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Ein unvollständiger Römer

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2. Juni 429 A. D.

Geiserich hatte es möglich gemacht. Das wohl größte amphibische Landeunternehmen der Weltgeschichte, die geordnete Überquerung der sieben Meilen breiten Straße zwischen den Säulen des Herakles durch das gesamte, an die 80.000 Köpfe zählende Volk stand kurz vor seiner Vollendung. Der König hatte nicht nur die eigene Kriegs- und Handelsflotte, sondern auch kleinere Schiffe der südhispanischen Fischer herangezogen, denn die rudergetriebenen Kriegsschiffe verfügten über wenig Transportvolumen. In vierwöchigem Pendelverkehr wurde alles, mit Mann und Maus, Ochsenkarren, Viehherden und nicht zuletzt der reichen Beute, die sich in dem vieljährigen Plünderungszug durch halb Europa angehäuft hatte, verladen und übergesetzt. Gleich in den angesteuerten Zielhäfen wurden die Ankömmlinge von zurückgelassenen Männern der Vorhut in Empfang genommen und erhielten Instruktionen, damit weiterhin ein geordneter Ablauf der Landnahme gegeben war. Dass der König sich als hervorragendes Organisationstalent erwies, mussten sogar seine Gegner neidlos anerkennen. Bis auf die grausam bestrafte Unterbrechung durch Hermerich verlief alles nach Plan.

Die Freunde mit ihrem Gefangenen warteten auf den Befehl des Gubernators – Steuerführer und Kapitän in einem – zum Auslaufen. Sowohl Arwid als auch Truchthari teilten die Begeisterung des Königs für Schiffe, Häfen und das Meer in keinster Weise. Allen Aufstiegschancen bei der Marine zu Trotz blieben sie Landratten aus Überzeugung. Sie hatten nicht das Zeug zum Seehelden, waren ihnen die Tiefen des Meeres doch ein Gräuel, und Arwid war im Nachhinein sehr froh, dass er um eine Ausbildung bei der Marineinfanterie herumgekommen war. Er kniff sich die Nase zu. Das unverkennbare Hafenaroma, ein Gemisch aus unsauberem Wasser, Fisch von gestern und nassem Tau verursachte ihm einen Anflug von Übelkeit. Jenes romantische Gefühl von Aufbruch in die Ferne und erhoffter glücklicher Wiederkehr, das jedem Seemann das nötige Urvertrauen gab, lag ihm ferne. Und auch der seinem Naturell nach neugierige Truchthari heftete ob des beweglichen Bodens unter seinen Füßen den Blick etwas starren Genicks auf einen fixen Punkt an Land. Beiden konnte es nicht schnell genug gehen, endlich in See zu stechen, um die unliebsame Situation hinter sich zu lassen, und doch beschlich sie eine uneingestandene Furcht vor der weinroten See, dem Reich unbekannter grauenerregender Götter und Ungeheuer, das sie nun zu überqueren hatten.

„Warum bauen sie eigentlich keine Brücke nach da drüben?“, versuchte Truchthari einen Scherz, „die Perser haben damals auch den Hellespont überbrückt!“

„Erstens ist es nur ein Katzensprung der dort Europa von Asien trennt“, versetzte Truchtharis frisch erbeuteter Geograph, „und zweitens verleitet das Resultat dieser Expedition nicht zur Nachahmung. Es gibt doch nichts Schöneres, als zur See zu fahren“, er blickte zum azurblauen Himmel, „höchstens Fliegen könnte noch schöner sein, wäre es uns möglich.“ Die Libellen in Arwids Eingeweiden vollführten allein beim Gedanken daran einen Freudensprung, sehr zum Unwohlsein ihrer fleischlichen Hüllgestalt.

„Ikarus! Mehr sage ich dazu nicht!“, versetzte der Prinz.

Da sie sich auf einem der letzten Schiffe befanden, die den heimatlichen Kontinent verlassen sollten, um das Vandalenvolk in eine ungewisse Zukunft auf dem neuen Erdteil zu schaffen, hatte es eine gute Weile gedauert, bis schließlich die Reihe an sie gekommen war. Nach einigen Stunden kam endlich das ersehnte Land in Sicht.

„Africa!“ Severianus breitete die Arme und sein Wissen vor den Barbaren aus. Mit seiner weitausholenden Geste schien er die sich schier endlos vor ihnen erstreckende Küstenlinie mit langen Armen umfassen zu wollen. „Das ist tatsächlich ein regelrechter Erdteil, ich weiß ehrlich nicht, wem da dein Vater aufgesessen war, der ihm dieses riesige Land als ein Inselchen, wie etwa Britannien eines ist, andrehen wollte.“

„Was heißt hier Inselchen“, ließ sich Ceridwen vernehmen, „die waldreiche Alba ist groß und mächtig.“ Auf ihren Lokalpatriotismus ging jedoch im Moment niemand ein.

Voller Spannung blickten die Freunde und der Gefangene dem näherkommenden Land entgegen. Unmerklich langsam schien die Küstenlinie aus dem Wasser herauszuwachsen, so wie die morgendliche Entfaltung einer Blüte, die man doch zu beobachten wähnt, obwohl man der Langsamkeit ihrer Schritte in der Ausbreitung ins Licht nicht mit dem Auge zu folgen vermag. Im Hintergrund wurden hohe, mit ihren beschneiten Gipfeln trotzig und abweisend wirkende Berglandschaften sichtbar.

„Außerdem erzählen alle, dass bald hinter dem fruchtbaren Küstenstreifen eine schreckliche Wüste beginnt, die noch von niemandem durchquert worden ist.“

Auch Truchthari wollte zeigen, dass er sich schon etwas über das neue Land informiert hatte. „Vor allem nicht in südlicher Richtung“, pflichtete er dem Fachmann bei.

„Sie zieht sich entlang dieses Meeres, das die Mitte der Welt markiert, bis in die östliche Kornkammer hindurch“, beeilte sich dieser seine Kenntnisse an den Mann zu bringen, ehe ihm ein eventueller Besserwisser zuvorkommen mochte, „dorther sollen die meisten schwarzhäutigen Menschen stammen, nicht nur aus Äthiopien, denn die Sonne versengt dort alles.“

Truchthari bestätigte seinen Sklaven. „Ja, das moderate Europa können wir jetzt ad acta legen, hier in Africa prallen Fruchtbarkeit und Dürre, Überfluss und erschreckende Armut mit voller Wucht aufeinander. An einem Flecken wächst alles, wovon du selbst im klimaverwöhnten Gallien höchstens zu träumen wagst und unmittelbar daneben verdorrt alles Leben, nichts kann sich halten und gedeihen. Ich bin schwer neugierig, ob alles so sein wird, wie der König es uns angekündigt hat. Übrigens, glaubst du an Ptolemaios oder hängst du einem anderen geographischen System an?“

„Was heißt da glauben!? Wir, ich meine, ich und mein Gehilfe, wir waren immer Anhänger des Ptolemaios, den ja auch die christliche Religion anerkennt. Aber letztendlich ist das doch keine Frage des Glaubens, sondern des Wissens.“

„Du meinst also, die Welt sei eine Scheibe, die auf den Wassern schwimmt und in deren Zentrum das Mittelmeer sich befindet?“ Ohne auf die Antwort des Geographen zu warten, hakte er gleich nach, die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören. „Ich kann das sehr gut verstehen, schließlich sind jene Menschen, die diese Region bewohnen, die Römer, die edelsten unter der Sonne und die wichtigsten, weshalb sie auch in die Mitte des Universums gehören?“

Arwid sah missbilligend zu seinem Freund hinüber. „Nun lass doch den armen Mann erstmal sein System erklären und bring ihn nicht ständig durcheinander!“

Severianus holte tief Luft, doch bevor er loslegen konnte, warf Truchthari ein: „Entschuldige, ich möchte hier keine alten Thesen von der Welt als Scheibe hören, mich würde eigentlich nur interessieren, ob du auch der Ansicht bist, dass Africa mehr breit als lang ist?“

„Aber natürlich! Alles andere würde doch der Heiligen Schrift widersprechen, die sagt, die Welt sei wie der Tempel Jerusalems aufgebaut, der nach den Bauplänen Gottes entworfen worden ist. Wie die darin westöstlich aufgestellten Tische mit den Schaubroten, die von gewellten Ornamenten eingefasst wurden, wird das Land als ein von den begrenzenden Wassern umgebenes Rechteck aufgefasst, das von Nordwest nach Südost leicht abfällt. Die Wüste nach Süden hin zu durchqueren wäre auch nicht sehr sinnvoll, denn kurz hinter der Wüste hört die Erde ohnehin auf und stößt an die Grenzwasser. Die südlichen Grenzwasser fassen die größten Wassermassen, da sich ja das Erdgefälle dorthin neigt.“ Severianus nickte gravitätisch. „Es ist interessant, dass nicht alle Flüsse in dieses Wasser einmünden. Die Strömungsrichtung des Nil beispielsweise verläuft in entgegengesetzter Richtung. Er fließt gewissermaßen bergauf, weshalb er eine geringere Geschwindigkeit hat als etwa der Rhodanus oder die Zwillinge Euphrat und Tigris, die dem Erdgefälle folgen. Manche Phantasten behaupten gar, der Nil hätte normale Quellen wie jeder andere Fluss auch, das ist natürlich der bare Unsinn, es ist das südliche Grenzwasser, das ihn speist und mit Macht von sich wegschiebt.“

Arwid, dessen pythagoreisches Geheimwissen das Weltsystem in Kugelgestalt vor sich sah, hielt sich lieber zurück, da er keine Lust hatte, sich die Überfahrt durch einen fruchtlosen Disput vermiesen zu lassen und beschloss, die Weitläufigkeit des Decks auszunutzen, um etwas herumzustrolchen.

„Barbaren“, murmelte Severianus, dem die nur scheinbar beiläufige Entfernung des Prinzen nicht entgangen war, vor sich hin, und sandte ihm einen entrüsteten Blick nach. Tatsächlich sah der sich bereits nach wenigen Schritten in Richtung achtern von imaginärer Gewalt gezwungen, zu seinem ursprünglichen Aufenthaltsort am Bug des Bootes zurückzukehren. Allerdings nicht wegen des fesselnden Vortrags des Geographen, sondern ihn zwang die Gewissheit, dass er sich in absehbarer Zeit übergeben müsste, wenn er seine auf den Wassern schwankende Seele nicht mit den Augen an der Beständigkeit des Festlandes, das vor ihnen aufkam, festmachen konnte. Der Geograph, der die Situation natürlich zu seinen Gunsten interpretierte, fuhr nun erst recht beflügelt fort.

„Auch Aristoteles, der größte Denker aller Zeiten, lehrt, dass sich nichts ohne Ursache bewegt, da der natürliche Zustand der Dinge die Ruhe ist.“

„Aber entschuldige! Dein hochgeschätzter Aristoteles erntete auf so vielen Feldern, dass ihm auch unversehens so manches Unkraut in die Hände fiel“, platzte nun wieder Truchthari in den Vortrag, „wenn das Wasser von Natur aus stehen sollte, dann gäbe es längst keines mehr, denn stehendes Wasser fängt an zu stinken und stirbt, wenn es nicht bewegt oder erneuert wird. Primär ist doch alles in Bewegung, nichts verharrt in der Ruhe. Herakleitos, den ihr den Dunklen nennt, hat recht, wenn er sagt, dass du nicht zweimal in denselben Fluss steigen kannst.“

Die das Schiff umgebenden Wellen schienen ihm mit ihrem gleichmäßigen Auf und Ab bei seiner Argumentation sekundieren zu wollen. Severianus wischte Truchtharis Einwand kopfschüttelnd beiseite. „Nein, so einfach darfst du dir das nicht machen! Du lässt dich täuschen von den Eindrücken, die dein Auge aufnimmt, ohne sie verstandesmäßig zu verarbeiten. Das Wasser fließt nur, wenn es angeschoben oder einem Gefälle ausgesetzt wird“, er hatte sich in Fahrt geredet, „der Nil nun hat sogar das Gefälle gegen sich und fließt trotzdem noch. Das kann aber nicht daran liegen, dass Wasser im Naturzustand fließt, sondern muss davon herrühren, dass er von einer immensen Gewalt, die von hinten her auf ihn einwirkt, vorangetrieben wird, das leuchtet doch ein, oder?“

„Ich sehe auch eine nicht minder immense Gewalt, die von hinten auf dich einwirken wird, wenn du jetzt nicht endlich ruhig bist!“, mischte sich nun Arwid ein, der sein linkes Bein anhob, als ob er das Gewicht seines Stiefels abschätzen wollte, und den Polyhistor mit einem giftigen Blick bedachte. Truchthari war erstaunt über die Reaktion seines Freundes, der offensichtlich ausnahmsweise nicht in der Laune zu einem philosophischen Streitgespräch war. Nur zu gerne wäre er jetzt Zeuge eines verbalen Stellvertreterkrieges der antiken Philosophen gewesen. Der Pythagoras Arwids hätte sicher zuerst Zahlenverhältnisse ermittelt, um daraus Schlüsse zu ziehen, und nicht schon vorher angenommen, er wisse, wie die Welt aussehen müsse, um nur noch nach Bestätigungen für seine Theorien zu suchen.

„Lassen wir doch das Ganze auf uns zukommen“, warf der Prinz ein, „Wir setzen gerade über in ein absolut fremdes Land und reden schon vorher die ganze Zeit darüber, wie es dort ist, als seien wir schon dort gewesen und würden alles aus eigener Anschauung kennen.“ Er fasste seine Freundin um die schlanke Taille. „Wenn Ceridwen in einer Tour von Hibernia und ihrer scheinbar so faszinierenden Andersartigkeit schwärmt, weiß sie, wovon sie spricht, aber hier wird doch nur spekuliert und keiner weiß etwas Genaues.“

Severianus blickte indigniert zu Boden.

„Mein He…, pardon, meine Herren …“

„Endlich hast du kapiert, wie du mich anzusprechen hast“, belustigte sich Truchthari über den Lapsus des Römers, dessen Gesichtsausdruck eine seltsame, gar nicht zur Situation passende Erleichterung aufwies, und der gleich wieder versuchte, sein Wissen an den Mann zu bringen.

„Geheimnisse und Überraschungen werden wir in Africa noch in tausenderlei Gestalt antreffen, verlasst euch darauf. Wir werden wilde Löwen, nicht geschützt durch die Mauern der Arenabrüstung, aus näherer Entfernung zu sehen bekommen, als uns lieb sein wird. Ebenso wilde Menschen werden uns das Leben schwer machen, und euer König wird sich wehmütig nach zivilisierten Feinden sehnen, wie wir Römer es waren.“ Die Pause in seinem Sermon nutzte nun „sein Herr“ für eine nicht unwichtige Frage.

„Da fällt mir gerade ein, wie kommen wir an deinen Geldgeber, an jenen großzügigen Menschen, der das Lösegeld für dich bezahlt, den römischen Kaiser, heran?“ Bisher hatte sich dieser Fang noch nicht rentiert. Wenn man von den nur schwer zu unterbrechenden polyglotten Auslassungen des Gefangenen über Geographie und Geschichte absah, die er bei jeder Gelegenheit abspulte und deren Memorierung man als Bildung im weitesten Sinn bezeichnen konnte, hatte der vornehme Römer ihm noch keinerlei Nutzen gebracht, wollte doch Truchthari nicht unbedingt einen Hauslehrer als Mitbringsel aus der Suebenschlacht anschleppen. Severianus hingegen schienen die finanziellen Spekulationen in Hinsicht auf seine Person kalt zu lassen. Wusste er nicht, dass Gefangene, die nicht nutzbringend verwendbar waren, das heißt, sich nicht verkaufen ließen oder ordentlich arbeiten konnten, gerne an die Fische verfüttert wurden? Er lachte nur gackernd und machte, in der Gewissheit seines Wertes eine wegwerfende Handbewegung. „Ich denke, dazu wird auch der Statthalter des Kaisers hier in Africa, ein gewisser Bonifacius, bereit sein.“

„Ich glaube, der ist auf uns gar nicht gut zu sprechen momentan, aber, wenn ich ihn zufällig sehen sollte, werde ich ihn natürlich fragen, wie er mir deine Unentbehrlichkeit vergütet“, rang sich Truchthari einen müden Scherz ab.

Arwid grinste breit. „Das möchte ich gerne sehen: Wie du, Truchthari, den Generalissimus der Kaiserin und comes Africae, Flavius Bonifacius Pavianus auf der Straße triffst und ihn fragst: ‚Ach, entschuldigt bitte, Ihr seid doch hier der Allerhöchste, könnt Ihr mir etwas Geld geben für einen Hauslehrer in Geographie und Historie, den ich in Spanien gefangen habe. Es handelt sich um ein besonders wertvolles Exemplar dieser Spezies, denn er ist römischer Bürger. Wollt Ihr mir Bares geben oder einen Wechsel, wenn Ihr gerade nicht genügend mit Euch führt? Bei Nichtbezahlung kann ich den verdienten Mann allerdings nicht nach Rom zurückkehren lassen, sondern muss ihn den heimischen Göttern hier opfern!‘“

Es sah schlecht aus für Severianus, der pikiert zu Boden blickte. Natürlich würde Truchthari ihn, genausowenig, wie er daran dachte, ihn freizulassen, an irgendwelche gierigen Tiere verfüttern. Notfalls würde er den Geographen als Landvermesser an Latifundienbesitzer vermieten, doch über diese seine Pläne ließ er selbstredend den Gefangenen in Unkenntnis. Die Freunde ließen die Blicke an der Linie der jenseitigen Meeresküste entlangwandern. Auf was für ein Abenteuer hatten sie sich eingelassen, als sie Geiserichs Traum vom vandalischen Africa aufgegriffen hatten?

Nun waren sie mittendrin, ihn zu verwirklichen. Mit von böig auffrischendem Wind geblähten Segeln steuerten sie dem Gestade entgegen, das immer näher heranrückte. Ihrem Schiff war ein Landeabschnitt direkt gegenüber Tarifa zugewiesen worden. An Backbord konnten sie in der Entfernung mit Mühe noch eine stattliche Anzahl von Schiffen, die nur Frauen, Alte und Kinder beförderten, ausmachen. Diese Transporter liefen weiter östlich gelegene Häfen an, um den Langsameren den Landweg zu verkürzen. Sie mit ihrer Schar würden wieder einmal die Nachhut bilden. Mit ernstlichen Kämpfen war zwar kaum zu rechnen, doch wollte Geiserich Räuber und plündernde Nomaden davon abhalten, den Treck aus dem Hinterhalt anzufallen, und hielt dort eine scharfe Waffe bereit, die vor allem aus den profilierungsbedürftigen Jungkriegern bestand. Gleich nach ihrer Anlandung gedachte er, diese Waffe aus der Scheide zu ziehen und ihre Schlagkräftigkeit zu demonstrieren.

Während der gesamten Zeit, die sie für den Transfer des Großteils des Volkes benötigten, war ihnen der Meergott gnädig gewesen, hatte nicht ein einziges Opfer verlangt. Geiserich hatte seinen vermessenen Schwur, alle Vandalen trockenen Fußes nach Africa zu schaffen, in die Tat umgesetzt. Kein einziges Schiff war gekentert oder gesunken, kein einziger Mann in den Fluten umgekommen, doch jetzt, gerade als die letzte kleine Flottille unterwegs war, schien sich ein Unwetter zusammenzubrauen.

Der Wind frischte zusehends auf, und schwarze Wolken, die sich vor den Bergen verdichteten, jagten über die Meerenge. Im Nu hatte sich das Meer verändert. Aus dem satten Blau war ein dunkles Grau mit nahezu schwarzen, amorphen, scheinbar unterseeische Abgründe andeutenden Flächen geworden. Gurgelnd wurden dort Ströme hinabgezogen, während sie andernorts geysirartig aufzutauchen schienen. Mehr als nur vereinzelt tanzten nun weiße Schaumkronen auf den immer steiler sich türmenden Wellen. Das Szenario hatte sich aus der Idylle in ein Inferno verwandelt. Die Taue sangen vibrierend im Sturm, und der Gubernator pfiff den Matrosen, die Zusatztakelage einzuholen, so dass sie zunächst noch mit dem großen Rahsegel fuhren, dessen Fläche sich jedoch binnen kurzer Zeit als zu groß für die Gewalt des heftigen Windes erwies. Die Wogen prallten an das hohe Bord, Gischt spritzte darüber. Prüfend blickte Ceridwen zum Himmel, doch zeigte sie keinerlei Unruhe oder gar Angst.

„Das ist nur ein kleiner Sturm, der legt sich bald“, versicherte sie den Männern an Bord. Es schien so, als wäre sie die einzige, die sich unbeeindruckt von dem Geschehen zeigte, ja, als mache ihr das Toben der Elemente Spaß. Die Matrosen, Frauen an Deck waren ihnen natürlich der reine Graus, murmelten etwas von „Hexe“ und „Teufelsbraut, die sich natürlich vor der Hölle nicht fürchten muss“ und machten sich an ihre harte Arbeit, das Hauptsegel einzuholen und den Mast umzulegen, um den Schwerpunkt des Schiffes günstiger auszutarieren.

Der Wind kam von achtern und drohte das Schiff aufs Land zu werfen. Rasch hatte man die letzte Distanz zum Ufer zurückgelegt, doch ein Anlegen verbat sich wegen der hohen Wellen, so dass der Gubernator sich gezwungen sah, vor der Mole Notanker auszuwerfen. Gischtend verschwanden die drei eisernen Anker an den langen schneckenartig eingerollten Tauen in der Tiefe und fanden nach einigem hin und her Grund. Doch das Schiff riss an den Tauen, bockte und sprang auf den Wellenbergen umher wie ein junges Fohlen. Die Gesichter der meisten Männer nahmen eine grünliche Färbung an, die wackeren Reiter und Schwertfechter opferten nun dem Neptun, oder wem auch immer, der für diese Meerenge zuständig sein mochte. Die großen, bunten schreckeinflößenden Dämonenaugen, die des Schiffes Bug zierten, vermochten ihn ebensowenig einzuschüchtern wie die „Opfer“ der Landratten ihn besänftigten.

Arwid hing verkrampft über der Reling. „Oh ihr Götter, das überlebe ich nicht!“ Ceridwen legte ihre Hand, ohne viel zu sagen auf seinen Rücken und vollführte kleine kreisende Bewegungen. Langsam begannen seine Eingeweide, sich zu entkrampfen, gleichzeitig wich die ihn völlig absorbierende Übelkeit einer angenehmen Gleichgültigkeit. Er fühlte sich den Elementen preisgegeben und doch sicher und geborgen, fast wie ein unbeteiligter Zuschauer erlebte er das Toben des Windes und das gischtende Gewoge des Meeres. Verständnislos und unsicher schüttelte er den Kopf, seine noch schweißnassen Hände umfingen dankbar die Linke Ceridwens.

Mit einem schrecklichen Ruck, der von einem scharfen Knall begleitet wurde, riss eines der Ankertaue und peitschte zurück an Deck. Es traf einen völlig erledigt an der Reling lehnenden Krieger und schleuderte ihn wuchtig zurück, wo er besinnungslos liegenblieb. Ceridwen kämpfte sich zu ihm durch und musste feststellen, dass einige Rippen gebrochen waren. Hier an Bord war bei dem wackeligen Untergrund an eine fachgerechte Versorgung nicht zu denken, doch sie war sich sicher, dass der Mann durchkommen würde und kam, vom Spiel der Wellen auf und ab gehoben, zu Arwid zurückgetorkelt, der gerade anfing, erneut die Farbe zu wechseln. „Gleich ist’s vorbei“, redete sie beruhigend auf den Seekranken ein. Außer ihr schien lediglich dem Geographen der Seegang nichts auszumachen.

„Stimmt, du hast recht, das sieht jetzt sehr gefährlich aus, aber in spätestens einer halben Stunde ist der Zauber vorbei“, pflichtete er ihrer Beurteilung der Situation bei.

„Als Geograph hast du sicher auch die Meere befahren“, interessierte sie sich für seine Sicherheit.

„Ja, wir haben schließlich auch Ligurien und Aremorica kartiert, zum Teil vom Meer aus, da gewöhnt man sich an derartige Vorgänge.“

Ein erneuter Knall ließ alle auf dem Schiff zusammenfahren, das zweite Tau war gerissen, jetzt galt es zu handeln. Man konnte den Gubernator als Indikator für die Situation, in der sich das Schiff befand, verwenden. Zwar hatte er von seinem erhöhten Standpunkt aus eine gute Übersicht über das Geschehen, doch umgekehrt konnten alle sehen, wie es um ihn bestellt war. Sein Gesicht nahm jene wächserne Tönung an, die sich gerne kurz vor einer Panik einstellt. Aller Augen hingen an dem der Verzweiflung verfallenden Fachmann, dem die Kontrolle über das Geschehen zusehends entglitt.

Severianus erfasste die Situation, spurtete, den Seegang ignorierend, heckwärts, enterte die Achterschanze und gleich darauf den Sitz des Gubernators, indem er den zitternden Mann einfach beiseite schubste. Über das Getöse von Wind und Wasser ertönte seine sonore Stimme: „Alles hört auf mein Kommando!“

Die Matrosen ordneten sich ihm kommentarlos unter, die Dramatik der Situation ließ ihnen keine Wahl, sie hingen an nur mehr einem einzigen Anker, dem sprichwörtlich schlechten. Die Hafenmole ragte gefährlich weit vor, dahinter jedoch war das Wasser relativ ruhig, Severianus wusste, dass sie diese Spitze umschiffen mussten, um sich in Sicherheit zu bringen.

„Ceridwen, kapp das Tau“, brüllte er. Die Angesprochene wieselte zu dem verbliebenen Ankertau und tat wie geheißen. Jetzt hing alles an dem Römer, der das Ruder meisterhaft führte und im Schweiße seines Angesichts das Schiff langsam, aber sicher herumbrachte, so dass es den gefährlich vorspringenden Eckzahn der Mole nun direkt vor sich hatte. Wenn er den Kurs nicht noch um wenige weitere Grade korrigieren konnte, stand dem Schiff das Los, der Länge nach aufgeschlitzt zu werden, bevor.

Mit vorquellenden Augen stemmte sich der hochgewachsene Mann ins Ruder, die meisten der Matrosen beteten, die Krieger rangen hilflos die Hände und wie um in ihren Chor einzustimmen, ächzte das Schiff in allen Fugen. Manche der Männer vergaßen über der Bedrohung sogar ihre Übelkeit, andere sahen in der Kollision mit der Molenspitze die ersehnte Rettung aus ihrer Malaise. Mit vernehmlichem Knacken gehorchte schließlich das Schiff dem Ruder, die Spitze der Mole hinter sich, trieb es nun in ruhigem Gewässer. Fast augenblicklich endete das Gezerre und Geschiebe am Schiffsrumpf und langsam trieben sie auf den Kai zu.

Ein mächtiges Tau wurde in ihre Richtung geworfen, glitt an der Schanzverkleidung ab und fiel schlaff ins Wasser des Hafenbeckens. Das Schiff hingegen behauptete seinen Eigenwillen und wollte partout nicht längsseits gehen, was jedoch den neuen Ruderführer nicht aus der Ruhe brachte. Auch dieses schwierige Manöver meisterte er anstandslos. Arwid fragte sich insgeheim, woher er diese Fähigkeiten haben mochte. Endlich gelang es, gegen den Usus, mit dem niedrigeren Bug voran festzumachen. Nur das Heck musste noch eingefangen werden, und man konnte endlich die schwimmende Schaukel verlassen. Doch wie zum Trotz krangte das Boot nochmals aus.

Severianus ruderte, was das Zeug hielt, mit dem schweren Steuerruder, um den Rumpf erneut längsseits halten zu können, jetzt war man nahe genug heran. Ein Seil flog heran, wurde festgemacht, Severianus stieg siegessicher mit einem Bein auf einen der hoch aufragenden, korkummantelten Fender am Kai. Mit dem anderen Bein stand er sicher auf der Schanze und machte den Hafenarbeitern Zeichen, mittschiffs ein Reep anzulegen. Da bewegte sich ein letztes Mal das Heck des Schiffes vom Land weg.

Langsam, doch unaufhaltsam wurden dem verwegenen Steuermann die Beine in eine immer unzumutbarere Grätsche gezogen, die Augen aller ruhten erwartungsvoll auf ihm. Die einen hofften auf Rettung, die anderen auf einen spektakulären Sturz. Grotesk wirbelte er mit den Armen rudernd die Luft auf, bis er sich schließlich mit einem verzweifelten Sprung zu retten suchte, dabei jedoch weder Schiff noch Kai erreichte und mit lautem Klatschen in das abgestandene Wasser des Hafenbeckens stürzte. Kurz darauf erschien sein nicht mehr so ordentlich frisiertes Haupt in einiger Entfernung auf der Wasseroberfläche. Die Freunde lachten Tränen. Diesen Kunstsprung würden sie so schnell nicht vergessen. Der verhinderte Akrobat schwamm indes mit kräftigen Zügen, den Kopf wie ein Hund immer weit aus dem Wasser erhoben, zur rettenden Kaimauer, wo bereits ein herabhängendes Seil auf ihn wartete. Auf diese Weise war er eher an Land als die Übrigen.

Der Reihe nach kamen die restlichen Schiffe der letzten Fuhre an, mit dem Seegang kämpfend, vorwiegend Kavallerietransporter mit flachem Bord, die nicht den Hafen direkt anliefen, sondern die seichten, vorgelagerten Sandstreifen zum Anlanden nutzten. Kaum waren die Kiele auf den Sand gesetzt, sprangen einige Nauten an Land, zogen die Schiffe höher aus dem Wasser und kippten sie dann zur Seite, so dass die Pferde bequem heraus schreiten konnten. In einer guten halben Stunde würden die Krieger mitsamt ihren Reittieren zum langen Treck aufbrechen können.

Der Gubernator, der nun wieder sein Amt versah, ordnete an, die langen Leitern von der Schanze zu lösen und auf die Kaimauer herabzulassen, wo der triefendnasse und übelriechende Severianus bereits wartete. Der tapfere „Kapitän a. D.“ sah erbärmlich aus.

„Willkommen in Africa, Herr!“, salutierte er vorschriftsmäßig mit dem römischen Gruß, wodurch die Bewillkommnung der Vandalen auf dem neuen Erdteil auch nicht weihevoller geriet.

„Ein schlechtes Omen“, murmelte einer der Nauten, „Gott ist gegen das Unternehmen, zuerst der Sturm und dann dieser Wassersturz bei der Landung.“ Fast wehmütig versuchte er, die spanische Küste auszumachen. „Die Vorzeichen der Eingeweideschauer sind auch alle schlecht ausgefallen“, bestätigte ihn ein weiterer, „die Götter finden keinen Gefallen an unserer Landnahme auf dieser dunklen Insel. Und zurück können wir auch nicht mehr“, jammerte er.

„Ja, wir sind jetzt in Africa, nichts führt mehr zurück in die alte Heimat und die neue müssen wir uns erst mal erstreiten“, brachte Arwid, nun festen Boden unter den Füßen, die Situation auf den Punkt. „Nehmt leichten Herzens Abschied, Männer, und wendet euren Mut auf die Aufgaben, die hier auf uns warten.“

Nichts erinnerte mehr an den grüngesichtigen lethargischen Neptunanbeter, Arwid leuchtete schier von innen her, er war voller Optimismus für seine und seines Volkes Zukunft. Wie auf Kommando sahen alle zurück zum europäischen Kontinent, der jedoch verschämt sein Gesicht hinter den Wolken des allmählich abziehenden Unwetters verbarg. Bereits aufgesessene Zenturionen mit ihren Signiferen und Bläsern erschienen auf den Straßen, die vom Hafen wegführten. Raustimmige Befehle sprengten die Soldaten auseinander, die feierliche Stimmung, die aufkommen wollte, wurde im Keim erstickt. Rasch wurden die Schiffe entladen, und es wimmelte bald von Reitern, die ihre Ausrüstungen zusammentrugen und nach ihren Tieren suchten.

Truchthari nutzte die Gunst der Stunde und schritt mit feierlich ernstem Gesicht auf den Römer zu. „Du hast uns aus schwerer Seenot durch selbstlosen Einsatz errettet“, verkündete er mit Laudatorenstimme, „wir wären kein ehrliebendes Volk, würden wir dies nicht honorieren, und so haben wir, Arwid, Sohn des Königs der Vandalen und Alanen, und ich, Truchthari, dein rechtmäßiger Herr“, diesen Passus betonte er besonders, „beschlossen, dir die Freiheit wiederzuschenken.“

Ein Leuchten ging über das Gesicht des Römers.

„Zusätzlich haben wir beschlossen, dich zu ehren. Deine künstlerische Einlage hat uns den Abschied von der alten Heimat erleichtert und obendrein den Königssohn in seiner melancholischen Stimmung sehr zu erheitern gewusst, weshalb wir dich mit einem Ehrennamen anstelle eines Cognomens, das deinem Namen zur Vollständigkeit ja noch fehlt, auszeichnen wollen. Von heute an heißt du Gaius Severianus Lapsus.“

Das Leuchten erlosch augenblicklich.

„Wunderbar, ich fühle mich geschmeichelt, so ein schöner Spitzname, das hätte ich gar nicht erwartet, ich glaube, ich verzichte dankend …“

„Ach, keine falsche Bescheidenheit, Lapsus“, ein schelmisches Grinsen umspielte Truchtharis Lippen. „Leicht wie ein Füllen überspringt der neue Name das Gehege der Zähne und dringt an die Ohren aller, die in Hörweite sind, um dort große Heiterkeit zu erregen. Du kriegst das alles selbstverständlich noch schriftlich nachgereicht, wie in Rom: Keine Freilassung ohne Diplom. Alles muss seine Ordnung haben! Was mich noch interessieren würde“, setzte er lauernd nach, „woher hast du die Fähigkeit, ein Schiff so geschickt zu lenken? Von einem Geographen erwartet man gemeinhin derartige Fertigkeiten nicht, oder?“

„Zuhause, das heißt in meinem Ferienhaus in Baiae“, antwortete der Römer, „habe ich ein kleines Segelboot, wo ich mich in den heißesten Sommerwochen als, wie soll ich sagen, Freizeitkapitän vielleicht?, in der Kunst der Seefahrt versuche.“

„Und dann gehst du gleich mit so einem Frachter um, als sei er eine Nussschale. Alle Achtung!“ Truchthari trat von einem Fuß auf den anderen. „Wie dem auch sei“, das Folgende kam eher schleppend, „wenn du willst, trennen sich hier unsere Wege. Du bist frei und kannst deinen Schritt dahin lenken, wohin es dir beliebt, und wir werden deine Entscheidung natürlich respektieren“, er streckte dem Schmutzwasseraromen ausdünstenden Freigelassenen ziemlich distanziert die Hand hin. Doch Lapsus schlug nicht ein. „Also, ehrlich gesagt, gefällt es mir bei euch nicht übel, wenn ihr wollt, schließe ich mich euch eine Zeitlang an.“

„Du wirst schon noch sehen, auf was du dich da einlässt, aber du bist uns sehr willkommen.“ Arwid nahm, ungeachtet seines erbarmenswerten Zustandes, den neugewonnenen Freund herzlich in die Arme. Die Pferde wurden herübergebracht. Einige stolperten nach der schwindelerregenden Überfahrt noch recht unbeholfen herum, doch wollte Arwid keine Zeit verlieren. „Aufgesessen“, befahl er, „zum Sammelpunkt der Nachhut!“ Zu viert setzten sie ihren Weg ins Ungewisse, in ihre neue Heimat, fort.

***

Habichte über Karthago

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