Читать книгу Die Poesie des Biers - Jürgen Roth - Страница 26
Alles fahren lassen
ОглавлениеMan hat ein Wochenende in Eisenach verbracht. Am Tag der Rückreise weilt Freund M. aus beruflichen Gründen in Weimar. Man verabredet, sich zu treffen, das eine oder andere zu unternehmen und abends gemeinsam nach Frankfurt zu fahren – mit dem Zug, versteht sich, denn Zugfahren ist eine dem Gemüt dienliche, rundum vernünftige Fortbewegungsart.
Beim Zugfahren läßt sich lesen, dösen, faseln, aus dem Fenster gucken, rauchen, trinken und Schiffeversenken spielen. Das wird nicht mal die Kundenorganisation Pro Bahn bestreiten, die nimmermüde Beschwerdelisten erstellt und nolens volens den letzten unantastbaren deutschen Mythos nährt: daß nichts verkommener und unzuverlässiger sei als die deutsche Bahn.
Daß Freund M. nicht nach Eisenach brummt und ich statt dessen in die Klassikerstadt aufgebrochen bin, obwohl die abendliche Route von Osten gen Westen, mithin von Weimar via Eisenach nach Frankfurt, also von Eisenach Frankfurt führt, bleibe hier beinahe unerwähnt. Keineswegs ablassen von ihrem nörglerischen Tun können indessen all die Hunderttausenden von Bahnbashern in diesem Lande. »Ruhig beschweren bei Ärgernissen«, empfiehlt, avantgardistisch gestimmt, www.geizkragen.de, obschon die Bahn rechtlich nicht verpflichtet ist, bei »Unregelmäßigkeiten, Ausfällen oder Störungen zu haften« (Stiftung Warentest). Denn es geht den Krakeelern und Giftzwergen ja nicht in erster Linie um geldwerte Erstattungen auf Grund von dreitägigen Verspätungen, doppelt reservierten Sitzplätzen, wegen des durch klemmende Klimaanlagen verursachten sommerlichen Ungemachs, stundenlang verstopfter Klosetts, vernagelter Türen, verpaßter Anschlußzüge, »irreführender Durchsagen« (Verbraucherzentrale NRW) und vollgereiherter Polster; sondern um das Gemoser an und für sich, das ihnen als Ausweis ihrer kerzengerade rechtschaffenen Spießerexistenz gilt.
Ich treffe Freund M. in einem Café an der Carl-August-Allee. Rasch ist uns nach anderen Getränken zumute, zum Beispiel einem Bier im einst von Hitler heimgesuchten Elefanten. Über Stunden gestalten wir zusammen mit den zwei Kellnerinnen das numerische Verhältnis Gäste–Bedienungen einwandfrei ausgeglichen. Gegen acht streben wir zum Bahnhof, rasten in einer Schenke an der Carl-August-Allee, bequatschen formvollendet derangiert die blonde Schönheit hinterm Tresen und besteigen den letzten, pünktlichen Direktzug nach Frankfurt. Ein Rädchen greift ins andere, auch wenn die zerebralen Verbindungen langsam ein wenig knirschen.
Über den von Pro Bahn mehrfach genannten Beschwerdepunkt »Fahrer raucht beim Fahren« könnten wir nur lachen, laut, laut lachen. Freund M. ratzt praktisch augenblicklich am Bistrotisch weg, ich versuche eine Brünette zu becircen, die sich aber etwa bei Bad Hersfeld meinen geschickt formulierten Avancen (thematisch eingekleidet in Rilke, Goethe, wahrscheinlich Fußball) durch Verlassen des Abteils entzieht.
Freunde der Bahn sind nicht selten auch Anhänger von »Romantischen Eisenbahnfahrten«, von abscheulichen Nostalgiesonntagsausflugsveranstaltungen. Wahre Wertschätzung der Bahn entwickelt man, wenn der Nachtschaffner sodann zwei engagiert zerstörten Ausflüglern ohne Umstände und Aufpreis ein Kojencoupé zur Verfügung stellt und höflich verspricht, die braven Gesellen kurz vor Frankfurt zu wecken.
Freund M. haut mir auf den Kopf, als wir um 3.45 Uhr in den Mannheimer Bahnhof hineinrumpeln. Er meint, der Schaffner habe uns nicht wach gekriegt. Der reumütige, zufällig am Ende des Gangs stehende Missetäter läßt sich von mir ordnungsgemäß zur Minna machen, anschließend entern wir im Bauch des Bahnhofs den einzigen geöffneten Imbiß der Stadt, vertilgen die fettigsten Frikadellen zwischen Oder und Oeder Weg und lauschen begeistert derartigen Dialogen: »Gibt’s hier schon alkoholische Getränke?« – »Klar.«
Drei Wochen später sitze ich mit Freund K. im Bistro des IC von Mainz nach Frankfurt. Hinterm Flughafen dämmert mir was. »Verflucht, der fährt nach Mannheim, nicht übern Bahnhof«, sage ich. »Stand das auf dem Plan?« – »Nee!« Diesmal übernimmt Freund K. den Part der Schaffnerbeleidigung. Das hat man davon. Wir müssen nachlösen, nicht zu knapp. Also bloß eine Frikadelle für zwei.
»Sie haben recht, es ist die Summe vieler, oftmals kleiner Dinge, die den Service ausmachen«, lautet Pro Bahn zufolge eine der meistgebrauchten brieflichen Formentschuldigungen der Bahn. »Wird eine Facette negativ erlebt, so wirkt sich das auch negativ auf die Gesamtbeurteilung gegenüber allen Mitarbeitern der Deutschen Bahn AG aus.«
Wird eine Facette wiederholt positiv erlebt, das unwillentliche Erreichen des Mecker-Mekkas Mannheim nämlich, dann ist die Bahn en bloc zu loben: für die großzügig gewährten spirituellen Erfahrungen, die wertvollen zwischenmenschlichen Begegnungen und die außerordentlich vernünftige Zufuhr eiweißsatter Frikadellen aus der one and only Frikadellenkapitale Mannheim am Rhein.
Merci!