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In der Tuchmacherstraße 22 warten die Frauen und Kinder. Sie haben in der guten Stube im ersten Stock im Westfernsehen den Spielfilm »Angélique« gesehen und danach in »Radio DDR I« die Musiksendung »Tanze mit bis Mitternacht« gehört. Die kleine Quarzuhr im Schrankregal zeigt bereits 0.30 Uhr, als die Männer von ihrem Ausflug zurückkommen.

Petra Wetzel brüht noch einmal Kaffee auf, »keinen Muckefuck, richtigen guten Bohnenkaffee aus dem Delikatess-Laden«. Für die großen Kinder, für den 15jährigen Frank Strelzyk und seinen elfjährigen Bruder Andreas, gibt’s Tee. Der fünfjährige Peter Wetzel bekommt heißen Kakao, und dem noch putzmunter zwischen den Erwachsenen rumlaufenden zweijährigen Andreas flößt Petra Wetzel dreißig Baldriantropfen zur Beruhigung ein, die sie zuvor in heißem Zuckerwasser aufgelöst hat, damit es nicht so bitter schmeckt.

Die Männer sprechen sich noch einmal Mut zu. »Eigentlich kann gar nicht viel schiefgehen«, sagt Peter Strelzyk. »Wenn sie uns schnappen, dann kommen wir eben alle für eine Weile ins Gefängnis, aber dann werden wir nach einiger Zeit bestimmt ausgetauscht. Die machen jetzt doch mit der Bundesrepublik diesen Menschenhandel auf Devisenbasis.«

Wie die Wetzels haben auch die Strelzyks ein eigenes Haus in Pößneck. Sie fahren ein eigenes Auto, sie besitzen ein Fernsehgerät, einen Kühlschrank und eine Waschmaschine. Sie gehören zum gehobenen Mittelstand der DDR. Bei der letzten Tasse Kaffee in der alten Heimat sagt Doris Strelzyk: »Manchmal frage ich mich doch noch, warum wir das alles aufgeben und abhauen – anderen geht es doch viel schlechter als uns.«

Ihr Mann Peter Strelzyk, der Wortführer der Gruppe, macht sich indessen schon Gedanken darüber, »wie ich denen drüben möglichst kurz und bündig klarmachen kann, warum wir es nicht mehr in der DDR ausgehalten haben«. Schließlich hat er seine Antwort-Formel gefunden. Er sagt: »Weil wir endlich als freie Menschen und nicht mehr länger als Eigentum eines totalitären Regimes leben wollen und weil uns die Zukunft unserer Kinder am Herzen liegt ...«

So oder ähnlich begründen die meisten der mehr als 180000 DDR-Flüchtlinge, die seit dem Bau der Mauer in der Bundesrepublik registriert worden sind, ihren Absprung in den Westen. Peter Strelzyk hat da nichts Neues zu bieten. Er hat keinen bestimmten Grund. Er ist nicht politisch verfolgt oder persönlich bedroht; er habe, so sagt er, statt dessen viele Gründe – die Erfahrung seines Lebens in der Deutschen Demokratischen Republik.

Seine Bilanz summiere sich einerseits zu einem gewissen materiellen Wohlstand. Dem stehe jedoch eine wachsende Steigerung von Skepsis zu Mißmut, von Unbehagen zu Enttäuschung, von Zweifel zu Verzweiflung, von unterdrücktem Zorn zu ohnmächtiger Wut gegenüber. Peter Strelzyk fühlt sich schließlich von den Machthabern, von der Einheitspartei, von den Funktionären, von dem »ganzen gleichgeschalteten System entmündigt und unterdrückt«. Er sagt: »Am Ende empfand ich das ganze Leben als eine einzige geistige Vergewaltigung.«

Peter Strelzyk ist an diesem Tag genau 37 Jahre und einen Monat alt. Er sieht nicht älter aus, als er ist, aber er wirkt abgespannt und nervös, wie einer, der schon unter Magenbeschwerden leidet und aufpassen muß, daß kein Geschwür daraus wird. Er ist schlank, fast mager. Schatten liegen unter seinen braunen Augen. Markante Falten ziehen sich von der Nase zu den Mundwinkeln herab. Der dünne, dunkle Bart läßt sein Gesicht schmal und blaß aussehen. Er raucht zuviel, meist mehr als 50 Filterzigaretten Marke »Cabinett« pro Tag. Er wiegt bei seiner Größe von 1,75 m mit 64 Kilo zuwenig. »Ich bin nicht kräftig, aber zäh. Ich kann körperlich einiges aushalten.«

Noch vor zwei Jahren, so ist im Familienalbum nachzusehen, sah Peter Strelzyk zehn Jahre jünger aus. Da ist ein flotter junger Mann mit modisch langgeschnittenem Haar abgebildet, bartlos, mit einem fröhlichen Grinsen im vollen Gesicht. Nun spricht Peter Strelzyk leise und bedacht; oft macht er längere Denkpausen, bevor er auf Fragen antwortet, wie einer, der fürchten muß, daß ihm jedes Wort falsch ausgelegt werden kann – aber auch wie jemand, der gewohnt ist, daß man ihm zuhört. Er spricht Thüringer Dialekt, ein wenig weich, oft nuschelnd.

Peter Strelzyk ist am 15. August 1942 in Oppeln geboren, Sternzeichen Löwe. Nach dem Krieg wird seine Familie aus Oberschlesien vertrieben. Sein Vater arbeitet bei der Bau-Union in Gera. Der Junge wächst in verschiedenen Thüringer Dörfern auf, denn seine Eltern ziehen auf der Suche nach neuen, besseren Wohnungen häufig um. Nach der Schule beginnt Peter Strelzyk eine Lehre als Maschinenschlosser in Pößneck. Nebenbei besucht er einen Abendkursus für Elektrotechnik. »Ich habe meinen Elektromonteur in Qualifizierung gemacht«, sagt er auf DDR-deutsch, das heißt, er hat Abendkurse besucht. Mit 18 wird der Jungtechniker zur Nationalen Volksarmee der DDR eingezogen. »Eigentlich wollte ich einmal Pilot werden und meldete mich für die Luftwaffe.«

Er kommt zur fliegertechnischen Schule in Karmitz bei Dresden. Er wird als Flugzeugmechaniker ausgebildet. Bei Reparaturarbeiten an einem Kampfflugzeug stürzt er von einer Leiter und verletzt sich am Lendenwirbel. Die Folgen spürt er noch heute. »Aus war der Traum, Pilot zu werden. Ich wurde 1963 als Flugzeugmechaniker aus der Armee entlassen.« Peter Strelzyk geht zurück nach Pößneck. Er bekommt eine Stelle beim Volkseigenen Betrieb »Polymer«, einem kunststoffverarbeitenden Unternehmen.

Peter Strelzyk ist ehrgeizig. Er arbeitet hart und lange. Er macht Karriere. Er wird Hauptmechaniker, dann Spezialist für »Betriebsmeß-, Steuer- und Regelungstechnik« und schließlich sogar Abteilungsleiter für Rationalisierung. »Ich habe fast 16 Jahre lang an Spritzgießautomaten gearbeitet«, erzählt er, »das sind Maschinen mit komplizierten Steuerungstechniken, mit Hydraulik und mit Elektronik.«

Die Arbeit habe ihm Spaß gemacht, er sei »richtig vernarrt in die ganze Technik« gewesen. Oft habe er an Feiertagen, sogar Weihnachten und Sylvester, defekte Maschinen repariert, »weil davon der ganze Produktionsablauf abhing«. Er sagt: »Mir haben sie immer die schwierigsten Probleme gegeben, die kompliziertesten Reparaturen, mit denen sonst keiner klarkam. Dann habe ich mich stunden- oder tagelang hingesetzt, habe gearbeitet und gegrübelt und habe mir gesagt: Du mußt diese verdammte Russenmaschine – wir hatten meist russische Maschinen – wieder hinkriegen! Du mußt einfach! Du mußt!« Meist habe es dann auch geklappt, und er habe »die Dinger wieder zum Laufen gekriegt«.

Sein Einsatz und seine berufliche Weiterbildung bringen Peter Strelzyk überdurchschnittliche Lohnsteigerungen ein – »zuletzt hatte ich manchmal an die 1500 Mark im Monat, das ist sehr viel für DDR-Verhältnisse«. Zusätzlich verdient sich der leidenschaftliche Tüftler noch ein kleines Vermögen durch seinen Einfallsreichtum hinzu. Er macht zahlreiche Betriebs-Verbesserungsvorschläge, führt sie auch selbst aus und erhält dafür Geldprämien. »Ich habe versucht, die meistens total veralteten Produktionsanlagen der Firma mit einfachen Mitteln zu modernisieren. Da war zum Beispiel eine Kunststoffmaschine, die wurde noch von einem Arbeiter mit zwei Handhebeln bedient. Der mußte nur diese Hebel drücken und das Schließen und Öffnen der Preßformen damit hydraulisch auslösen. Das Ding habe ich dann so umgebaut, daß das vollautomatisch lief und der Mann was Sinnvolleres machen konnte.«

In eine andere Anlage sei eine amerikanische Pumpe eingebaut gewesen, und »die war dauernd defekt«. Ersatzteile habe es nicht gegeben, und außerdem hätte die Firma dafür wertvolle Devisen zahlen müssen. Er habe schließlich eine DDR-Pumpe, die für ganz andere Zwecke gebaut war, so umgebaut, daß sie in diese Maschine paßte. »Das hatte noch einen wichtigen Nebeneffekt: Die Pumpe sparte nicht nur Devisen, sondern auch noch Strom, weil sie regulierbar war. Zweihunderttausend Kilowattstunden hat die Firma im Jahr durch diese Änderung weniger verbraucht.«

Dafür habe ihm die Betriebsleitung mit 3000 Mark die höchste Einzelprämie, die je im Werk für einen einzelnen Verbesserungsvorschlag gezahlt worden sei, aufs Konto überwiesen. Alles in allem – und darauf ist Peter Strelzyk stolz – habe er in den letzten zwölf Jahren mehr als achtzig Verbesserungsvorschläge gemacht und dafür insgesamt rund 50000 Mark Prämien kassiert.

Der ehrgeizige Techniker bekommt nicht nur Geld, sondern auch gute Worte. Peter Strelzyk wird zweimal vor der versammelten Belegschaft im Kreiskulturhaus von Pößneck als »verdienter Aktivist des sozialistischen Wettbewerbs« ausgezeichnet. Einmal bekommt er zusätzlich die »Medaille für ausgezeichnete Leistung«.

Diese Ehrungen der besten Arbeiter finden gewöhnlich am 13.November statt, am »Tag des Chemiearbeiters in der DDR« – VEB Polymer gehört zur Chemiebranche. Fahnen, Spruchbänder und Blumen schmücken dann die Bühne des Kreiskulturhauses. Die Besten des Betriebes werden heraufgerufen, und die anderen Werktätigen, alle in Schlips und Kragen und feinem Anzug, klatschen Beifall. Die Lobreden kann Peter Strelzyk noch heute auswendig:

»Liebe Genossen, liebe Kollegen! Es ist uns in diesem Jahr wieder ein großes Bedürfnis, unsere Besten auszuzeichnen, zu würdigen und zu ehren. – Lieber Genosse Strelzyk, du bist für deine hervorragende Tätigkeit im friedlichen sozialistischen Wettbewerb von deinem Kollektiv, von der Leitung des Betriebes, von der Gewerkschaftsleitung und von der Parteiorganisation zur Ehrung als ›Verdienter Aktivist‹ vorgeschlagen worden. – Wir überreichen dir hiermit die Urkunde und wünschen dir weiterhin Schaffenskraft bei bester Gesundheit und persönliches Wohlergehen für dich und deine Familie...« 200 Mark gibt’s auf die Hand, dazu einen Handschlag vom SED-Kreisleiter, Schulterklopfen vom Gewerkschaftsführer, Glückwunsch vom Vorsitzenden des Betriebes.

Peter Strelzyk, Sohn eines Arbeiters, hat es weit gebracht in der ersten Arbeiter- und Bauernrepublik Deutschlands. Im Sinne der Staatsideologie hätte er eigentlich ein glücklicher sozialistischer Mensch sein müssen – wenigstens ein zufriedener.

Denn auch in seinem Privatleben ist eigentlich alles so glatt verlaufen, als hätte er erfolgreich nach einem Plan gewirtschaftet. Mit 23 – Peter Strelzyk hat gerade seinen Wehrdienst hinter sich – sitzt er zusammen mit Freunden im »Kaffee Neubert am Markt«, einem plüschigen Treffpunkt für junge Leute ebenso wie für ältere Kaffeetanten. Hier gibt es, so steht es an der Außenfassade, »Torten, Kaffee, Gebäck, Lukullus-Keks, Baumkuchen und Gefrorenes«.

Am Wochenende ist Tanz oder Konzert. Dabei fällt Peter Strelzyk am Nebentisch ein zierliches, schüchtern wirkendes Mädchen mit großen, dunklen Augen auf. »Sie hat mir gleich gefallen, und irgendwie habe ich es geschafft, sie anzusprechen. Wir haben übers Wetter und über die Musik geredet, und dann haben wir getanzt.«

Sie heißt Doris, ist gerade 16 Jahre alt und Industriekaufmanns-Lehrling. Nebenbei, so verrät sie ihm, sei sie Souffleuse beim neugegründeten Arbeitertheater von Pößneck. Von nun an macht auch Peter Strelzyk mit, als Laienschauspieler. Er spielt in seiner ersten Rolle den Advokaten in »Der eingebildete Kranke« von Molière.

»Die Doris«, so erinnert sich Peter Strelzyk, »war wirklich eine sehr gute Souffleuse, da brauchte man kaum den Text zu lernen.«

Sie sagt: »Er war ein ganz passabler Schauspieler, dafür, daß er eigentlich wenig Talent hatte.«

Als dritte Vorstellung des Arbeiter-Theaters wird »Der Schatten eines Mädchens«, ein Stück des DDR-Schriftstellers Rainer Krendl, gegeben. Es handelt vom Ende des Zweiten Weltkrieges in Polen, und es ist auch schon das Ende des Arbeiter-Theaters von Pößneck. »Einige Leute hatten keine Zeit mehr. Sie mußten sich zu sehr um ihre Arbeit kümmern, und da ging die ganze Truppe schließlich sang- und klanglos auseinander.«

Die Souffleuse und der Laiendarsteller aber bleiben zusammen. Nach drei Jahren sagt sie ihm im Standesamt von Pößneck das Ja-Wort vor, – am 17. Juni 1966, der im Westen als Tag der deutschen Einheit gefeiert wird. »Diesen Hochzeitstermin hatten wir nicht extra ausgewählt«, sagt Peter Strelzyk, »aber damals habe ich mich schon ein bißchen für Politik interessiert, und irgendwie fand ich dieses Datum als Symbol sehr gut für unsere Ehe.«

Mit dem Wind nach Westen

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