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Tagsüber war es drückend schwül, so daß empfindliche Leute Kopfschmerzen bekamen. Am späten Nachmittag strömte eine Kaltfront aus Norden ein und schob die warmen Luftmassen gegen die Berge des Thüringer Waldes. Am frühen Abend entlud sich ein heftiges Gewitter. Erst quirlten Windböen kleine Schaumkronen auf das Wasser der Saale; dann drückten schwere Regengüsse das noch nicht abgeerntete Korn auf den Feldern platt; dann fuhr der Sturm in die hohen Fichtenwälder, und an der »Staatsgrenze West« spaltete ein Blitz eine meterdicke deutsche Eiche – nicht weit vom Minengürtel entfernt.

Ebenso schnell, wie es gekommen war, legte sich das Unwetter. Blitz und Donner zogen über die Berge ab. Zurück blieb ein blanker, fast wolkenloser Himmel. Jetzt, eine Stunde vor Mitternacht, ist es sternenklar. Ein schmaler Mond hängt über der kleinen Stadt Pößneck in Thüringen.

In einem Haus in der Tuchmacherstraße haben an diesem 15. September zwei Männer gespannt die Entwicklung des Wetters beobachtet und die Vorhersagen in Radio und Fernsehen verfolgt. Zuletzt meldet der »Zentrale Wetterdienst Potsdam« die weiteren Aussichten für die Deutsche Demokratische Republik: »Am Rande eines skandinavischen Tiefdruckgebietes wird weiterhin kalte Meeresluft polaren Ursprungs in unser Gebiet geführt. Bei klarem Himmel gehen die Temperaturen nachts bis auf drei Grad zurück. In Bodennähe kann örtlich leichter Frost bis minus zwei Grad auftreten ...«

Der eine Zuhörer sagt: »Das hört sich doch prima an. Ich glaube, heute Nacht kann es endlich losgehen.«

Der andere antwortet: »Es sieht gut aus, aber laß uns lieber noch mal den Wind kontrollieren.«

Die beiden Männer ziehen festes Schuhwerk und Pullover an, bevor sie das Haus verlassen. Der eine trägt eine braune Kunstlederjacke, der andere eine graue Windjacke. Sie fahren in einem blauen Wartburg mit weißem Dach, ostdeutsches Kennzeichen NK-9743, durch stille Straßen aus der Stadt hinaus und weiter über eine schmale Landstraße in Richtung Süden. Ein gleichmäßiger Wind hat die Fahrbahn schon wieder trocken gefegt. Hinter den Ortschaften Wernburg und Ludwigshof biegen sie nach links in einen holprigen Schotterweg ab. Im zweiten Gang kriecht der Wartburg die Bahrener Höhe hinauf. Unterhalb dieser 600 m hohen kahlen Bergkuppe erlöschen die Scheinwerfer des Wagens.

Die beiden Männer steigen aus und gehen die letzten Meter zu Fuß gegen einen starken, aber nicht stürmischen Wind an. Dann blicken sie über das in blasses Sternenlicht getauchte Land zu ihren Füßen. Im Nordwesten, in knapp 30 km Luftlinie, können sie noch den Widerschein der Lichter von Weimar erkennen. Genau im Norden, gut 20 km entfernt, liegt Jena. Rechts daneben, im Nordosten, die Bezirksstadt Gera. Im Süden sind nur vereinzelte Lichtpunkte auszumachen; sonst zeichnet sich in dieser Richtung nur dunkle Landschaft unter dem helleren Himmel ab, sanfte Höhenzüge, Wälder und Felder – das südliche Grenzgebiet der Deutschen Demokratischen Republik.

Der Mann mit der Kunstlederjacke befeuchtet seinen rechten Zeigefinger mit Spucke und hält ihn prüfend hoch. Der andere wirft ein paar helle Wollfäden in die Luft. Beide beobachten im Schein einer Taschenlampe, in welche Richtung die Fäden davongetrieben werden. Dann leuchten sie auf einen einfachen Kompaß. Der Wind weht aus Nord-Nord-Ost nach Süd-Süd-West – genau in Richtung Bundesrepublik Deutschland. Die Windgeschwindigkeit, so schätzen die beiden Männer, beträgt etwa 30 bis 40 Stundenkilometer. Sie sind mit ihrem Test zufrieden. Der mit der Kunstlederjacke sagt: »Vom Startplatz aus müßten wir nach 20 bis 30 Minuten Flugzeit drüben sein.«

Es ist kurz vor Mitternacht. Ein ganz gewöhnlicher Sonnabend geht in beiden Teilen Deutschlands zu Ende, keine besonderen Vorkommnisse in Ost und West.

Nachrichten aus der Bundesrepublik: Der deutsche Fußballmeister HSV schlägt den 1. FC Kaiserslautern im Spitzenspiel der Bundesliga mit 1:0. – Wirtschaftsminister Graf Lambsdorff sieht »keine Gefahr für das wirtschaftliche Wachstum der Bundesrepublik«. – Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz Josef Kardinal Höffner hat »erneut die Auffassung bekräftigt, daß der legale Schwangerschaftsabbruch als Mord anzusehen ist«. – Die »Bild«-Zeitung berichtet auf ihrer ersten Seite über einen Einbruch in die römische Luxusvilla des Filmstars Claudia Cardinale und über einen Auftritt des Künstlers Hardy Krüger in der Münchner Nachtbar »Intermezzo«; der habe dort im Suff ein »schweres Silbertablett mit Getränken auf die beleuchtete Tanzfläche« geschleudert.

Nachrichten vom Tage aus der Deutschen Demokratischen Republik: Das »Neue Deutschland«, das »Organ des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei«, meldet auf der ersten Seite: »Leonid Breschnew besucht die DDR zum 30. Jahrestag.« – Der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, überbrachte »zum Tag der Werktätigen des Bereiches der haus- und kommunalwirtschaftlichen Dienstleistungen« seine sozialistischen Grüße und Glückwünsche. – Auf Seite zwei steht, »der Bürger der BRD Bernhard Twiehoff« sei als »Grenzverletzer« festgenommen und »zur Prüfung der näheren Umstände den zuständigen Organen« übergeben worden. – Der Vorsitzende des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, und der Vorsitzende des Ministerrates der DDR, Willi Stoph, gratulieren dem Generalgouverneur von Papua-Neuguinea Sir Tore Lokoloko zum Nationalfeiertag. – Im Spitzenspiel der DDR-Fußballoberliga schlägt an diesem Sonnabend der FC Carl-Zeiss-Jena den 1. FC Magdeburg mit 3:2.

Es ist schon nach Mitternacht, schon Sonntag der 16. September, als der blau-weiße Wartburg von der Bahrener Höhe zurück in die Stadt Pößneck fährt. Am Steuer sitzt der Mann mit der Kunstlederjacke: Peter Strelzyk, 37 Jahre alt, früher Luftfahrtmechaniker, zuletzt selbständiger Elektromonteur, verheiratet, zwei Kinder. Der Mann auf dem Beifahrersitz ist Günter Wetzel, 24 Jahre alt, Maurer und Kraftfahrer von Beruf, auch verheiratet, ebenfalls zwei Kinder.

Die beiden Männer sind schweigsam und nachdenklich. Aufmerksamer als sonst – so werden sie später erzählen – betrachten sie im Vorüberfahren die vertrauten Straßen und Gebäude ihrer Heimatstadt. Am Ortseingang erfassen die Scheinwerfer das Schild »Pößneck grüßt seine Gäste«. Wenig später fällt schwaches Laternenlicht am grauen Gebäude der SED-Kreisverwaltung auf den Leitspruch der Partei: »Vorwärts unter dem Banner von Marx, Engels und Lenin.«

Die Straßen der Innenstadt sind um diese Zeit menschenleer. In den Schaufenstern brennt kein Licht. Selten kommt ihnen ein Auto entgegen. Nur im »Café Dittmann« hinter dem »Hotel Posthirsch« ist noch was los. Hier schwingt wie immer in der Nacht zum Sonntag die reifere Jugend das Tanzbein, diesmal zu den fröhlichen Klängen einer Kapelle, die sich »Dance« nennt.

Als sie am Marktplatz und am »Kaffee Neubert am Markt« vorüberkommen, denkt Peter Strelzyk daran, daß er hier zum erstenmal einem Lehrmädchen namens Doris nähergekommen ist. Die Kapelle spielte »Tanze mit mir in den Morgen«. Nun sind sie bald 16 Jahre verheiratet.

Am gotischen Rathaus fällt Günter Wetzel ein, daß hier im Standesamt seine »sozialistische Eheschließung« vollzogen worden ist. »Petra hatte sich zur Hochzeit ein teures weißes Kleid mit Blumenstickereien machen lassen, dafür waren unsere Ringe billiger, die sind aus Golddoublé und haben 35 Mark das Stück gekostet.« Die Hochzeit war vor fast sechs Jahren. Nun ist ihr Sohn Peter schon fünf Jahre alt, der kleine Andreas wird zwei. Er sagt: »Komisch, daß man in solchen Situationen plötzlich an solche Sachen denkt«.

In dieser Nacht soll wahr werden, wofür sie gearbeitet, ihr Geld geopfert und hohe Gefängnisstrafen riskiert haben:

Die beiden Männer werden in dieser Nacht ihr Leben aufs Spiel setzen und das ihrer Frauen und Kinder – sie wollen mit dem Wind nach Westen.

Mit dem Wind nach Westen

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