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Anpfiff –
daran gewöhnt man sich nie

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Ich mag Sonntagsleichen.

Aber nur, wenn der Anruf auch sonntags kommt! Muss ich mich wenigstens nicht den ganzen Tag langweilen, kackbanale Chats führen und mich mit dem Nachbarn streiten. Nur weil der sich wieder aufregt, dass ich auf dem Balkon eine rauche.

Aber Montagfrüh! Alter, das geht gar nicht.

»Sie liegt dort drüben im Gebüsch«, informiert uns der junge Streifenpolizist, der gerade das Absperrband befestigt. Wandernde Schneemänner im Grün. Die weißen Overalls wirken deplatziert in diesem frühlingshaften Stück Wald. Das Albstadion ist nur 200 Meter entfernt und doch kaum zu sehen. Mein Kaffee-to-go in der linken Hand ist das einzig Warme. 6 Uhr, der feuchte Aprilnebel sieht aus wie unordentlich über das Feld geworfen.

Ist es wirklich schon sieben Jahre her, seit ich hier oben war? Damals. Und das nur, um innerlich damit abzuschließen. Einen Schlussstrich zu ziehen. Weil der Polizeipsychologe es für wichtig hielt. Dieser Arsch. Als ob das irgendwas geändert hätte. Auf dem »Berg der Ehre«. Dem Schlossberg.

Ja. Ich war 35 damals.

Das Erste, was ich von ihr sehe, sind nackte Beine; Laubblätter kleben daran. Sie hat nur einen Schuh an. Knallroter Nagellack. Abgeplatzt. Warum trägt sie keine Socken in Turnschuhen? Ein Schneemann der Spurensicherung schießt Fotos von allen Seiten. Sie liegt auf dem Rücken, die Hände auf dem Bauch. Als würde sie schlafen. Kurze Jeanshosen, sehr kurz. Blut, viel Blut an den Beinen. Dann sehe ich das zerfetzte rot-blaue Shirt, noch mehr Blut, Tattoos, bekannte Motive, den Seidenschal, die blutverklebte blonde Mähne und dann … Scheiße.

Es wirft mich unmittelbar zurück. In eine verlorene Zeit. Kurz bin ich ganz woanders, ringe nach Luft. Der Weißkittel macht noch immer Fotos, und ich möchte es ihm am liebsten verbieten. Nein. Eigentlich will ich ihm seine Scheißkamera aus den Händen reißen und sie ihm in die Fresse hauen. Mein Psychoonkel wird sich freuen, wenn ich ihm das nächste Mal davon erzähle.

»Identität?«, fragt Schröter und holt mich wieder in die Gegenwart.

»Katrin. Katrin Benzeler«, sage ich und Schröter starrt mich an. »32 Jahre alt.«

»Du kennst sie?«

»Ich kannte sie.«

»Schon klar, Nina«, meint Schröter, der sich ebenso krampfhaft an seinem Kaffeebecher festhält wie ich. Mein ultrakorrektes Arztsöhnchen aus Norddeutschland ist kein Morgenmuffel. Aber diese Zeit scheint selbst für meinen neuen Partner Frederick Schröter zu früh.

»Nein. Ich meine: Es ist schon Jahre her, dass wir uns kannten. Damals war ich noch jeden Sonntag auf dem Platz. Hier oben in der Voith-Arena oder beim Auswärtsspiel.«

»Verstehe.«

In meinem Kopf türmen sich Bilder, matt, wie hinter schmutzigem Glas. Brüllende Menschen in bunten Trikots, brennende Leidenschaft und bengalische Schlachtrufe. Mein Gott. Ferne Zeiten völlig nah.

»Sie gehört zu den Societas. Den weiblichen Ultras. Wir haben sie Cat genannt.«

»Ultras«, wiederholt Schröter, der, das weiß ich schon, von Fußball so viel Ahnung hat wie ich vom Wäschewaschen.

»Daran gewöhnt man sich nie, oder?«, meint der weiße Tatort-Paparazzo, der näher zu uns getreten ist und sich hinkniet, um ein Foto von Cats rechtem Fuß zu schießen. Fällt mir schwer, sie bei ihrem Spitznamen zu nennen. Ich möchte sie zudecken, ihr Schutz geben. Ein bisschen Abstand schenken von fremden Leuten. Cat … Katrin wenigstens das bisschen Würde schenken, welches sie verdient hätte, das doch jedem Menschen zustehen sollte, wenn er seinen letzten Weg angetreten hat. Stattdessen lichtet der Paparazzo ihren zerschundenen Leichnam ab. Zentimeter für Zentimeter. Hochauflösend. Das Stück menschliches Fleisch, in dem meine Cat einmal drinsteckte. Und ich spüre, wie Wut in mir aufsteigt. »Brutalstfoul«, meint er. Das macht es nicht besser. Jetzt möchte ich ihm tatsächlich die Fresse polieren. Scheiße, Katrin!

»Guten Morgen, Frau Schätzle«, sagt in diesem Moment eine bekannte Stimme hinter mir.

»Du sollst mich nicht so nennen, Berti«, erwidere ich Robert Heinzel. Er ist der Leiter der Spurensicherung. Der Ton verrutscht mir. Bei normalen Leichenfunden geht mir das Herz auf, wenn ich Berti sehe. Mein SpuSi, wie ich ihn für mich gerne nenne. Jetzt aber … Berti blickt auf Katrin hinab, lange, dann sieht er zu mir auf. »Haben sie entsetzlich zugerichtet, unsere Cat.«

Ich weiche seinem Blick aus. Warum spricht er im Plural?

Ihr Gesicht hat kräftige Blessuren, der Körper ein paar blaue Flecken. Aber ich benötige keinen Fachmann, um die Todesursache zu erkennen. Es wurde mehrfach auf sie eingestochen. Ich spiele mit meinem Fingerstummel. Mir fehlt an der linken Hand das letzte Glied des kleinen Fingers. Wenn die Leute fragen, sage ich immer, es war ein Unfall. War es ja auch irgendwie. Ist eine längere Geschichte. Jedenfalls knete ich oft auf ihm herum, wenn ich ins Grübeln komme. Als »stummeln« bezeichne ich es gern.

»War das Staging genau so?«

»Wie bitte, was?«, kommt mir Berti zuvor.

»Wurde sie genau so gefunden?«, korrigiert sich Schröter, und ich bin dankbar dafür, dass mein junger Kollege die Führung übernimmt. Auch wenn es eindeutig noch zu früh ist für die geschwollene Ausdrucksweise meines norddeutschen Partners. Ich muss das erst mal verarbeiten.

»Nicht ganz«, erklärt mein SpuSi. »Der Schal war ausgebreitet über ihr Gesicht gelegt.«

Schröter nickt nachdenklich, bekommt diesen Blick, den ich schon von ihm kenne. Sein Tatortscanner beginnt zu arbeiten. Versuch dich zu konzentrieren, Nina!

»Also gut, Schröter. Beeindruck mich mit deiner Weisheit«, taste ich mich ungelenk an einen normalen Tonfall heran. Er reagiert nicht. In ihm läuft bereits sein Programm. Er ist gerade mal 35, noch nicht lange bei der Kripo, und ich weiß nicht, woher er das hat, aber er ist extrem gut im Lesen eines Tatorts. Nur wirft er dann immer mit solchen Fremdwörtern wie »Staging« um sich, was irgendwann anstrengend wird. Besonders um diese Uhrzeit. Ganz besonders bei dieser Toten.

»Frage dich, wie der Täter den Leichnam ansah«, doziert er grübelnd. Das meine ich: Er gibt schlaue Sprüche von sich, die fast philosophisch klingen. Kämen sie aus dem Mund eines alten Mannes mit weißem Bart, würde ich jedes Mal zu Boden sinken vor Demut. Aber sie stammen eben von Schröter.

»Und?«

»Jedenfalls wurde die Szene nachträglich verändert. Er hat das Gesicht des Opfers verdeckt. Das könnte darauf hindeuten, dass er es kannte. Könnte eine Art emotionale Wiedergutmachung sein. Er will es ungeschehen machen. Darauf deutet auch die schlafende Haltung hin. So lag sie sicher nicht unmittelbar nach der Tat da.«

»Klingt einleuchtend.«

»Wurde sie vergewaltigt?«

Ein Stich fährt mir durch den Hinterkopf.

»Bisher deutet nichts darauf hin«, antwortet Berti in bitterem Ton. Vermutlich schmerzt sein Kopf ebenso wie meiner.

Schröter glotzt wie eine Kuh auf dem Felde, brütet über der Szene wie Günter Netzer über der Spielanalyse. »Sieht das für euch nach einem geplanten Verbrechen aus?«

Wir blicken uns an, keiner sagt etwas. Ich bin noch nicht da. Definitiv.

»Ich glaube eher, es ist aus einer emotionalen Notlage heraus entstanden und wurde danach so für uns arrangiert.«

Emotionale Notlage. Ist es das nicht immer? »Vermutlich hast du recht«, antworte ich dem Tatortphilosophen trotzdem. »Mehrere Messerstiche. Er war wütend und ist danach selbst über seine Tat erschrocken. Dann hat er das Gesicht der Leiche verdeckt, um ihr nicht mehr in die Augen sehen zu müssen.«

Schröter nickt. »Könnte aber auch eine Anonymisierung sein. Vielleicht ging es gar nicht um sie als Person, sondern darum, eine beliebige Frau zu töten oder einen zufälligen Fan.«

»Du meinst eine symbolische Tat: einen Heidenheim-Fan.«

»Genau. War gestern ein Spiel hier?«, fragt Schröter, und ich und Berti glotzen ihn ungläubig an.

»Ist nicht dein Ernst, oder?«, schnarre ich. »Gestern war DFB-Pokal, gegen Aalen.«

Schröter sieht mich an, als hätte ich Nostradamus zitiert. »Und?«

Ich wende mich flehend an Berti, und er springt für mich ein. »Wir haben die Aalener 4:1 verdroschen.«

Danke. Aber Schröter kapiert noch immer nicht.

»Die Aalener und Heidenheimer sind sich spinnefeind. Zwischen denen gibt es von jeher böses Blut. Und wenn die hier 4:1 untergehen, dann kochen die Emotionen hoch.«

Jetzt lichtet sich der Nebel bei Schröter. »Ach so. Okay.«

»Na endlich«, rutscht es mir heraus, und Schröters Gesicht verzieht sich.

»Benimm dich, Nina«, meint Berti mit einer Tüte in der Hand. »Ihr Handy. Zertrümmert.«

»Todeszeitpunkt?«, frage ich ihn.

»Muss kurz nach dem Spiel gewesen sein.«

Wäre kaum drauf gekommen. Manchmal kann ich mich einfach nicht beherrschen.

»Moment mal«, sagt Berti und kniet sich neben Katrin. »Da steckt etwas.« Er beugt sich über ihr Gesicht, nimmt seine Pinzette und zieht ein Stück festen Stoff aus ihrem halb geöffneten Mund. »Ein Heidekopf-Emblem.«

Wieder der Gedanke: so viel Nähe zu einem toten Menschen, der geliebt wurde. Das ist einfach nicht richtig. Wenngleich es sich bei Berti anders verhält. Er kannte Cat und mochte sie sehr. Das macht es ein wenig besser.

Er lässt das Emblem in eine Plastiktüte fallen. »Vermutlich von ihrer Kleidung abgerissen.«

»Das klingt fast wie eine symbolische Degradierung«, brütet Schröter. »Auch wenn in dem Abreißen irgendwie Wut steckt.«

Ich mustere ihn. »Du siehst echt zu viele amerikanische Serien, Schröter.« Er antwortet mir nicht, und ich frage in die Runde: »Wer war gestern hier?« Drei Streifenpolizisten heben den Arm. »Wer nicht dienstlich, sondern im Block?« Alle drei lassen ihre Arme wieder sinken.

»Ich«, erklärt in diesem Moment Berti.

»War eigentlich klar. Ist irgendetwas vorgefallen in der Kurve?«

»Was denkst du, bei diesem Ergebnis? Die Fanatico Boys haben natürlich aufgedreht. Die Fans der anderen auch. Schätze, es waren 300 bis 400 Ultras auf beiden Seiten.«

»Aalener Crew Eleven.«

Berti nickt.

»Schweinskopf-Parolen?«

»Klar. Die skandierten die Aalener schon vor dem Stadion, beim 0:1 gegen uns auch, später, als es 3:1 für uns stand, noch viel lauter und verbissener. Und auf dem Rückweg zum Bahnhof.«

»Wie viele von uns waren im Einsatz?«

»Zwei Hundertschaften«, informiert mich einer der Kollegen von der Seite.

Klar. »Hochrisiko-Spiel.« Allen ist im Voraus bewusst, wie es dabei zugeht.

»Wir hatten die Lage im Griff«, erklärt der Kollege weiter. »Die Blöcke waren gut separiert. Nach dem Spiel gab es einige Ausbruchsversuche, die Sonderkräfte konnten dies aber unterbinden. Außer der üblichen Randale im Zug und einiger unkontrollierter Bengalos am Bahnhof ist nichts weiter vorgefallen.«

»Bis auf die drei Schwarzen, die sich in die Ost geschlichen hatten«, wirft Berti ein und ich sehe ihn an. Die Schwarze Elite der Aalener.

»Die Ost?«, fragt Schröter.

»Mensch, Schröter. Die Osttribüne, wo die heimischen Ultras stehen.«

»Die drei Aalener haben sich hinübergemogelt«, erklärt Berti, »und einen Schweinskopf an die Wand gesprayt. Das warf aber keine Wellen mehr, weil der Ausgleich fiel. Und beim 2:1 inszenierte Katrin ihren großen Auftritt.«

»Was meinst du?«

Bertis Augen funkeln. »Hättest du sehen müssen: Es steht 1:1, und wir bekommen in der 71. Minute einen Elfmeter. Schnatti, der Kapitän, schießt, trifft den Ball nicht richtig, und der Aalener Torwart, der Italiener Brunelli, ist gut, kommt ran. Aber der Ball kullert trotzdem langsam hinter die Linie. 2:1, mit viel Dusel. Und Katrin springt auf die Balustrade, entreißt dem Capo der Fanaticos das Megafon. In dem Moment hält die Stadionkamera auf sie, und sie realisiert, dass sie auf der Großleinwand zu sehen ist. Sie reißt ihr T-Shirt hoch und auf ihren nackten Brüsten ist ein Stinkefinger gemalt, und darunter steht: ›Fuck you, Aalen!‹ Dann brüllt sie durchs Megafon: ›Fuck you, Aalen! Fuck you, Aalen!‹ Und die Menge tobt und brüllt mit.«

»Scheiße.« Die Katrin. Oh Mann.

»Nina. Keine Kontamination bitte«, weist mich Berti zurecht.

Erst jetzt bemerke ich, dass ich meine Kippenschachtel und das Feuerzeug in den Händen halte. »Sorry.«

Ich sehe auf das Emblem in der Plastiktüte, dann auf Cat hinab; Schröter und Berti auch. Der Philosoph spricht das aus, was wir alle denken: »Hat ihr jemand das Maul gestopft?«

Blutgrätsche

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