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Die einzig wahre Flaschenpost

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»Beim Bockbier schmeckt alles nach Blues«, brummte der 1987 auf der A 94 bei München besoffen verunglückte Frankfurter Dichter Jörg Fauser ein wenig benommen und melancholisch. Ob er den schweren, dunklen, gallig-schnapsigen Weihnachtsdoppelbock meinte oder den leichteren, honiggelben Maibock, den Kleinbrauereien während der Biergartensaison unter schattenspendenden Bäumen frisch vom Faß servieren, ist nicht zu klären. Allein, wenn Fauser auch oft zurückgezogen, jenseits der Tresen und Trinkhallen trank – »ich warte darauf daß es klingelt / und jemand mit mehr Bier / und anderen Gedanken kommt« –, so trank er doch mit einer solchen Beharrlichkeit, wie sie sich heutzutage PR-Manager und Geschäftsführer der großen Brauhäuser als verbreitete Gewohnheit wünschen würden.

Denn der Trend zum Biertrinken ist seit Jahren ein konstant negativer, ein Trend zur Abkehr vom beseelend feinen Hopfengebräu, hin zu aufputschenden, aggressiven respektive vorgeblich sportiven Mixturen und Cocktailpanschereien. Die Absatzquote, meldete der Deutsche Brauer-Bund, fiel jüngst unter die magische Grenze von hundert Millionen Hektolitern. Daran ändert selbst das engagierte Bechern auf dem jährlichen Münchner Oktoberfest nichts. Nahezu sieben Millionen Einheimische und assoziierte australische und sonstige globale Touristen verputzten im Jahr 2000 neben knapp 700.000 Brathendln, über 60.000 Schweinshaxen, 235.000 Paar Schweinswürstln und 94 Ochsen immerhin noch fast 65.000 Hektoliter Wiesn-Festbier – und das bei einem astronomischen Maßpreis von zwölf bis dreizehn Mark. Sie tun, was sie können. Sie »litern obi«, wie’s nur reingeht und wie’s ihnen Gerhard Polts Meistertrinker Adi in der genialen Wiesn-Bühnennummer »Attacke auf Geistesmensch« vorexerziert. Bloß – es nützt nichts. Deutschland kehrt dem Bier den Rücken.

Alarmiert ob des besorgniserregenden Zustandes im Land des Dichtens, des Bieres und des Denkens, greift der Brauer-Bund zu absonderlich gedankenlosen Werbemaßnahmen. Da werden allenthalben sogenannte Biererlebnisse beschworen und zwei offizielle »Bierbotschafter« berufen – Harald Schmidts mehr scherzhaft als rechtschaffen bierverkostender Co-Moderator Manuel Andrack und Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt; letzterer wohl, weil der Einbecker Brauknecht Till Eulenspiegel einst an Stelle des Hopfens des Braumeisters Hund – mit Namen Hopf – der Würze appliziert haben soll.

Innerhalb der vergangenen fünf Jahre sank der Jahresprokopfverbrauch um zehn auf zirka hundertzwanzig Liter. Steuert man jetzt nicht dagegen, dürfte es in sechzig Jahren in Deutschland kein Bier und keine Biertrinker mehr geben. Intelligente Öffentlichkeitsprogramme sind gefragt, eine sofortige Rückbesinnung auf das Bier und seine Verherrlicher tut not, auf die Jünger des Gambrinus, auf die ehrenwerten Bierpoeten und -denker. Und die hat es wahrlich reichlich, zumal im deutschsprachigen Raum, solche, die das Bier in Romanen, Theaterstücken und Gedichten priesen oder gewichtigste Rollen übernehmen ließen, und jene, die es eher empirisch in sich hineinschütteten – zwecks Anfeuerung oder Entspannung oder beider Lebensverschönerungen halber, getreu dem Motto Robert Walsers: »Ein Helles, bitte!«, und zwar dalli.

Thomas Bernhard vermochte noch das Selbstverständlichste zu definieren: »›Ein Bier, bitte‹ heißt, die Welt will ein Bier. Sie trinkt es und wird mit der Zeit wieder durstig.« Bereits Jörg Fauser jedoch konnte das gegenwärtige Übel mit Worten greifen: »Wenn ich sehe, wie dann statt der Halben der Piccolo rausgetan wird […], dann wird mir klar, warum deutsche Büromenschen so zerrüttet sind […]. Dabei wäre, wie so oft im Leben, das Desaster zu vermeiden gewesen, wären wir nur beim Naheliegenden geblieben, beim Bier.«

Fern lag das Naheliegende nicht nur der protestantischen Antibierpropaganda von Luther, der den »Saufteuff« zu exorzieren trachtete, bis zu Kant, der »Trunkenheit« schlicht als »einen widernatürlichen Zustand« schalt. Bier verdammte, in völliger Mißachtung dessen, was Friedrich Schillers Freund J. W. Petersen die »deutsche National-Neigung zum Trunke«, und das heißt zum Bierumtrunke, nannte, der Weimarer Großgrantler Goethe, der eminent ahnungslos dekretierte: »Das Bier macht das Blut dick.« Und in Ekelkoalition mit dem Tabakdampfen malte er den geistesgeschichtlichen Teufel an die Wand, weil er halt selber täglich flaschenweise Wein verdrückte und deshalb wohl glaubte, besser zu dichten als die Bierhumpen: »Wenn es so fortgehen sollte, wie es den Anschein hat, so wird man nach zwei oder drei Menschenaltern schon sehen, was diese Bierbäuche und Schmauchlümmel aus Deutschland gemacht haben. An der Geistlosigkeit, Verkrüppelung und Armseligkeit unserer Literatur wird man es zuerst merken.«

Daß es, europaweit betrachtet, so nicht kam, verdanken wir trotz gewisser Reputationen nicht dem Goethe-Verehrer Alessandro Manzoni, der die Frechheit besaß, in seinem Jahrtausendroman Die Brautleute die Zunft der Kneipiers zu desavouieren (»›Verdammte Wirte!‹ fluchte Renzo im stillen. ›Je mehr Exemplare ich von ihnen kennenlerne, desto schlimmer finde ich sie!‹«); genausowenig konnte sich Goethe-Preisträger Thomas Mann Verdienste ums Bier erwerben. In der ihm eigenen Torheit gab er zum besten: »Im allgemeinen halte ich nicht das geringste von der ›Inspiration‹ durch Alkohol«, und der Sturzlangweiler fügte an: »Ich Geringer trinke täglich zum Abendbrot ein Glas helles Bier und reagiere auf diese anderthalb Quart so stark, daß sie regelmäßig meine Verfassung durchaus verändern.«

Durchaus seine Verfassung veränderte Thomas Manns Hausphilosoph Nietzsche. Zu Studentenzeiten ein Fan der »Biergemüthlichkeit«, suhlte er sich später, so Eckhard Henscheid, in einer »nimmerstill-pathetischen Ablehnung des Biers – als des Symbols von Biedersinn und Philisterei«. Henscheids episches Personal hingegen neigt, uns zur Freude, recht ausgiebig größeren Mengen Bier zu – etwa der herzergreifend abgewrackte, desillusionierte Kommunist aus der wie ein goldgelbes Helles wunderbar und wundersam in sich ruhenden Novelle Maria Schnee: »Sie alle seien heute gebrannte Kinder der Revolution, flüsterte der Dicke leis und mit viel Wehmut. Er sei heute praktisch trocken. Er trinke nur noch sieben oder acht Bier am Tag, sieben, acht frische Weizen. Gar nicht der Rede, gar nicht der Erwähnung wert.«

Uns allen, den Wirtshausweizenwuchtern, den Biergartenhockern und den Pilspassionierten, sollte die innige und humane Beziehung zwischen gutem Bier und guter Literatur eine Erwähnung wert und Mahnung genug sein, den fünfzackigen Stern des Bierbrauers nicht sinken zu lassen auf den Boden von Wein-, Whisky- und Wacholderbeersaftgläsern. E. T. A. Hoffmann drehte u. a. durch Bamberger Bierspezialitäten sein »inneres Fantasie-Rad an« und »trank, um sich zu montieren«. Georg Christoph Lichtenberg vergötterte englisches Bier (»diese Bouteillen aus England [sind] so etwas wie eine poetische Flaschenpost«), der Nachfahre Kurt Tucholsky verleibte seinem Sudelbuch die besinnliche und sauschöne Sentenz ein: »bier beglänzt«, und Jean Paul, der knuddelige Krösus der Biervernichtung, widmete sich in aufreibendsten Briefwechseln pausenlos dem einen, dem Edlen, dem süffigen Solidargetränk, dem sensationell schmackhaften Durstlöscher und Rauscherzeuger: »Bier, Bier, Bier, wie es auch komme!«

Es kam zu selten, und Jean Paul zürnte, da ihm seine Hauswirtin Kienhold englische Bräus kredenzte. Er mahnte Besserung an, »weil der Transport vom Faß in mich schneller geht« als jener des Fasses zu ihm, und schrieb manisch: »Vom Wichtigsten zuerst! Ihr Bier ist schon seit so lange ausgetrunken, daß ich wieder mit ihm zugleich (durch das englische) den Appetit verloren habe. Leere Fässer kommen – ungleich Menschen – schwerer fort als volle; kein Fuhrmann belastet sich mit jenen.« »Fuhrmann Zapf«, o welch Name!, nahm sich des geplagten Bayreuthers (»Bayreuth trotz Bier und Gegend unaushaltbar«) an, und der Dank kannte kein Ende – gleich dem Durst.

Glücklicher noch, wer etliche Jahre später auf dem englischen Eiland einen echten Kumpel an seiner Seite wußte, einen zuverlässigen, solventen Alkoholkompagnon. Marx und Engels, »diese beiden Superchampions der Polemik« (G. Tomasi di Lampedusa) und Superkenner der geistigen Getränke, verband eine dioskurischdionysische Freundschaft. Während der »privilegierte Zecher« Engels, den Marxens Schwiegersohn Paul Lafargue »den unergründlichen Verschlinger von Ale« taufte, auf Reisen Bier testete, haute Marx den zugesandten Wein um und berichtete Engels aber auch: »Außer dem Wein hatte ich täglich (bis zur Stunde) 1½ Quart vom stärksten Londoner Stout zu saufen. Es schien mir ein gutes Thema für eine Novelle.«

Erst Ernest Hemingway dröselte den Faden vom anderen Ende her auf: »Nun tranken die Burschen in meiner Story, und das machte mich durstig«, was H. L. Mencken, der erste amerikanische Nietzsche-Biograph und gefürchtete Kritiker, mit einer Eloge auf das »unique, incomparable, transcendental Bavarian Beer« konterte. In das grausame 20. Jahrhundert, längst jenseits der von Engels verlachten »unerschöpflichen Streit- und Parteifrage über die respectiven Vorzüge des alten Pilsener, des bürgerlichen und des Aktienbieres«, pflanzte Robert Walser ein bezauberndes Idyll, ein Stilleben, das sich der »Seelenruhe« und Geselligkeit verdankte, die das Bier stiftet: »Die Bierburschen haben momentan ein wenig Ruhe, aber nicht lange, denn es wälzt sich wieder von draußen herein und wirft sich durstig an die Quelle. […] Würde und Selbstbewußtsein wirken behaglich, auf mich wenigstens, und deshalb stehe ich so gern in irgendeinem von unseren Aschingerhäusern.«

Durchs Bier genas manch Denker, manch Dichter, am Bier labte sich noch auf dem Todeslager sehnsuchtsvoll Franz Kafka, und beim Sterben ließ er sich eins vortrinken. Beruhigt, hienieden erlöst: »Ich bin ja zum Biertrinken da«, formuliert Herbert Achternbusch die modernste aller Existenzphilosophien und Religionen, und Gottfried Benns funkelndste Verse huldigen weihevoll IHM, dem Bier. Aber: »Was schlimm ist: bei Hitze ein Bier sehen, das man nicht bezahlen kann.«

Was das Schlimmste wäre: bei Hitze das Kleingeld zusammenkramen und ein Bier vor dem inneren Auge sehen, das man nicht kaufen kann. Daher sei, bevor das Undenkbare, das Ende des Biers, eintritt, dem Deutschen Brauer-Bund die Frage gestellt: Was spräche gegen ein den Absatz ankurbelndes, bundesweit gehängtes Plakat mit jenem berühmten Photo, das Bertolt Brecht und Oskar Maria Graf beim beduselt-beherzten Krugstemmen am Kneipentisch zeigt – ergänzt um die Zeile: »Zwei deutsche Dichter – wer ist deutlich dichter?«

Nicht die Kaffeebohne spräche dagegen.

Die Poesie des Biers

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