Читать книгу Die Poesie des Biers - Jürgen Roth - Страница 23

Das Verschwinden des dicken Luftraums

Оглавление

Wie sie da sitzen und bald nicht mehr sitzen werden – die vier Schafkopfer, seelenstumm in ihre spielerische Wirklichkeit versenkt, jeweils ein Halbliterglas Helles vor sich. Die Karten platschen auf die klebrige Tischplatte, die zerknitterten Gesichter verschwimmen im Zigarren- und Zigarettenrauch, das Lampenlicht durchdringt den dunkeldicken Qualm kaum.

Ein Endfünfziger bringt Bier – Stirn und Wangen eine Schluchten- und Kraterlandschaft, die Augen wäßrig und weich, Schildkrötenhaut bedeckt seine knochigen Finger. Das mache vier Euro zwanzig, sagt er, für zwei Halbe.

Das sei ja, würde der Metropolenmensch jetzt ausrufen, hätte er hierher gefunden, »fast geschenkt!« Bald aber wird man in Fürths Bahnhofsgaststätte wohl nichts mehr geschenkt bekommen, und man wird nicht mehr bewirtet werden von einem Mann, der dies sehr gut kann – ohne Sperenzchen, ohne Tamtam – und der wahrscheinlich nichts anderes kann, weil er wahrscheinlich nie etwas anderes werden konnte als Bedienung in der Bahnhofsgaststätte zu Fürth.

Auch die vier Schafkopfer werden ihre Raucherhölle verlassen müssen, in der sie niemand belästigt und in der sie sein können, was sie noch sein können, denn die Modernisierung der Bahnhöfe schreitet voran. Fürth, so steht zu vermuten, ist demnächst dran, in Nürnberg nebenan hat die »Unternehmensbereichsleitung DB Station&Service« ihr Werk ja schon vollendet und ganze Aufräumarbeit geleistet, nämlich ein an innerstädtische Einkaufspassagen erinnerndes, durch Securitykräfte geschütztes, luftig-lichtes Konsumparadies aus Boutiquen, Hot-Snack-Points, Wok-Opens, Rail-Ins und Coffee-Table-Lounges geschaffen, in dem für Nichtsnutze, Gescheiterte, Deklassierte und Müßiggänger kein Platz mehr ist. Bis 2010, vermeldet die Deutsche Bahn AG denn auch stolz, werde man weitere fünfhundert Millionen Euro »in unsere Bahnhöfe investieren« und sie unwiderruflich ruinieren.

Die unheilvolle Geschichte der Renovierung, aus der eine revolutionäre Umgestaltung der Bahnhöfe in »moderne Verkehrsstationen und Dienstleistungszentren« (DB), in Shoppingtempel und postmoderne Gastroreiche wurde, begann, obgleich in Frankfurt am Main bereits 1972 das erste Intercity-Restaurant eröffnet worden war, etwa Mitte der neunziger Jahre des verblaßten vergangenen Jahrhunderts. Das Verschwinden der Bahnhofsgaststätte, eines Raumes der Aufenthaltsmöglichkeit für allerhand unterschiedliche und angesichts ihrer Unterschiedlichkeit schlicht geduldete Leute, die rasten und Zeit überbrücken oder vergeuden konnten, ohne eine On-Top-Befindlichkeit des schikken Lifestylereisenden simulieren zu müssen, kündigte sich womöglich mit der rigiden Handhabung des Zugangs zu den Toiletten der Bahnhofswirtsstuben an. »Toilettenbenutzung nur für Gäste« hieß es zum Beispiel in München plötzlich, und wenig später war nicht nur der Zugang für Mißliebige, weil nicht Geldpotente gesperrt, sondern auch der Gaststättenraum zerstört.

Im Sommer 2000 hatte man den alten Gaststättenbereich entkernt und abgerissen. Heute dominieren in allen großen Bahnhöfen die gläsern-rauchfreien, stahlblanken, strahlenden, blitzsauberen, meist keinem Sitzbedürftigen mehr Gelegenheit zum Verschnaufen bietenden Multifruchtsafttheken und Milchbars, die markenschreierischen Cafés Nescafé (wie in München) oder die systemgastronomischen Errungenschaften der worthöllisch anspielungsreichen Exklusivbierbuchten und Erfrischungsecken namens Connection BAR oder Kaffee mit … (wie in Frankfurt am Main). »Der Münchner Hauptbahnhof ist für viele Reisende das Eintrittstor zu Bayern«, deklamierte Bayerns Wirtschafts- und Verkehrsminister Otto Wiesheu angesichts der 12,3 Millionen Euro teuren Neugestaltung des Münchner Gastronomiebereiches begeistert. »Mit dem neuen Gastronomie-Highlight zeigt der Freistaat an prominenter Stelle, daß sein Gastgewerbe nicht nur Kultur hat, sondern selbst Teil der bayerischen Kultur ist.« Das Bayerische an dieser Kultur dürften die Brezen und Weißwürste sein, die nach wie vor verkauft werden.

Rührig und schäbig zugleich mutet da an, wie sich etwa im Rosenheimer Bahnhof das neofolkloristisch aufgemotzte Servicekonzept einer breiten Angebots- und Stilpalette in einem Potpourri aus Markt-Backshop, Imbiß, Bierschwemme, Stadt-Terrasse, Südtiroler Stub’n und Luitpold-Stub’n niederschlägt. Letztere Einrichtung zumal erregt durch ein Edelkitschinterieur par excellence schlichtweg das blanke Grausen. Wilhelm Buschs Zeichnung »Die Mittagstafel in der Rosenheimer Bahnhofs-Restauration«, 1860 erschienen in den Fliegenden Blättern, hielt eine tumultuarische Riesenversammlung überschwenglich gestimmter Speisender fest, und vom ersten Pächter der Halleschen Hauptbahnhofswirtschaft, dem Ende des 19. Jahrhunderts segensreich wirkenden Gustav Riffelmann, ging die Kunde, er sei »eine stadtbekannte Persönlichkeit« »von imponierender Gestalt« und mit einer außergewöhnlichen »Großzügigkeit« ausgestattet gewesen. Bei dem ließ sich jeder, der dazumal, was nicht ungewöhnlich war, lange Wartezeiten erdulden mußte, gerne nieder. Heute will man allenthalben bloß noch weg.

Bevor es ganz zu spät und die alte Bahnhofsgaststätte, eine Art Agora, ein Zentrum der zufälligen Zusammenkunft inmitten der Dynamik des Hin-und-weg, vollends hinwegsaniert ist, sei ein Halt in Würzburg empfohlen. Hier, in den Bürgerstuben im Bahnhof, sitzen sie noch, die alten Frauen aus der Stadt, die nicht reisen, aber Apfeltorte mit Schlagobers verspeisen, und die alten Männer aus der Gegend, die, wie Karl Kraus, die Öffentlichkeit brauchen, um einsam sein und ihr Bier trinken zu können.

Stellwände teilen den Raum dezent auf, eine Messinguhr tickt, an der braungetäfelten Decke hängen Kugellampen, an den schmiedeeisernen Kleiderhaken graue Mäntel, daneben baumelt die örtliche Zeitung. Kellner Christofolos wandelt über braune Teppichläufer, die mit Metalleisten auf dem Linoleumboden befestigt sind, und verteilt überwiegend Bier. Wer hier einen Cappuccino trinkt, gehört dem Teufel.

Links schmückt ein Panoramastich die Wand, rechts eine Butzenglasarbeit, die das seit langem vom Markt gefegte »Patrizier-Bräu Würzburg« bewirbt. Davor schaufelt ein Ehepaar Hacksteak und Pommes in sich hinein. Die meisten indes nippen lediglich am Bier und rauchen. Hier wird außerordentlich stark geraucht, eine Nichtraucherecke gibt es nicht. Man raucht Stumpen, Selbstgestopfte, HB, und man trägt bevorzugt Kordhose oder Trainingsanzug und auch mal eine Schiebermütze.

Dr. Benn wäre auf einem der Holzstühle an einem der Tische gut aufgehoben gewesen, zu sich selbst beschwörend sagend: »das Bier heben, soliden Blicks, schaumgeboren – reiner Abendausklang«.

Die Poesie des Biers

Подняться наверх