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Die erste Wohnung der Eheleute Doris und Peter Strelzyk ist zwölf Quadratmeter groß, ein Zimmer mit Handspülbecken. Das Klo ist unten auf dem Flur. Ihr Sohn Frank muß sein erstes Lebensjahr in dieser Enge verbringen. Peter Strelzyk rennt von einer Behörde zur anderen, vom Betriebsleiter zum Rathaus und zur Partei, um eine größere Wohnung zu bekommen. Immer vergebens, immer hört er dieselbe Antwort: »Sie sind doch nicht in der Partei, Herr Strelzyk! Da sind noch viele Genossen vor Ihnen dran, die brauchen ebenso dringend eine größere Wohnung.«

Da habe er zum ersten Mal »eine richtige Wut« auf diese Funktionäre bekommen, sagt der junge Familienvater. Er habe es in »diesem dunklen Loch« nicht mehr aushalten können. Schließlich drohte er, sich mitsamt seiner Familie in einem Zelt auf dem Marktplatz von Pößneck als Wohnungs-Notleidender zur Schau zu stellen. Er ging zur Lokalzeitung »Volkswacht« und kündigte diese Protest-Aktion an. »Daraufhin kam ein humorlos dreinschauender Mann zu uns und sagte, wenn ich Ärger mache, würden sich ›andere Organe‹ um mich kümmern – also der Staatssicherheits-Dienst.«

Eines Tages habe er doch nachgegeben. »Ich habe das Aufnahme-Formular für die SED unterzeichnet, das sie mir ständig unter die Nase gehalten haben.« Wenige Wochen später klappt es bereits: Die Eheleute Strelzyk können eine Wohnung in der Pößnecker Friedrich-Engels-Straße beziehen, gleich unter dem Dach. »Eine Bruchbude war das«, erinnert sich Peter Strelzyk, »aber man konnte was draus machen.« Drei Jahre später, 1970, wird im ersten Stock desselben Hauses eine größere Wohnung frei. »Da habe ich eine richtige Komfort-Wohnung draus gemacht – für DDR-Verhältnisse. Ich habe tapeziert, habe Toilette, Bad und Gaszentralheizung eingebaut, sogar den alten Kamin habe ich wieder in Betrieb gesetzt.«

Nach vier Jahren bekommen die Strelzyks ein zweites Kind. Andreas wird der Junge genannt. Für die nun vierköpfige Familie ist es in der Wohnung zu eng, und da das Haus direkt an einer viel befahrenen Durchgangsstraße liegt, hat die Mutter ständig Angst, wenn die Kinder draußen spielen. Peter Strelzyk – im VEB Polymer inzwischen auf der Karriereleiter und in der Gehaltsstufe nach oben geklettert und als SED-Mitglied mit guten Beziehungen ausgestattet – sieht sich nach einem eigenen Haus um. Etwas außerhalb sollte es gelegen sein, und einen Garten für die Kinder sollte es haben. 1975 klappt es.

Am Altenburgring finden sie ein älteres, aber noch solides Haus, Baujahr 1930. Sie kaufen es für nur 8300 Mark, den Einheitswert von 1914, von der kommunalen Wohnungsverwaltung. Peter Strelzyk erklärt: »Es ist bei Altbauten in der DDR so üblich, daß der alte Taxwert noch heute gilt. Das ist schon sehr günstig drüben.« Mit einem Renovierungs-Kredit von 30000 Mark und mit viel Eifer und Eigenarbeit macht Peter Strelzyk aus »der alten Bruchbude ein Schmuckkästchen«. Freunde helfen ihm dabei. »Wir haben mit dem Hammer erst mal die Wände rausgehauen, um größere Räume zu bekommen.« Neue Wände werden hochgezogen, eine Kohle-Zentralheizung wird gebaut, ein neues Bad, eine neue Toilette. Ein Teil des Kellers wird Garage mit einer schrägen Einfahrt. Alles in allem ziehen sich die Renovierungsarbeiten über Jahre hin. Es gibt immer wieder Lieferschwierigkeiten bei den Materialien. Mal ist wochenlang kein Tapetenkleister zu haben, dann gibt es jahrelang keine Fliesen fürs Bad. Die Badewanne hat zwei Jahre Lieferzeit. Der Tischler, der die Haustür nach Maß machen soll, sagt, es würde etwa zwei bis drei Jahre mit der Fertigstellung dauern, so lange sei er ausgebucht.

Dennoch – die Strelzyks sind stolz auf ihr kleines Wirtschaftswunder. »Nach und nach haben wir uns auch neue Sachen angeschafft. Eine Schrankwand fürs Wohnzimmer, Polstermöbel in Goldgelb und in Rot, eine Stereo-Anlage und ein Schwarz-Weiß-Fernsehgerät.« Die Wohnzimmerwände täfelt Peter Strelzyk mit wärmedämmenden Kunststoff-Schaumplatten. »Die waren nicht billig, die haben 13,90 Mark das Stück gekostet, und auf einen Quadratmeter gehen neun Platten, und ich hatte 16 Quadratmeter zu vertäfeln.« Gleich links neben der Tür stand das Prachtstück des Wohnzimmers, ein Kamin. »Den habe ich mit weißen Riemchensteinen verkleidet, aber leider durfte ich ihn nicht in Betrieb setzen, denn es hätte wegen der Mischung mit anderen Gasen Explosionsgefahr im Schornstein bestanden.«

Durch die Prämien, die er für seine Verbesserungsvorschläge im Betrieb bekommt, reicht es sogar zur Anschaffung eines zehn Jahre alten, gebrauchten »Moskwitsch«. Die Ehefrau Doris verdient als Sachbearbeiterin in der Kreissparkasse Pößneck ja auch noch vier- bis fünfhundert Mark im Monat dazu. Wie es in der DDR üblich ist, werden ihre Kinder zuerst in der Kinderkrippe und später im Kindergarten betreut, und schließlich besuchen sie die Ernst-Tählmann-Schule.

Die Strelzyks haben es zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Ihre Straße, der Altenburgring, gilt als gute Adresse in Pößneck. Hier wohnen geachtete Bürger, Leute, die in der Kleinstadt-Hierarchie etwas gelten. Die Nachbarn sind meist stramme SED-Genossen, drei Mitglieder des Kreisrates wohnen in den Häusern zur Linken, gegenüber ist das Haus eines früheren Bürgermeisters, daneben lebt ein Gewerkschaftsfunktionär vom FDGB, dem »Freien Deutschen Gewerkschaftsbund«. Dann ist da noch die Station der Volkspolizei, und gleich um die Ecke, in der Körnerstraße, wohnen der Betriebsleiter des VEB Polymer und der für Peter Strelzyks Partei-Kollektiv zuständige Sekretär der Sozialistischen Einheits Partei, Kreisleitung Pößneck.

Trautes Eigenheim, ausgeglichenes Familienleben, Erfolg im Beruf – eigentlich hätten die Strelzyks rundherum zufrieden sein können. Doch dann macht Peter Strelzyk, wie er es nennt, einen Fehler, »den man unbedingt vermeiden muß, wenn man das Leben in der DDR ertragen will«.

Er habe angefangen, sich intensiver für Politik zu interessieren. Er vergleicht die reine kommunistische Lehre von »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« mit der Wirklichkeit in der DDR. Er mißt die ständige Propagandaberieselung von immer neuen Erfolgen im sozialistischen Wirtschaftswettbewerb, von der angeblichen Steigerung des Lebensstandards an der Realität des Alltags. Er kommt zu der Erkenntnis: »Gerade in den letzten Jahren ist es nicht besser, sondern eher schlechter geworden. Es gab immer größere Versorgungsschwierigkeiten, die Preise stiegen, und besonders der Spielraum für eigene Gedanken und Meinungen wurde immer mehr eingeengt.«

Peter Strelzyks Zweifel am gleichgeschalteten Leben in der DDR wächst sich schließlich zur Verzweiflung aus. »Es ist auf die Dauer unerträglich, wenn man immer nur das nachplappern darf, was die Partei erlaubt.« Er sieht die Verhältnisse in der DDR anders als die prominenten Systemkritiker, anders als die Intellektuellen Robert Havemann, Wolf Biermann und Rudolf Bahro – der »Verdiente Aktivist« Strelzyk kritisiert den Zustand des ersten deutschen Arbeiter- und Bauern-Staates aus der Perspektive des total verwalteten Werktätigen. »Was mich zuerst gestört hat, waren diese billigen Propaganda-Lügen, diese Schwarz-Weiß-Malerei, nach der bei uns alles gut und im Westen alles schlecht ist.«

Peter Strelzyk erinnert sich an Episoden aus seiner Kindheit und aus seiner Jugendzeit. »Da war zum Beispiel die Geschichte mit den Kartoffelkäfern, als ich noch zur Schule ging. Das war Anfang der 50er Jahre, ich war wohl zehn oder elf Jahre alt. Da hat man uns in der Schule beigebracht, die Amerikaner hätten aus Flugzeugen Kartoffelkäfer auf das Gebiet der DDR abgeworfen, um unsere Ernte zu vernichten. Wir sollten diese ›feindlichen Käfer‹ wieder einsammeln, um die Ernte zu retten.« Wahrscheinlich, so meinte er, hatten die Funktionäre das nur erfunden, um den Arbeitseifer der Schüler anzustacheln. Dennoch – die ersten Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Lehrer und Funktionäre waren geweckt.

Als Jugendlicher hat Peter Strelzyk andere Schlüsselerlebnisse. »Ich war Lehrling und hatte gerade eine neue Nietenhose aus dem Westen bekommen, ein kostbares Geschenk, das ich stolz meinen Freunden vorführte. Wir standen in einer Gruppe von jungen Leuten auf dem Marktplatz in Pößneck, als einige Volkspolizisten herankamen, uns als ›Halbstarke‹ beschimpften und mit zur Wache schleppten. Dort wurden die westlichen Markenzeichen aus unseren Hosen herausgetrennt.«

Damals, Ende der 50er Jahre, sei in der DDR der streichholzkurze »Ami-Haarschnitt« verboten gewesen. Ein paar Jahre später, zur Zeit der Beatles, wurden langhaarige Jugendliche von der Vopo festgehalten und mitten auf dem Marktplatz auf bereitstehende Stühle gesetzt. Dann seien zwei Friseure gekommen und hätten ihnen die langen Haare kurzgeschnitten. »Die Leute standen schweigend herum«, erzählt Peter Strelzyk, »kaum einer hat etwas gesagt. Die meisten fanden dieses Schauspiel offensichtlich entsetzlich, diese brutale Demonstration staatlicher Gewalt. Ein älterer Mann sagte laut: ›Das sind doch Nazi-Methoden.‹ Er wurde davongejagt.«

Während seiner Ausbildungszeit bei der Volksarmee und schließlich im Beruf seien ihm die ständigen Versammlungen, Veranstaltungen und Kundgebungen der SED, bei denen Erscheinen Pflicht war, »ganz schön auf den Wecker gefallen«. Peter Strelzyk sagt: »Ich habe schließlich geradezu allergisch auf Worte wie ›Kampfziel, Kollektiv, Brigaden, freiwillige Plan-Übererfüllung‹ reagiert. Sozialismus«, so sagt er, »mag eine große und wichtige Sache sein, aber in der DDR wird dieses Wort so oft im Munde geführt und für jeden Quatsch mißbraucht, bis es einen üblen Beigeschmack bekommt.«

Nach einiger Zeit habe er so gelebt wie die meisten seiner Freunde und Kollegen in Pößneck – nach außen hin angepaßt, sogar arriviert, aber mit einer heimlich wachsenden Wut und mit vorsichtigem Widerstand. Immer häufiger habe er die an jedem zweiten Dienstag im Monat stattfindende Betriebs-Parteiversammlung geschwänzt, obwohl das Erscheinen »sozialistische Pflicht« gewesen sei. »Einmal bin ich rausgegangen, als der Parteisekretär zum x-ten Male verkündet hat: ›Um die Erfordernisse des Sozialismus zu erfüllen, ist es notwendig, unsere Produktionsanlagen weiter zu automatisieren, damit wir im friedlichen sozialistischen Wettbewerb den Wohlstand unserer sozialistischen Bevölkerung weiterhin heben können.‹«

Als ihm auf der Bühne des Pößnecker Kreiskulturhauses die Urkunde als »Verdienter Aktivist« überreicht wird, sei ihm »das ganze Brimborium drumherum schon peinlich gewesen«, sagt Peter Strelzyk. »Ich habe mich vor den Kollegen im Saal geschämt, weil die genau wie ich wußten, was das für ein Propaganda-Theater ist, das zu immer mehr Arbeit und zu immer weiteren Plan-Übererfüllungen anspornen soll. Ich bin mir da als komischer Held vorgekommen.«

Zusammen mit einer Handvoll Kollegen verläßt Peter Strelzyk 1968 aus Protest eine Betriebsversammlung der Partei, als dort der Einmarsch der DDR-Truppen in die Tschechoslowakei gerechtfertigt wird. Dann beschwert er sich energisch über gesundheitsschädliche Arbeitsbedingungen im VEB Polymer. »In einer Abteilung mußten sechs Frauen in einem fensterlosen Raum arbeiten, in dem hochgiftige Lackverdünnungen gelagert wurden.« Man habe ihm gesagt, das sei nicht so schlimm, er übertreibe furchtbar, daran könne der Betrieb nichts ändern – bis alle sechs Frauen mit Vergiftungserscheinungen ins Krankenhaus eingeliefert werden mußten.

Auch Peter Strelzyk wird krank. »Mir wurde die Gallenblase rausoperiert, und der Arzt sagte mir nachher vertraulich, daß ich ebenfalls über zu lange Zeit Giftstoffe eingeatmet hätte, weil wir über keine ausreichenden Entlüftungsanlagen verfügten.« Er habe sich auch jedesmal entmündigt gefühlt, wenn immer wieder das ganze Kollektiv oder die ganze Brigade oder der ganze Betrieb »freiwillig« schriftliche Planversprechungen an die Parteileitung abliefern mußte: »Lieber Genosse Erich Honecker, die Unterzeichnenden des VEB Polymer verpflichten sich auch in diesem Jahr wieder ...«

Schriftliche Distanzierungen von »Klassenfeinden« hätten genauso zum SED-Parteiprogramm gehört: »Die meisten von uns hatten noch nie etwas von Wolf Biermann gehört, aber wir mußten alle unterschreiben, daß wir sein Verhalten aufs schärfste verurteilen; ebenso war es später bei Rudolf Bahro.«

Wer sich weigert, wird nicht befördert, bekommt im Urlaub keine Reisegenehmigungen fürs sozialistische Ausland, erhält keine neue oder größere Wohnung. Trotz aller Verheißungen von einer Steigerung des Lebensstandards in der DDR gibt es heute eher mehr Versorgungsprobleme als vor einigen Jahren. Zum dreißigsten Jahrestag der Republik wird Spott verbreitet: »Früher ging es uns gut, heute geht es uns besser – wir möchten, daß es uns wieder gutgeht...«

Dreißig Jahre nach Kriegsende kommt es immer noch vor, daß kaum Socken oder Herrenunterwäsche, nur selten Fisch und nur wenig gutes Fleisch zu haben sind; Baumaterial ist oft nur mit Schmiergeld, und auch dann erst nach monatelangem Warten, zu bekommen.

Der gut verdienende »Verdiente Aktivist« fühlt sich um den Lohn seiner Arbeit betrogen: »Der Lohn ist doch so etwas wie eine Bescheinigung für geleistete Arbeit. Wenn ich diese Bescheinigung vorlege und dafür nicht das bekomme, was ich haben will, dann habe ich doch wohl umsonst gearbeitet.« Warum es eigentlich im Westen all das zu kaufen gäbe, was in der DDR noch immer Mangelware sei, habe er mal einen Parteifunktionär gefragt. Die verblüffende Antwort: »Die Kapitalisten lassen es den Arbeitern doch nur deshalb so gut gehen, damit die nicht merken, wie sie ausgebeutet werden.«

Mißmutig, immer mehr resigniert, vergräbt sich Peter Strelzyk in seine Arbeit. Wann immer er kann, drückt er sich vor offiziellen Veranstaltungen, auch vor der kollektiven Fröhlichkeit bei den beliebten bunten Abenden. Er meidet Gespräche im größeren Kreis, »weil es doch immer auf dieselbe optimistische Lobhudelei für das System hinausläuft«. Keiner traue sich, seine ehrliche kritische Meinung zu sagen. »Du weißt ja nicht, ob neben dir einer steht, der das dem Staatssicherheits-Dienst meldet oder der gar selber ein Mitarbeiter vom Stasi ist.«

Für ihn und seine Familie wird das Haus am Altenburgring zu einer Art Fluchtburg. »Wenigstens zu Hause konnte ich tun und lassen, was ich wollte, und offen aussprechen, was ich dachte.« Bei vielen seiner Kollegen hat Peter Strelzyk ebenfalls »einen systematischen Rückzug ins Privatleben beobachtet. Die ziehen die Wohnungstür hinter sich zu und schalten in der guten Stube das West-Fernsehen ein.«

In der kleinen Stadt Pößneck am Rande des Thüringer Waldes sind die hohen Fernsehantennen auf den Dächern auf »Westempfang« eingestellt. Der Blick durch die Mattscheibe in den anderen Teil Deutschlands ist für die meisten Qual und Verlokkung zugleich. »Es ist«, sagt Peter Strelzyk, »als ob man hungrig vor einem gedeckten Tisch sitzt und nicht ans Essen darf.«

Irgendwann – »Anfang 1975 muß es gewesen sein« – habe er zum erstenmal über Flucht gesprochen. »Ich weiß nicht mehr den Anlaß, ich habe jedenfalls zu Doris gesagt: ›Was hältst du davon, wenn wir in den Westen abhauen würden?‹«

Doris Strelzyk antwortet: »Du bist ja verrückt, jetzt, wo wir alles fast fertig haben ...? Und überhaupt, wie willst du das denn anstellen, mit den Kindern? Das geht doch überhaupt nicht!«

Peter Strelzyk sagt: »Ich weiß es auch noch nicht, aber wenn ich mir etwas vornehme, dann finde ich auch eine Lösung, das weißt du. Mir wird schon etwas einfallen.«

Doris Strelzyk schüttelt nach diesem Gespräch den Kopf und geht zu einem Fortbildungskurs ihres Betriebes, der Kreissparkasse Pößneck.

Die junge Frau glaubt, daß ihr Mann nur Spaß gemacht habe. Aber dennoch – sie ertappt sich dabei, daß sie an diesem Tag und in der nächsten Zeit oft an dieses Gespräch denkt. »Nach dieser ersten, eher beiläufigen Bemerkung von Peter habe ich auch zum erstenmal darüber nachgedacht, was das eigentlich für ein Unding ist: Da gibt es kaum 30 Kilometer von Pößneck entfernt ein anderes Deutschland, und wir dürfen da nicht hin. Unser eigener Staat hindert uns daran. Noch nicht mal anschauen dürfen wir uns, was da eigentlich anders ist als bei uns. Warum eigentlich nicht?«

Doris Strelzyk ist eine gepflegte junge Frau, schlank, schwarzhaarig, kaum Make-up, ein wenig Lippenstift, leicht nachgezogene Augenbrauen. Ihr Haar schneidet sie oft selber, »weil man sich beim Friseur in Pößneck endlos lange vorher anmelden muß«. Manchmal näht sie sich auch ihre Kleider selbst, nach Schnittmuster-Vorlagen, die Bekannte aus dem Westen mitbringen. »Das ändere ich dann immer ein bißchen nach meinen eigenen Vorstellungen ab.« Sie interessiert sich fürs Theater. »Die Zeit beim Arbeiter-Theater in Pößneck hat mir sehr viel Spaß gemacht.« Sie liest historische Bücher, zuletzt über die Bauernkriege, aber auch Krimis von Edgar Wallace. »Der Frosch mit der Maske« hat ihr am besten gefallen.

Bisher ist nicht viel Aufregendes im Leben von Doris Strelzyk geschehen. Ihr Vater, er war Schlosser im Stahlwerk Max-Hütte, hat dafür gesorgt, daß sie nach der Schule eine gute Ausbildung bekam. Sie machte eine kaufmännische Lehre und wurde Saehbearbeiterin bei der Kreissparkasse in Pößneck. Mit ihrer Arbeit ist sie zufrieden. Sie führt selbständig Konten, macht Zinsberechnungen, kommt gut mit Kollegen und Kunden zurecht. Ihr Lohn erscheint ihr allerdings manchmal niedrig. »Ich habe zwei Mark in der Stunde bekommen. Für diesen Stundenlohn kann man sich in der DDR eine Schachtel Zigaretten oder ein halbes Pfund Butter kaufen.«

Was sie besonders wurmt – ohne daß sie sich traut, darüber offen zu reden –, ist, daß männliche Kollegen »für genau dieselbe Arbeit fast das Doppelte erhalten«. Einerseits werde in der DDR immer wieder die völlige Gleichberechtigung der Frau proklamiert, andererseits gelte der Mann automatisch als »Haupternährer« und bekomme daher für dieselbe Arbeit viel mehr Lohn. »Komischerweise sind auch Junggesellen und nicht nur Familienväter im lohntechnischen Sinn ›Haupternährer‹.«

Eigentlich aber ist Doris Strelzyk mit ihrem Leben in der Kleinstadt Pößneck ganz zufrieden. Die Kinder sind schon aus dem Gröbsten heraus. Frank, der Älteste, macht sich sehr gut in der Ernst-Thälmann-Schule. Er ist technisch begabt wie sein Vater. In Mathematik und Physik bringt er immer Zweien nach Hause. In Russisch hat er eine Drei. Der Junge spielt Handball im Verein »Fortschritt Pößneck«, und bei den Blauhemden von der FDJ (Freie Deutsche Jugend) macht er auch mit. Er gehört zur Gruppe »Magnus Poser«.

Ihr jüngster Sohn, Andreas, hat auch schon die ersten Stationen sozialistischer Jugenderziehung durchlaufen. Er war als Kleinkind in der Kinderkrippe und später im Kindergarten. Er ist nervöser und hektischer als sein Bruder Frank. Eine Ärztin meint, das sei darauf zurückzuführen, daß er zu früh von der Mutter getrennt worden sei. Andreas ist unaufmerksam in der Schule, beim Fußballspielen paßt er besser auf. Er ist Außenstürmer der Knabenmannschaft von »Rotation Pößneck«.

Wenn Doris Strelzyk etwas an ihrem Leben stört, dann ist es der Gedanke, daß alles voraussichtlich so weitergehen wird wie bisher – und dabei ist sie doch noch eine junge Frau.

Bisher jedenfalls verlief in ihrem Leben ein Tag so gleichmäßig wie der andere: Um halb sechs aufstehen; Frühstück; Küßchen für den Ehemann; Klaps für die Kinder auf dem Weg zur Schule. Vor ein paar Jahren, als Andreas den Kindergarten besuchte, mußte sie noch früher raus und den Kinderwagen zwei Kilometer weit schieben, oft durch Regen, Eis und Schnee. Ihre Arbeit in der Sparkasse, eine Teilzeitbeschäftigung, dauert von sieben bis ein Uhr. Oft stehen nachmittags noch Schulungskurse auf dem Programm. In Pößneck gibt es nur ein Kino, und die Filme gefallen ihr nicht besonders. »Deswegen haben wir nach dem Abendessen doch meistens vor dem Fernseher gesessen.«

Den Urlaub verbringen die Strelzyks meistens in der Nähe, im Thüringer Wald oder an den Seen. »Oft haben wir gezeltet, das hat sehr viel Spaß gemacht.« An der Ostsee sind sie auch schon einmal gewesen, im Ausland noch nie. Der geplante Urlaub nach Jugoslawien mußte abgeblasen werden, sie bekamen keine Ausreisegenehmigung.

Am unangenehmsten ist für Doris Strelzyk – wie für die meisten Frauen in den Provinzstädten der DDR – das Einkaufen zum Wochenende. »Da stehen dann immer lange Schlangen vor den Geschäften. Oft wartet man stundenlang, besonders vor dem Fischladen oder beim Metzger, und wenn man dann endlich drankommt, ist die Ware gerade ausverkauft.« Doris Strelzyk sagt: »Alles, was ein bißchen über das Notwendigste hinausgeht, ist immer schwerer zu bekommen, es sei denn, man hat Westgeld – dann erhält man im Intershop am ›Hotel Posthirsch‹ alles, was das Herz begehrt. Aber wer hat schon West-Geld?«

Sie habe sich jedenfalls immer mehr für das Leben und die Verhältnisse in der Bundesrepublik interessiert. Doris Strelzyk unterhält sich intensiver als sonst mit Kollegen über den Westen. Sie fragt Besucher aus, die von drüben kommen. Sie sieht und hört beim Westfernsehen bewußter zu, »auch bei politischen und wirtschaftlichen Sendungen, und nicht nur bei Quiz-Sendungen und Spielfilmen«. Im Westfernsehen sieht sie auch Szenen von der deutsch-deutschen Grenze, vom hohen Stacheldrahtzaun, von den umgepflügten Minenfeldern und von den Selbstschuß-Anlagen. »Ich habe erschrocken daran gedacht, daß das ja nur dreißig Kilometer von Pößneck entfernt ist, und ich dachte wieder an das Gespräch mit Peter, daß er gesagt hat, er werde sich schon etwas einfallen lassen, um in den Westen zu kommen.«

Sie hatten jedoch längere Zeit nicht über das Thema gesprochen. Dennoch habe sie sich gelegentlich ein neues Leben im Westen vorgestellt. »Und«, so sagt Doris Strelzyk, »ich habe mich plötzlich gefragt, ob ich eigentlich Heimweh nach Pößneck haben würde, falls wir irgendwann einmal drüben leben sollten. Schließlich bin ich hier aufgewachsen, und Pößneck ist meine Heimat.«

Mit dem Wind nach Westen

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