Читать книгу Blutgrätsche - Jürgen Neff - Страница 8
Und an das noch viel weniger
Оглавление»Mensch, Nina. Das ist ja der Wahnsinn!«, freut sich Vater Benzeler überschwänglich. »Schön, dich zu sehen. Komm rein!«
Genau davor hatte ich Angst. Brauchte eine halbe Stunde, um mit Schröter aus dem Auto auszusteigen, und nochmals zehn Minuten, um endlich an dem Reihenhäuschen in der Albstraße zu klingeln, einer Allee, die einem das »Alles in Ordnung« entgegenbrüllt wie ein Bobbycar im Sandkasten: Birken rechts und links, säuberlich getünchte Familiennestchen, Geranientöpfe, ein Engel im Vorgarten – wenigstens kein Gartenzwerg, der hätte mir den Rest gegeben.
Schröter gefällt es bestimmt. Bin mir sicher, bei ihm zu Hause sieht es nicht viel anders aus. Heim, Herd, Frau, zwei Kinder. Und ganz bestimmt auch Kugelgrill und Bobbycar.
Wir gehen ins Wohnzimmer. Vor meinem inneren Auge eine Stadionuhr, die heruntertickt. Mit jeder Sekunde, in der ich nicht mit der Nachricht rausrücke, sie ihnen vor die Füße werfe, wird es schwerer. Nichts ist so fatal wie das Verschweigen eines Erdrutsches. Jede Sekunde zählt!
»Du siehst gut aus, Frau Kriminalinspektorin«, bezirzt mich Katrins Erzeuger.
»Danke, Alfred.« Kriminaloberkommissarin eigentlich.
»Wollt ihr was trinken? Kaffee, Tee? Herr Schröter?«, fragt Anne.
Schnaps! Mein Blick schreit Schröter an, stumm.
Es hat sich nichts verändert in den letzten sieben Jahren. Gar nichts. Noch dasselbe Sofa mit den schrecklich großen Blumen auf dem Bezug. An der Wand das Foto der Fußballbrüder Heidenheim, ein Wimpel in Vereinsfarben. Vater Benzeler hat in der ersten Mannschaft gespielt. Zusammen mit meinem Vater. Vor Jahrzehnten. Daneben eins von Katrin. Dem einzigen Kind. Vor ihrem Motorrad, mit FCH-Schal. Freudestrahlend, als ende das Leben niemals.
Er bemerkt, wie ich auf das Bild starre.
»Ist nicht mehr das, was es einmal war, Nina. Du hast es rechtzeitig kapiert.«
Ich sehe ihn an, und mein Inneres schreit. Meine Seele zerfließt zu Brei. Katrins Mutter mustert mich. Frauen. Diese scheißempathischen Wesen! Ich will heulen. Ich will, dass Anne mich in den Arm nimmt und ich einfach heulen darf wie eine Achtjährige. Umgekehrt wäre es wohl angebrachter. Aber ich fühle mich so hilflos. So leer. Alter, ich weiß nicht, wie ich die nächsten paar Minuten überstehen soll.
Mein Gott. Das wird ein entsetzliches Treffen, das nächste Mal mit meinem Psychodoc. Ganz furchtbar!
Die Stadionuhr tickt unerbittlich weiter.
»Ich sag’s unserer Katrin immer wieder«, freut sich Vater Benzeler weiter. »Weißt du, Fußball okay. Klar, ist wichtig. War er uns damals auch. Aber es war nur ein Hobby. Doch das, was die heute daraus machen, mit ihrem vergrößerten Stadion und den Fans und dem Geld, das verdirbt alles. Und meine Kleine mittendrin.«
Die Mutter sieht mich weiter nur an. Ich brauche einen Schnaps!
»Ist auch nichts für ’ne Frau. Echt nicht.« Er nimmt seine Anne in den Arm. »Du weißt schon, wie ich es meine, nicht? Emanzipation und so, alles okay. Find’s schön, dass die Frauen mitkommen. Hat meine Anne auch gemacht.«
Tick, tack. Tick, tack.
Er küsst ihre Wange, aber seine Frau bleibt stoisch, taxiert mich. »Alfred. Lass die Nina doch mal zu Wort kommen.«
Doch Vater Benzeler ist so aufgeregt, er kann nicht stillhalten. »So ein hoher Besuch. Mensch. Ich freu mich so. Nun setz dich doch endlich.«
»Danke, Alfred.« Ich kann mich nicht auf das Sofa setzen! Darauf habe ich zusammen mit Katrin gesessen. Und mit meinem damaligen Mann. Da saßen wir, genau da, haben Schnaps getrunken und uns ein Logo für die Societas ausgedacht. Auch wenn Alfred und Anne nicht begeistert waren. Ich habe die beiden geliebt, und sie haben mir beigestanden bei der Beerdigung meines Vaters und danach. Auch nach meiner Scheidung.
»Wollt ihr wirklich nichts trinken?« Ich sag’s nicht noch mal!
Schröter sieht mich an: Kann nicht einschätzen, was er denkt. Wahrscheinlich schwankt er zwischen den Optionen, das Gespräch an sich zu reißen, auch wenn es anders verabredet ist, und davonzulaufen. Und ich? Ich möchte vom Boden verschluckt werden.
Tick, tack. Warum glaubte ich nur, dass ich das hinkriege?
»Ich … Alfred … Anne.« Meine Stimme krächzt, die Seele schlägt Blasen.
Wenig später ist es irgendwie passiert. Keine Ahnung, was ich tatsächlich gesagt habe. Totalamnesie. Es wäre denkbar, dass ich ihnen einfach nur ein Foto der Leiche gezeigt oder die schreckliche Nachricht auf ein Blatt Papier gekritzelt habe. Ich weiß es beim besten Willen nicht mehr. Muss Schröter nachher fragen, ob es einigermaßen okay war und mein Autopilot funktionierte.
Der Raum versinkt unter dem Erdrutsch. Das ganze Haus wird verschluckt von Nichts und Endgültigkeit. Schwarz, alles nur noch schwarz. Auch die bunten Blumen des Sofabezugs. Katrins Vater sitzt bibbernd in der Ecke und heult. Aufgelöst, kann nicht mehr. Schock, Ungläubigkeit, Verzweiflung. Kopfschütteln und Zerfließen.
Anne gelingt es noch zu sprechen.
»Wann habt ihr sie das letzte Mal gesprochen?«, frage ich sie.
»Gestern, vor dem Spiel. Die sind auf dem Schlossberg aufmarschiert, wie immer: Treffen in der Clubhalle des Fanprojekts unten in der Stadt und geschlossen hoch vors Stadion. Und dann kam sie rüber, und wir haben ein bisschen geredet. Sie war gut drauf. Und der Vater kritisierte sie wieder, weil sie so ausstaffiert war.«
»Ich wollt doch nur, dass sie sich was Ordentliches anzieht«, wimmert Vater Benzeler. »Muss doch bei der Kälte nicht in kurzen Hosen rumlaufen.«
»Das geht uns nichts mehr an, Alfred.«
»Ich sagte ihr immer, Ultra sein ist doch nichts für ’ne Frau. Die Nina hat das hingekriegt. Haben wir ihr immer gesagt.«
Ich muss innerlich lachen. Das hat sie sicher richtig gern gehört. Die fahnenflüchtige Verräterin als Vorbild.
»Und die Kerle. Hast du gesehen, wie die Kerle sie angrinsten?«, jammert er weiter.
»Die grinsen nicht, weil sie Ultra ist, sondern weil sie scharf auf sie sind«, fährt Anne ihn an, und Alfred fällt wieder winselnd in sich zusammen.
»Anne, weißt du, ob sie in irgendwelchen Schwierigkeiten steckte?«
Katrins Mutter schüttelt den Kopf. »Wir wussten wenig in letzter Zeit. ›Warst seit Wochen nicht mehr da‹, hab ich ihr gestern noch vorgeworfen.« Sie heult, leise, unauffällig, in sich hinein. »Wann hast du sie denn zuletzt gesehen?«
»Vor einem Dreivierteljahr sind wir einmal in der Stadt beinahe zusammengestoßen. Sie war auf dem Weg zur Arbeit, und ich meinte, ich käme die Tage einmal in ihrem Copy-Shop vorbei. Aber dann kam etwas dazwischen und …« Scheiße.
»Sie hat immer von dir geschwärmt, Nina«, sagt Anne. »Hat jeden Artikel über dich ausgeschnitten. Das Bild von dir bei der Polizeiprüfung und dann, als du im Heidenheimer Blatt warst als Kripobeamtin.«
Ich nicke. Was soll ich auch sonst tun?
»Hatte sie einen Freund? Von Johannes hat sie sich ja getrennt.« Weiß gar nicht, woher mir das bekannt ist.
Anne schüttelt den Kopf. »Nicht sie hat sich getrennt, er.«
»Ach. Okay.«
Ihre Schultern fallen noch tiefer hinab. »Guck doch mal, dass du endlich ’nen gescheiten Mann kriegst, Nina.«
»Wie bitte?«, frage ich.
»Das war das Letzte, was ich meiner Katrin gesagt hab.« Sie sieht mich an, die Tränen rinnen ihr über das Gesicht, und sie wiederholt es. »›Guck doch mal, dass du endlich ’nen gescheiten Mann kriegst.‹ Sie lachte nur und meinte: ›Och Mama. Ich bin doch noch jung.‹ Dabei wird sie bald 33.«
Pause. Lange Pause; und noch immer kein Schnaps. Realisiere, dass ich schon wieder an meinem Fingerstummel spiele.
»Und mit der Bande war alles gut, den Societas? Gab es da Probleme? Machtkämpfe?«
Katrins Mutter schüttelt den Kopf. »Sie hat darüber nicht viel erzählt. Weil sie wusste, der Vater mag es nicht hören. Erfuhren immer mehr von den Nachbarn oder so. Aber soweit ich weiß, waren die in letzter Zeit richtig angesehen bei den Fans. Integriert in alles. Es lief ja gut. Bei der Mannschaft und bei den Fans.«
»Weißt du, warum Johannes sich von ihr trennte?«
»Weil er sie aufgegeben hat!«, brüllt Vater Benzeler, fällt aber sofort wieder zurück in Lethargie.
Anne schüttelt den Kopf. »Er hat ihr vor zwei Jahren einen Antrag gemacht. Aber Katrin hat ihn abgelehnt.«
»Echt?« Ich kann es kaum glauben: Der einst wichtigste Spieler der Mannschaft macht ihr einen Antrag, und sie lässt ihn abblitzen. Aua.
»Hab ich ihr auch gesagt: Der Johannes hat eine Zukunft. Aber sie konnte sich nie gut entscheiden. War immer ihr Problem. Wollte sich nicht festlegen.«
»Es gab aber keinen anderen?«
Mutter Benzeler blickt mich an, ihre Augen sind rot und ertrinken. »Nina. Sie hat dich immer vermisst, weißt du.«
Ich starre sie an. Ich kann nicht wegsehen.
»Das hat sie oft zu mir gesagt: Es sei einfach nicht mehr dasselbe ohne dich.«
Dann stehen wir irgendwann draußen. Rauchend glotze ich die Alles-in-Ordnung-Allee hinab. »Ich sollte hierbleiben. Sollte ihnen …« Aber ich kann nicht, spiele mit meinem Therapie-Gummiband am Handgelenk, will meine Atmung beruhigen. Und mein Hirn.
Schröter versucht zu retten, was zu retten ist. »Den Schnaps hättest du rein nach Vorschrift nicht trinken dürfen.«
Habe ich?! Anscheinend. Ich weiß echt nichts mehr. »Ich brauch ein Bier.«
»Wir müssen in ihre Wohnung.«
»Ich habe keinen Bock!«
Er zieht die Augenbrauen nach oben wie mein Religionslehrer damals.
Ich bin hier die Vorgesetzte, verdammt! Auf Professionalität darf nur ich mich berufen.
»Verstehe, wer das Opfer war, und du erkennst, wie dein Täter ist.«
»Wo du immer diesen Mist hernimmst, Schröter.«