Читать книгу Blutgrätsche - Jürgen Neff - Страница 11

Die Musik der Kurve: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel

Оглавление

Schröter lacht noch immer über die Geschichte mit meinem Tinder-Date. Mit Abstand und genügend Alkohol ist sie ja auch durchaus witzig.

»Scheiße, war der Tag bitter.« Ich bin müde und angeschlagen.

Wir sitzen im König Wilhelm. Die einzige Kneipe, die nahezu alles hat, was meine Seele für ein bisschen Entspannung benötigt: abgewetztes Mobiliar, aufrechte Drinks ohne Hipster-Schnickschnack, Raucherlaubnis. Mein persönliches Feng-Shui; zerschundene Umgebung für eine wunde Seele. Und heute ist sie besonders wund.

Das erste Bier habe ich beinahe in einem Zug geleert. Ich habe mich wieder einigermaßen im Griff. Auch deshalb, weil ich gedanklich ein wenig weg war von unserem »Fall«. Ich will Cats Tod eigentlich nicht so nennen.

»Du warst also mal FCH-Fan.«

»Bin. Nur nicht mehr aktiv.«

»Aha.«

Schröter nippt an seinem Bier. Ja, er nippt. Sonst ist er in Ordnung. Aber saufen kann man nicht mit ihm. Und von Fußball hat er keinen blassen Schimmer.

»Warum verbringst du deine Sonntage dann nicht mehr im Stadion, sondern zu Hause auf der Couch und chattest mit fremden Männern?«

»Was ich mit fremden Typen tue, geht dich gar nichts an, Schröter. Du hattest deine Chance in der vierten Arbeitswoche. Und ins Stadion gehe ich nicht mehr, weil ich mit dem Thema durch bin.«

»Aha.«

»Weil ich es nicht mehr will.«

»Aha.«

Der geht mir auf die Nerven! »Herrgott. Ist ’ne längere Geschichte.«

Er nippt wieder. Meine Güte!

»Ich war in jungen Jahren bei den Societas.«

»Du warst mal jung?«

»Haha. Vorderste Front. Unser Banner hängt am Zaun auf der Ost direkt neben dem der Fanatico Boys.«

»Das ist vermutlich das männliche Pendant der Ultras.«

»Genau. Pendant. Du bist ein Kombinationsgenie, Alter. Wirst es noch weit bringen bei der Kripo.« Ich trinke mit einem kräftigen Zug mein Bier aus und bestelle zwei neue. Auch wenn Schröters noch nicht einmal halb leer ist. Die nächste Kippe.

Ja, gut. Ich habe Schröter in seiner vierten Arbeitswoche angegraben. Ich finde ihn durchaus attraktiv. Und im großen Ganzen ist er auch so weit okay. Und wer kann schon wirklich wissen, wie es bei den Leuten zu Hause gerade läuft.

»Und was tut man da so? Als Ultra?«

»Was Fans eben so tun. Sich treffen, gemeinsam zum Spiel gehen, anfeuern, zu Auswärtsspielen fahren, die Mannschaft unterstützen, eskalieren. Die spielten damals noch in der dritten Liga; aber schon richtig gut. Und wir haben sie angepeitscht und gebrüllt, bis das Rachenzäpfchen wund war.«

»Was ist das Fanprojekt, von dem die Mutter des Opfers sprach?«

»So etwas gibt es in mehreren Städten, fast überall, wo große Vereine sind. Fanprojekte funktionieren als Netzwerke unter den Anhängern, vermitteln zwischen Vereinen und Fangruppen. Das Ganze wird unabhängig von den Clubs unterstützt: vom DFB, vom Land und von sozialen Einrichtungen. Hier in Heidenheim sind zwei Sozialpädagogen beim Fanprojekt angestellt. Damals gab es solche Einrichtungen noch nicht. Vielleicht sollten wir uns mal mit denen unterhalten. Die fahren bei den Spielen mit, nehmen sogar an den Sicherheitsbesprechungen davor teil, weil sie nah an den Fans dran sind und einschätzen können, wie die Stimmungslage ist.«

»Okay.«

»Seit die Fans da eine Plattform und ein Forum finden, trifft sich die Szene dort vor dem Spiel, und dann geht es geschlossen hoch zum Albstadion. Nach dem Spiel ist dort meistens noch Halligalli.«

»Diesen Rummel kann ich ja nicht nachvollziehen.«

Ist mir klar.

»Die Emotionen. Warum diese Aufregung wegen eines Spiels?«

»Da geht’s nicht um ein Spiel, Schröter. Da geht’s um Identität. Die Bande, die Societas, das war wie eine Familie. Die ganze Fantribüne. Du hast doch Kinder. Wenn die in der Schule gut sind oder im Sport irgendwas reißen, macht dich das stolz. Weil sie zu dir gehören.«

»Natürlich bin ich dann stolz.«

»Mein Vater war aus der Wunder-von-Bern-Generation. Einer derjenigen, die das Glück hatten, zu jung zu sein für den Nazikrieg. Zu Hause mit Muttern, nichts zu futtern. Und danach Besatzung, wieder nix zu fressen. Und dazu die Scham des Verlierers, die wachsende Erkenntnis der Deutschen, dass sie nicht einfach Opfer dieses kleinen Ösis waren, der ein unschuldiges Volk verführte, sondern dass sie das wirklich alles mit durchgezogen, dabei Europa verwüstet und Millionen Menschen den Tod gebracht haben. Als Kind nimmst du es nur unbewusst wahr, aber du kriegst es mit, und du kannst es noch viel weniger einordnen oder von dir fernhalten. Die Schuld, die Offenlegung der Grausamkeiten, all diese Scheiße.« Interessiertes Nippen. Solche Gespräche mag der Schröter. »Aufgewachsen in dem Bewusstsein, die größte Schuld der Welt auf seinen Schultern zu tragen. Ein Wunder, dass man da überhaupt wächst. Und dann kam diese Fußball-Weltmeisterschaft. Bei der Deutschland ein absoluter Außenseiter war, ein Verlierer, der Dreck unter den Fingernägeln der Welt. Und gewinnt überraschend, wird Weltmeister. Das war eine Offenbarung für das Land, für die Menschen. Ob sie das nun verdient hatten oder nicht.«

»Schon klar. Die Deutschen waren wieder wer. Aber die Welt tickt heute anders.«

»Tatsächlich? – Ich weiß noch genau, wie meine Schwester und ich an seinem Totenbett saßen und er uns vorschwärmte, wie der Teil der Familie, der den Krieg überlebt hatte, damals gebannt vor dem Radio hing und die letzten Momente des Endspiels mitzitterte. ›Tooor! Tooor! Deutschland ist Weltmeister!‹ Genauso wie sie zehn Jahre zuvor bei den Propaganda-Sendungen der Nazis saßen und dann bei den Berichterstattungen über die Prozesse. Und mit einem Mal hat das Land das Gefühl, wieder irgendwas Positives getan zu haben. Etwas Gutes geleistet. Wenigstens ein weißer Fleck auf dem kriegbeschmierten Hemd. Wie er immer von den Helden von Bern schwärmte, von Fritz Walter, von Kaiserslautern. Die halbe Nationalmannschaft bestand damals aus Spielern vom Betze. Wie heute von Bayern München.«

Ich muss lachen. Ich glaube, es wäre schwierig für meinen Vater geworden, hätte er den Aufstieg der Heidenheimer in die zweite Liga noch erlebt und der FCH wäre gegen die Lauterer auf dem Betzenberg angetreten. Na ja. Nicht wirklich. Aber ein wenig schizophren. Er fand die Heidenheimer klasse, aber Kaiserslautern war für ihn der Olymp. Das Unantastbare.

»Woran ist er gestorben?«

»Leukämie. Ernährte sich sein Leben lang supergesund, rauchte nie, trieb Sport. Spielte damals mit Benzeler zusammen in der ersten Mannschaft des FCH-Vorgängers VFL Heidenheim, später war er Jugendtrainer. Und mit 50, als das nicht mehr so ging, begann er damit, Marathon zu laufen. Und dann rafft ihn der Blutkrebs innerhalb eines halben Jahres weg. Der Benzeler hat’s nicht glauben wollen, mein Vater auch nicht. Ich weiß noch, wie ich nach der zweiten Chemo mit Papa beim Arzt sitze und nicht anders kann, als zu fragen: ›Von wie lange sprechen wir? Reden Sie mal Tacheles.‹ Und der sagt: ›Fünf, sechs Monate.‹ Ich glaube, Papa wollte das gar nicht wissen. Und was antwortet er? ›Pffff. Ich schaffe mehr.‹«

Schröter sieht mich lange an. »Also gut. Ich habe es verstanden: Es geht ums Wir-Gefühl.«

Ganz genau. Die Musik der Kurve. Mir ist bewusst, für einen Außenstehenden, für jemanden, der nicht damit groß wurde, ist das nicht leicht nachvollziehbar. Und für so einen Piefke wie Schröter noch viel weniger. Man kann es nicht erklären, man muss es fühlen. Erleben. So wie ich nicht nachvollziehen kann, wie es sein muss, in einem Villenviertel irgendwo in Norddeutschland aufzuwachsen, als Sohn eines Arztes. Sicher hat Schröter deshalb auch noch nie angesetzt, um mir mehr über sich zu erzählen. Es ist völlig anders, etwas mit Worten zu beschreiben oder es wirklich zu erfahren. Musik. Das Gefühl, das sich einstellt, wenn du in der Fankurve stehst, seit 80 Minuten dein Team anfeuerst und die endlich den Treffer erzielen, die Osttribüne völlig austickt, sich Fremde in die Arme fallen – das kannst du niemand mit Worten vermitteln. Man kann es eigentlich gar nicht erklären. So, wie wenn man frisch verliebt ist, das lässt sich auch nicht treffend beschreiben. Es ist Musik in der Seele, ein Gleichklang der Herzen. Etwas, das dich mit deinem ganzen Sein ergreift, mit allem, was du bist, verschluckt und die Welt um dich herum völlig verändert.

»Die Societas«, erkläre ich Schröter weiter, »waren anfangs nicht sehr beliebt. Eine eigene Frauen-Ultra-Gruppe. Das war nicht leicht, sage ich dir. Die mochten uns nicht, haben uns geschnitten. Aber wir wollten es so. Wir waren begeistert von der Mannschaft, die Welt der Ultras jedoch bestand aus Kerlen. Der Vorsänger, der Vorstand der Fanclubs, die ganze Struktur auf der Ost, alles eine reine Männerclique. Viele der Frauen kamen anfangs lediglich mit, weil ihre Typen so begeistert waren und sie wenigstens dabei sein wollten. Erst nach und nach steckten sie sich selbst mit dem Virus an.«

»Die Männer hatten trotzdem das Sagen in der Kurve, nehme ich an.«

»Exakt. Und wir? Die Societas waren strange, für die Männer wie für die nur mitlaufenden Frauen. War ein echter Kampf.«

Schröter nickt und nippt.

»Irgendwann kam die Akzeptanz. Weiß nicht genau, warum: Ob mit der Zeit oder weil sich insgesamt etwas geändert hat. In der Gesellschaft, meine ich. Weil es plötzlich in Ordnung war, wenn Frauen in diese Männerdomäne einbrachen. So wie es weibliche Ministranten gab und so was. Wir gehörten plötzlich dazu, zur Fangemeinde und aktiven Szene.« Ich lache. »Nur eines wird wohl niemals passieren: eine Frau als Vorsängerin im Fanblock.«

»Hast du selbst denn einmal Fußball gespielt?«

Ich verstehe die Frage nicht.

»Auf den Platz gehen, gegen einen Ball treten.«

»Bist du bekloppt? Frauenfußball ist doch langweiliger Scheiß. Ich fuhr eine Weile im Rallye-Sport. Und mit Katrin war ich mal beim Boxtraining. Aber Frauenfußball? Ne. Geht gar nicht.«

»Und wie ist das dann? Wie bei Rockstars? Du weißt schon.« Schröter grinst. »Na, die Bandmitglieder schnappen sich angeblich immer irgendwelche Groupies.«

Ich pfeife durch die Zähne. »Das geht dich gar nix an. Aber ich weiß zufällig, dass die Schwestern bei der Aufstiegsfeier in die zweite Liga mit den Spielern und den Fanaticos in der Dusche standen und Schampus soffen. Wäre zu gern dabei gewesen.«

»Das Mordopfer war früher mit einem der Spieler zusammen?«, fragt Schröter.

Ich ziehe mein Handy heraus und öffne das Foto, das ich heute bei Katrin von dem Bilderrahmen geschossen habe. »Johannes Lederer. Der Mittelstürmer damals. Cooler Typ. Wir vier, Johannes, mein Ex Leo, Cat und ich, waren ein Herz und eine Seele. Leonhard hat heute eine gute Position im Verein.«

Ich halte es schwer aus, dass Schröter Katrin als »das Mordopfer« bezeichnet. War man einmal einem Menschen so nahe, dass man das Gefühl hat, ihn ganz und gar zu kennen, zu wissen, wie er denkt und fühlt, wie er riecht, wie soll man den Gedanken daran ertragen, dass diese Person einfach nicht mehr da ist? Ich habe es beim Tod meines Vaters schon so erlebt. Unmittelbar ist da, wo zuvor eine ganz besondere Verbindung war, nichts mehr, sie erlischt in diesem Moment für immer. Vermutlich werden wir das niemals begreifen können. Weil es mit dem Verstand überhaupt nicht zu erfassen ist. Das absolut Undenkbare.

Ich muss an meinen Exmann denken. Letztlich ist es mit einer Trennung auch nichts anderes. Eine unglaubliche Nähe erlischt plötzlich und wird ersetzt durch unüberbrückbare Distanz. Auch wenn die Erinnerung an die ehemalige Verbindung bei beiden erhalten bleibt. Die Spannung zwischen dieser Nähe und der Distanz spüre ich jedes Mal, wenn ich ihn treffe.

Johannes hat Cat in der Tat einen Antrag gemacht. Verdammt, Katrin. Warum hast du ihn nicht festgenagelt? Ich frage mich, wer wohl ihre Brautjungfer gewesen wäre, und nehme einen weiteren Schluck Bier. Schröter auch. Wenn man das so nennen kann.

»Also noch mal Fußballkunde für Dummies. Erstens: Das Runde muss ins Eckige. Foul ist, wenn der Schiri pfeift; zumindest bei einem Foul an einem unserer Spieler. Drittens: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel. Es gibt keine Spielpausen, Fußballferien oder so ein Zeug. Ist man echter Ultra, dann lebt man für den Fußball und für den Verein. Wie jede Liebe, Tag und Nacht, 24/7, die ganze Scheißarbeitswoche durch. Egal, ob es darum geht, mal bei einem Training zuzusehen, in der Kicker-App neue Nachrichten über die Verletzung eines Spielers nachzulesen oder sich mit der Bande in der Sportbar zu treffen, um die Choreografie für den Sonntag zu besprechen oder eine neue zu entwickeln.«

»Choreografie«, wiederholt Schröter ironisch.

»Schnauze, Schröter. Warst du überhaupt schon mal im Stadion?«

Schröter grinst. »Du wärst überrascht.«

»Wieso?«

»Na gut, ein einziges Mal nur, mit fünf. Mein Vater hat mich mitgenommen. WM-Endspiel 1990.«

Ich verschlucke mich an meinem neuen Bier. »Echt jetzt?« Die wievielte Flasche ist das eigentlich? »Scheiße. Du warst im Stadion in Rom?! 8. Juli 1990. 1:0 gegen Argentinien. Littbarski, Klinsmann, Brehme – und Diego Maradona! Das fass ich jetzt nicht.«

Schröter ist sichtlich stolz, und ich denke mir nur: Mein langweiliger Kollege war beim WM-Finale. Der ist offensichtlich völlig ahnungslos, was das bedeutet. Er stammt doch aus einer ganz anderen Welt. Schröter trägt Hemd und Krawatte, immer. Zugegeben, es steht ihm. Aber die Grundsätzlichkeit stört mich. Ich könnte ihn zu einem Grillabend einladen, und er käme mit Krawatte. Sollte ich gelegentlich austesten. Und seine spießige Grundhaltung, zu der so altbackene Regeln gehören wie »Don’t fuck in the Factory« oder »Appetit holen okay, gegessen wird zu Hause«, geht auch gar nicht. Das passt doch überhaupt nicht mehr in unsere gefräßige und oberflächliche McDonald’s- und Tinder-Kultur.

»Mein Vater ist wie ich kein Fußball-Interessierter. Aber WM, klar. Wenn das ganze Land mitfiebert …«

»… dann wird auch aus dem Chefarzt und Anzug-Golfer ein Fachmann.«

»So ungefähr. Wir verfolgten die Spiele der Deutschen zu Hause, und als es im Raum stand, dass wir ins Finale einziehen, konnte er das über seine Beziehungen organisieren.«

Ich weiß nicht, ob er ahnt, wie neidisch ich bin. In Italien, Endspiel gegen Argentinien. Ich würde meine letzten zehn One-Night-Stands dafür geben. Okay, nicht den einen vor zwei Jahren. Ich brauche noch ein Bier.

»Also. Choreografie.«

Genau das meine ich mit Spießigkeit. Nun möchte ich mal was Persönliches erfahren, und mein Piefke kehrt sofort wieder zurück zu den Fakten. Mann! »Die Performances in der Fankurve, bei den echten Fans, nicht beim Klatschpublikum, sind genau durchchoreografiert. Man erfindet immer neue, feilt daran. Und Katrin war darin superkreativ, entschied mit, wie wir uns präsentieren. Stimmte sich ab mit den Fanatico Boys.«

»Und du glaubst, das könnte uns weiterbringen?«

»Weiß nicht. In unsere Überlegungen zu einem Motiv sollten wir ihre Stellung bei den Societas und in der Kurve jedenfalls einbeziehen. Sie war zu 110 Prozent bei der Sache. Eine Fanatikerin. Ist oft angeeckt. Bei den Gegnern, natürlich in Aalen, Ulm, Sandhausen, manchmal bei den eigenen Leuten. Oder beim Vorstand. Weil sie sich nichts vorschreiben ließ. Gar nichts. Auch nicht von einer ein wenig älteren Societas-Schwester.«

»Du bist älter als sie?«

»Aufpassen, Schröter.«

Blutgrätsche

Подняться наверх