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TOTE LEBEN LÄNGER

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Erst ein Gericht beendete das Tauziehen um den Jahrhundert-Athleten Jim Thorpe. So blieben seine sterblichen Überreste in der Stadt, die seinen Namen trägt. Ein Ortstermin

An der schmalen Ausfallstraße nach Norden, der Route 903, findet sich gleich hinter den letzten Häusern, wo sie nach dem Anstieg aus dem Tal eine Anhöhe erreicht, ein kleiner Park mit kurz geschorenem Rasen und einem großen Sarkophag aus rotem Marmor.

Man kann die Stelle nur schwer übersehen. Eingerahmt wird das Ganze von Fahnenschmuck und zwei Säulen, auf denen ein und derselbe Mann, eingefroren in den ausdrucksstarken Augenblick zweier typischer Bewegungsabläufe aus dem Sport, verewigt worden ist. Auf dem Podest näher zur Stadt hin holt er mit einem Diskus in der Hand elegant und locker zu einer mächtigen Drehung aus. Auf dem Sockel weiter stadtauswärts lehnt er sich im Laufschritt nach vorne, während er in der rechten Hand einen Football direkt an seinen Körper gepresst hat.

Was der Bildhauer Edmond Shumpert in diesen zwei Skulpturen aus dem Leben dieses einen Menschen herausgeformt hat, wirkt bei Licht betrachtet trotzdem nicht gerade üppig. Immerhin handelt es sich bei der fraglichen Person um jemanden, dessen Biographie noch zu Lebzeiten in Hollywood als Überfigur auf die Leinwand gebracht wurde. Inszeniert von niemand anderem als einem gewissen Michael Curtiz, dem Regisseur von Casablanca, gespielt von Burt Lancaster und in der Kinowerbung als „Mann aus Bronze“ und „der größte Sportler aller Zeiten“ verkauft. „An Oklahoma Indian lad“ – ein Indianer-Halblut aus Oklahoma – „whose untamed spirit gave wings to his feet and carried him to immortality.“ Unsterblich. Denn – das war die Lesart damals – bei ihm handelte es sich um den größten Athleten aller Zeiten.

Dieses Werturteil galt lange. Auch noch, als er am 28. März 1953 in Kalifornien an Herzversagen starb und seine sterblichen Überreste in diesem Ort in der bergigen Landschaft am Oberlauf des Lehigh River in dieser mächtigen steinernen Hülle zur letzten Ruhe gebettet wurden.

Sonst hätte die New York Times zum Beispiel damals sicher nicht diesen enormen Nachruf veröffentlicht, der auf der Titelseite begann und im Innenteil weiterging, wo man auf mehr als 300 Zeilen sein ungewöhnliches Leben nachzeichnete. Der Nachruf listete unter anderem seine Bestmarken aus der Leichtathletik auf. Sie unterstrichen, wie vielseitig und versiert er in seinen glorreichen Zeiten gewesen war: Er war handgestoppte 10,0 Sekunden über 100 Yards gelaufen, 21,8 Sekunden über die 220 Yards und 50,8 Sekunden über 440 Yards. Er hatte über 880 Yards eine Bestzeit von unter zwei Minuten aufgestellt sowie 7,16 Meter im Weitsprung, 1,95 Meter im Hochsprung, 2,35 Meter im Stabhochsprung, 14,55 Meter im Kugelstoßen, fast 50 Meter im Speerwerfen und etwas mehr als 40 Meter mit dem Diskus geschafft.

Sein ursprünglicher Name lautete Wa-Tho-Huk, was seiner Herkunft als Angehörigem des Stammes der Sac and Fox entsprang. Allerdings war er der Spross eines wirren Stammbaums, in dem nicht nur einige namhafte Häuptlinge vertreten waren, sondern väterlicherseits auch noch irische und mütterlicherseits französische Verzweigungen.

Da es keine Geburtsurkunde gab, kursierten später widersprüchliche Angaben darüber, an welchem Tag er eigentlich auf die Welt gekommen war. Am 22. Mai 1887, wie es in der Taufbescheinigung steht, die die katholische Kirche Sacred Heart in Konawa Ende desselben Jahres ausstellte? Oder im Mai ein Jahr danach, wie er selbst sechzig Jahre später gegenüber der Lokalzeitung in seiner Heimat verriet? Nur soviel war und blieb unumstritten: sein bürgerlicher Name – Jacobus Franciscus Thorpe.

Der junge Thorpe, bald nur noch Jim genannt, war so etwas wie ein sportliches Wunderkind. Er demonstrierte schon früh besondere grobmotorische sportliche Fähigkeiten, war allerdings am normalen Schulunterricht nicht besonders interessiert und fand erst, als ihn im fernen Pennsylvania die Carlisle Indian Industrial School rekrutierte, eine Bildungseinrichtung, die ihm behagte. Das Internat mit dem pädagogischen Leitbild, junge amerikanische Ureinwohner in die angelsächsische Gesellschaft zu assimilieren, investierte in ihn und seine Altersgenossen damals eine streng-militärisch ausgerichtete Ausbildung, mit dem Ziel einer kompletten kulturellen Umerziehung.

Ihr Motto: „Kill the Indian, save the man“.

Bring den Indianer um, rette den Menschen.

Er war sechzehn, als er an der Ostküste eintraf und sogleich nicht nur zum Star-Leichtathleten, sondern auch zu einem Leistungsträger der Football-Mannschaft wurde, betreut von niemand anderem als dem legendären Trainer Glen Warner, genannt Pop.

Seine Qualitäten sprachen sich rasch herum. Denn er und seine Mitstreiter bezwangen 1911 nicht nur die höher eingestufte Auswahl der Universität Harvard, sondern auch das Team der Kadetten der Militärakademie in West Point, in dem der spätere Oberbefehlshaber der alliierten Truppen im Zweiten Weltkrieg und US-Präsident Dwight D. Eisenhower spielte. Die Begegnung prägte sich zwar nicht in Thorpes Gedächtnis ein, aber in Eisenhowers: Thorpe habe „nie in seinem Leben“ ernsthaft trainiert, mutmaßte der Offiziersschüler. Trotzdem spiele der dieses uramerikanische Spiel „besser als irgendein anderer Footballspieler, den ich jemals gesehen habe“.

Doch diese scheinbar geradlinige Geschichte produzierte wenig später eine tragische Wendung. Nachdem Thorpe 1912 bei den Olympischen Spielen in Stockholm zwei Goldmedaillen gewann – bei den zwei Mehrkampfwettbewerben der Leichtathletik, die es damals gab: den Fünfkampf und den Zehnkampf – und nach der Rückkehr in New York mit einer Konfettiparade begrüßt wurde, wurde er das Opfer des feudalen Zeitgeists im organisierten Sport. Der Mann, den der schwedische König Gustav V. bei der Siegerehrung mit den Worten beglückwünscht hatte, „Sir, Sie sind der großartigste Athlet der Welt“, wurde die Zielscheibe von Rassismus, Klassenarroganz und purem Neid. Beide Medaillen wurden ihm aberkannt, weil Thorpe 1909 und 1910 in einer unteren Liga in North Carolina professionell Baseball gespielt und dafür 60 Dollar pro Monat kassiert hatte. Es handelte sich um einen Verstoß gegen die damaligen Amateurregeln. Seine Verteidigung – „Ich war ein einfacher Indianerjunge und hatte keine Ahnung von diesen Dingen“ – stieß auf taube Ohren.

Erst 1982, als sein Landsmann Avery Brundage endlich in Pension war, den er bei beiden Wettbewerben in Stockholm deutlich geschlagen hatte und der sich während seiner Amtszeit als amerikanischer NOK-Chef und als Präsident des Internationalen Olympischen Komitees ausdrücklich gegen eine Rücknahme der Entscheidung eingesetzt hatte, wurde Thorpe erneut zum Olympiasieger erklärt.

Die Geschichte seiner sterblichen Überreste ist übrigens nicht weniger spektakulär, allerdings sehr viel abenteuerlicher. Denn Jim Thorpe kann nichts dafür, dass seine Gebeine hier an der Route 903 Richtung Albrightsville und in dieser kleinen Stadt mit der nichtssagenden Postleitzahl 18229 gelandet sind, in die er in seinem ganzen Leben nie auch nur einen Fuß gesetzt hatte.

Und er kann schon gar nichts dafür, wie diese Stadt inzwischen ganz offiziell heißt: Jim Thorpe.

Richtig. Jim Thorpe. Genauso wie er.

Denn er war bereits tot, als die Lokalpolitiker 1954 auf der Suche nach einer neuen Identität auf diesen Handel eingingen und ihr einstmals blühendes Städtchen im Kohlerevier von Pennsylvania, das nach Schließung der Tagwerke in eine schwere wirtschaftliche Depression verfallen war, umtauften. Das Geschäft kam mit Thorpes Witwe zustande. Mit Patricia, der Ehefrau Nummer drei, die für ein kleines Handgeld den beiden Orten Mauch Chunk und East Mauch Chunk die Gebeine ihres Mannes überließ und daran noch eine Bedingung knüpfte: Sie sollten ihm im Gegenzug ein ordentliches Mausoleum errichten. Und sie sollten den Namen der Kommune ändern.

Thorpes Leichnam war ursprünglich per Eisenbahn von Kalifornien nach Oklahoma gebracht worden, wo er nach einer Trauerfeier nach katholischem Ritus auf dem Fairview-Friedhof von Shawnee beigesetzt wurde. Doch wenig später ließ Patricia ohne Einwilligung der anderen Familienangehörigen die sterblichen Überreste exhumieren und nach Pennsylvania überführen.

Seine letzte Ruhe fand Jim Thorpe – der Sportler – deshalb in Jim Thorpe – der Stadt, die seinen Namen trägt – nicht sogleich. Denn vor ein paar Jahren begannen seine Söhne eine Kampagne, um die Gebeine nach Oklahoma zurückzuholen. Dorthin, wo man noch heute über die böse Stiefmutter schimpft.

Die Auseinandersetzung mit der Stadt in Pennsylvania lief selbst noch 2012, als man das hundertjährige Jubiläum der Olympiasiege von Stockholm hätte feiern können. Sie wurde erst im Herbst 2015 in letzter Instanz beendet, als der Oberste Gerichtshof in Washington ablehnte, sich mit der Sache zu beschäftigen, und auf diese Weise die Entscheidung der Berufungsinstanz zu Gunsten der Stadt Jim Thorpe Rechtskraft erlangte.

Die Enttäuschung in Oklahoma war enorm. Nicht nur unter Familienmitgliedern, sondern auch unter einflussreichen Menschen, die sich von der Rückkehr der Knochensammlung ebenfalls eine touristische Aufwertung ihrer Gegend erhofft hatten. Die Kläger hatten sich auf ein Gesetz berufen, das seit 1990 die Gebeine von Indianern und etwaige Grabbeigaben unter besonderen Schutz stellt und verlangt, dass sie den unmittelbaren Verwandten und Stammesorganisationen übergeben werden. Finanziell unterstützt worden war die Initiative vom Stamm der Sac and Fox. Der betreibt ein Casino und hat das Geld, solche teuren Rechtshändel zu finanzieren.

Justin Lenhart, 2012 Direktor des dortigen Jim Thorpe Museums, heute als Kurator in der Oklahoma Sports Hall of Fame in Oklahoma City beschäftigt, schimpfte damals: Patricia Thorpe sei nur aufs Geld aus gewesen. Sie habe alle Memorabilien verkauft, die ihr Mann im Laufe seiner Karriere angehäuft hatte. Noch schlimmer: Sie sei unvermittelt während der indianischen Begräbnis-Zeremonie zusammen mit der Polizei aufgetaucht und hätte die Leiche einfach mitgenommen.

Eine solche Räuberpistole passt irgendwie zu einem Lebenslauf, der von hohen Hochs und tiefen Tiefs geprägt war: Zu dem Nackenschlag nach der Heimkehr aus Schweden (Justin Lenhart: „Thorpe weinte oft ganz ungeniert. Und er sagte: Ich verstehe das nicht, warum sie mir meine Medaillen abgenommen haben. Ich habe bei Olympia kein Geld bekommen. Ich habe Geld fürs Baseballspielen erhalten.“), zu seinen triumphalen Auftritten als Footballprofi in den frühen Tagen der National Football League, zu den wirtschaftlich eher mageren Verhältnissen, in denen er leben musste. Und zu der Behandlung als Darsteller von Indianern in billigen Hollywood-Western.

Geld verdiente er anschließend trotzdem – unter anderem als Football-Profi. Und später noch als Komparse in billigen Hollywood-Western, wo er allerdings nur den tumben Indianer mimen durfte. Eine richtige Schauspielerkarriere war ihm nicht vergönnt. Überdies litt er irgendwann an Alkoholproblemen, erlebte Schiffbruch mit zwei Ehen und galt bei seinem Tod nur noch als tragischer Held. Ein Image, gegen das die dritte Ehefrau anzukämpfen versuchte, als sie mit den Stadtvätern in Pennsylvania den Deal einfädelte, ihre Kommune Jim Thorpe zu nennen.

Die Stadt mit ihren 5000 Einwohnern ist heute aus dem Gröbsten heraus. Man hat die viktorianische Architektur in der Hauptstraße, genannt Broadway, erhalten und herausgeputzt und wurde deshalb 2012 in einer amerikaweiten Umfrage zu einem der fünf hübschesten Orte des ganzen Landes gewählt. Es gibt Institutionen wie die Jim Thorpe National Bank und das Jim Thorpe Film Festival. Und jedes dritte Wochenende im Mai eine Feier aus Anlass des Geburtstags des Namensgebers.

Aber die meisten Besucher, die kommen, so gibt Al Zagofsky in einem Gespräch zu, der jahrelange Herausgeber vom Carbon County Magazine und deshalb in der Region bestens vernetzt, „wissen überhaupt nicht, wer Jim Thorpe war, und haben auch gar kein Interesse, die Gedenkstätte zu besuchen“.

Sicher, ein paar Traditionalisten wie jene, die sich um die Gedenkfeiern zu seinem Geburtstag kümmern, wären enttäuscht gewesen, wenn der Namenspatron wieder verschwunden wäre. Auch deshalb, weil der Erwerb der sterblichen Überreste juristisch betrachtet sehr wohl mit rechten Dingen zugegangen war. Was William Schwab als Anwalt der Stadt jedem gerne erklärte, der ihn während der Auseinandersetzung in seinem Büro besuchte. Zumal der Sportler Thorpe kein Testament besaß und deshalb persönlich rein gar nichts verfügt hatte.

Schwab, typisch Jurist, sah in der ganzen Angelegenheit interessanterweise keine Spur von Ironie. Dass der großartigste Sportler Amerikas, der Zeit seines Lebens oft genug herumgeschubst worden war, auch nach seinem Ableben nicht viel mehr als ein Spielball unterschiedlicher Interessen geblieben war, schien eine Laune der Geschichte.

Mehr nicht.

„Es gibt ungefähr elf Nachkommen, die gegen eine Umbettung sind. Sie haben ihren eigenen Anwalt. Wenn die elf gegen die anderen zwei antreten, werden die vielleicht nachgeben. Jim Thorpe war Zeit seines Lebens praktizierender Katholik. Die Kirche sieht es gar nicht gerne, jemanden zu exhumieren.“

Dazu kam es nicht, als ein Berufungsgericht in Philadelphia den Streit endgültig beerdigte.

Zumindest der Ort Jim Thorpe ist seither mit sich im Frieden.

(2015)

Es hat in der Geschichte der Olympischen Spiele nur wenige Fälle gegeben, in denen Athleten eine Medaille wieder zugesprochen wurde, die ihnen zuvor aberkannt wurde. Aus deutscher Sicht ist sogar nur ein Fall aktenkundig: der des Eiskunstlauf-Paares Marika Kilius und Hans-Jürgen Bäumler. Die beiden hatten ihre Amateurlaufbahn nach den Olympischen Winterspielen von Innsbruck 1964 beendet, bei der sie die Silbermedaille gewonnen hatten. Später wurde bekannt, dass sie bereits vor der Veranstaltung einen Vertrag über ihren Auftritt in dem Kinofilm Die große Kür unterschrieben hatten. Dies stufte das Internationale Olympische Komitee als Verstoß gegen die damaligen Amateurregeln ein. Nach einigem Hin und Her erklärten sich Kilius und Bäumler 1966 bereit, die Medaille abzutreten. Nach der offiziellen Aufhebung des Amateurstatuts 1987 bekamen sie eine Neuprägung als Geste der Wiedergutmachung. Allerdings werden sie erst seit 2014 wieder offiziell vom IOC in der Statistik der Innsbrucker Spiele geführt.

Bäumler war nach dem Ende seiner sportlichen Laufbahn als Schlagersänger, Schauspieler und Fernsehmoderator erfolgreich. Marika Kilius nahm ebenfalls Schallplatten auf und landete zweimal auf Platz zwei der deutschen Schlager-Hitparade. Als Unternehmerin entwarf sie Acrylmöbel, baute einen Merchandising-Betrieb auf, führte ein Restaurant und entwickelte eine eigene Kosmetik-Linie.

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