der sich respektvoll einen halben Schritt hinter dem hinkenden Seekönig hielt, beschlich leichtes Grauen. Wie würde sich ein Mann, der andere wegen der Unversehrtheit einer Kiste mit dem Tod bedrohte, verhalten, wenn sein kostbarstes Gut, seine Söhne, irgendwelchen Schaden nehmen würde? Nicht auszudenken, wenn es dem Lehrer misslänge, sie zu Menschen, was auch immer Geiserich darunter verstehen mochte, zu bilden?

Der Himmel hatte sich mit Wolken bezogen, es war unangenehm kühl, als sie das Haus verließen. Eudaimons sehnsüchtiger Blick fiel auf das Paar gelber Stiefel an den Füßen eines von Gundarichs Burschen, die bis vor kurzem noch seine eigenen gewärmt hatten. Geiserich, der dem Blick verstohlen gefolgt war, ging ein Licht auf und er winkte den Träger der offensichtlich gestohlenen Schuhe zu sich her.

„Was gibt’s Wichtiges?“, brummte Reto, „ich hab’s eilig!“

„Deine Schuhriemen sind offen“, meinte Geiserich bedächtig.

„Du irrst dich“, maulte der Bursche ohne nachzusehen, da er wusste, dass er seine Schuhe gebunden hatte. Geiserichs Blick gewann eine gewisse Bedrohlichkeit.

„Sie sind offen“, konstatierte er, „und deine Stiefel“, er betonte das Possessivpronomen, als redete er von einem besonders widerwärtigen Insekt, „stehen hier vor dir, während du eilst, deine wichtigen Befehle auszuführen.“

Reto schüttelte ungläubig den Kopf, während der Seekönig langsam sein Schwert zückte. „Du bist wohl schneller zu Fuß als im Kopf“, knurrte er, „das wird sich ändern“, mit diesen Worten schmetterte er die stumpfe Seite seines Schwertes gegen das Schienbein des Burschen, der mit einem unterdrückten Schrei zusammenbrach. Geiserich wendete die Waffe in seiner Faust und legte die Schneide an die Kniekehle des Gestürzten. „Jetzt zieh die Stiefel aus, oder ich vergesse mich und mache dich zum Kr...“ Er stockte, eine flüchtige Röte überzog seine Gesichtshaut. „Na wird’s bald?!“ Der gedemütigte Reto entledigte sich protestierend der Stiefel, während, vom Lärm alarmiert, Männer aus der Schar Gundarichs mit blanker Waffe aus den umliegenden Häusern gelaufen kamen. Doch auch Geiserichs Männer eilten heran, zogen blank und bildeten einen Schutzwall um ihn.

„Er hat mich bestohlen!“, rief Geiserich laut und vernehmlich in die Runde und wies auf Reto, „wer den Sklaven beraubt, bestiehlt den Herrn! Wenn euer König so etwas durchgehen lässt und Nachsicht übt mit euch ehrvergessenem Gesindel, kann ich es nicht ändern. Mit mir geht so etwas jedenfalls nicht.“ Er wandte sich suchend zu Eudaimon, sein Mund verzog sich zu einem geringschätzigen Grinsen, als er ihn vor Schreck am Boden kauernd wahrnehmen musste. „Fehlt sonst noch etwas, Grieche?“

Eudaimon, der zwar noch das eine oder andere Paar seiner Schuhe an den umstehenden Männern erkannte, schüttelte, um die Situation nicht weiter eskalieren zu lassen, den Kopf. „Ich bin zufrieden“, gab er mit zittriger Stimme bekannt. Verstehend erwiderte Geiserich seinen Blick von oben herab, sein Lächeln schon wohlwollender.

„Dann ist es gut. Eurik und Odilo, holt die Kiste des Lehrers herbei!“ Er wandte sich an Eudaimon, der mittlerweile seine so sehnsüchtig vermissten Schuhe wieder angezogen hatte. „Ich sehe dich später auf dem Schiff!“ Ohne die feindseligen Mienen der königlichen Krieger zu beachten, verließ er, gefolgt von seinen Männern, die Szenerie.

Noch ganz verdattert saß Eudaimon auf seiner Kiste und strich sich den Bart. Ein wenig Wein könnte jetzt nicht schaden, dachte er und winkte einen der emsig herumrennenden Weinverkäufer zu sich. Für zwei Asse erhielt er eine Hemina vermischten Landwein im Wegwerfscherben. Mit geschlossenen Augen führte er genüsslich den Becher zum Mund, als ihm die Köstlichkeit grob aus der Hand geschlagen wurde.

Begleitet von einem klackenden Geräusch und lautem Kinderlachen flog sein Becher in hohem Bogen aufs Pflaster, wo er zu Bruch ging. Als Eudaimon sich entrüstet in Richtung des Gelächters wandte, erblickte er zwei Knaben, einer mit Steinschleuder, die ihn ohne die geringste Scheu ansahen.

Der eine war etwa einen halben Kopf kleiner als der Schütze und trug das lange dunkle Haar ordentlich in der Mitte gescheitelt. Schon jetzt ließ eine breite, hohe Stirn auf den Denker schließen, wie die für einen Jungen seines Alters, Eudaimon schätzte ihn auf neun bis zehn Jahre, etwas zu vollen Pausbacken und der stämmige Körperbau sein Interesse an leiblichen Genüssen unterstrichen. Unter kräftigen Brauen verbreiteten braune Augen ein warmes Licht. Während der Schleuderer, die wilde ungezähmte Blondmähne um das nicht schmutzfreie Gesicht, die weißen Zähne zum schadenfrohen Lachen entblößt, stehenblieb, machte sich der Kleine sogleich auf, an Eudaimon heranzutreten.

Je näher er kam, desto größer erschien der Grünanteil in seinen Isiden und als er vor Eudaimon in die Hocke ging, schien dieser zum zweitenmal in die Augen des Seekönigs zu blicken. „Verzeih bitte, wir“, dabei sah er sich zu seinem Freund um und winkte ihm, gleichfalls zu kommen, doch der machte nur auf dem Absatz kehrt und rannte davon, „also wir wissen eigentlich, dass sich so etwas nicht gehört, auch einem Unfreien gegenüber, und es tut uns Leid! Ich habe gehört, du sollst unser Lehrer werden.“ Mit einem weiteren Blick in Richtung des geflüchteten Übeltäters meinte er: „Du wirst ein dickes Fell brauchen für diese Lausebengel, und ich rate dir, schrei sie nicht an, dann werden sie noch bösartiger!“

Ein amüsiertes Lächeln umspielte Eudaimons Lippen: „Eure Hoheit gehören also nicht zu diesem Trupp von Lausebengeln?“ Der Junge, der Ironie noch nicht mächtig, schüttelte den Kopf. „Ich bin kein Adeliger, aber ein Freigeborener. Ich heiße Arwid und meine Mutter Waltraute. Vater habe ich keinen“, ergänzte er, „der Admiral kümmert sich um uns“, mit Verschwörermiene neigte er sich näher an Eudaimons Ohr, „ich glaube, er ist in meine Mama verliebt, aber das muss geheim bleiben.“

Der Grieche nickte verstehend. Das also war der gerade angekündigte Arwid. Ein freundliches, aufgewecktes Bürschchen mit angenehmen Umgangsformen und unentwickeltem Standesdünkel, freiem, ungezwungenem Blick, der bereit war, auch für die Fehler seiner Freunde einzustehen. Sieh an, ein Mensch!, dachte Eudaimon, natürlich erst noch im Werden begriffen, doch für das Weitere werde ich sorgen. Mit ihm würde er viel Freude beim Unterricht haben und seinen Spießgesellen würde er schon die Hammelbeine geradeziehen. „Arwid, sag deinem fernhintreffenden Pseudoapollon: ein toller Schuss! Den Becher treffen, ohne die Finger zu verletzen, Respekt! Aber sag ihm auch, er soll sich vorsehen!“

Habichte über Karthago

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