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Trotz Zahlkraft der Heimat so fern

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Wohin ich denn wolle, fragte der Taxifahrer. Sein von einem wohl noch nicht allzu langen Leben in Hanau gezeichnetes Gesicht hing elend und ohne jeden Anflug von Milde zwischen Türholm und heruntergelassener Scheibe. Der Mond bestrich den Bahnhofsvorplatz mit einer schmierigen grauen Lasur, und es war kalt wie im Herzen Josef Stalins oder Friedrich Zimmermanns.

Vor mehr als einer Stunde hatte ich in Mainz die S-Bahn genommen. Es war ein anstrengender, aber zufriedenstellender Arbeitstag gewesen. Die Schlußkorrektur eines Buches hatte alle geistigen Kräfte verbraucht und Herr Büsser, der Chefideologe des noblen Ventil Verlags, anschließend zu einigen dampfablassenden Bieren geladen.

Um kurz nach zwölf war ich in Mainz-Süd in die S 8 gefallen, eine gute halbe Stunde später wäre ich zu Hause in Frankfurt gelandet. Nun schaute ich in den widerlichen Himmel über Hanau. Die Uhr zeigte Viertel nach eins. Auf den Gleisen standen Gleismeßzüge, verrostete Cargo-Waggons und gestrandete InterRegios. In der Ferne schimmerten ein paar Funzellichter. Ein Kasten, das Arbeitsamt, entworfen von unzweifelhaft schwerkriminellen Halunken, schob sich ins Passepartout aus Nichtigkeit, Weltverachtung und Wirklichkeitsvernichtung.

Nichts fuhr mehr, kein Zug, keine S-Bahn. Finis, Feierabend, Sense. Weil ich eingeschlafen und an der Endstation Hanau von einem unbarmherzigen Bahnbediensteten aufgeweckt worden war, hing ich jetzt in der denkbar verfluchtesten Materialisation des Nichts fest und herum wie der traurigste Arsch auf Trockeneis. Rumhängen in Hanau, das ist ein Gefühl, als müsse man sich auf der Stelle entleiben. Zum Glück fiel mir ein Satz meines Kumpels Christoph Winnat ein: »In Hanau zu sterben ist sinnlos.«

Ich hatte nicht gewußt, daß Hanau, das laut der obligaten städtischen Website »viel zu bieten hat« – eine Ex-Atomfabrik, »Dauerkleingärten« und eine »Altstadt« (www.hanau.de), aus der schon die Brüder Grimm zu fliehen sich gezwungen sahen –, darüber hinaus auch über keine sichtbaren Hotels in Bahnhofsnähe verfügt. Von Gästen will man in Hanau offenbar nichts wissen, man läßt sie am Rande der Stadt herumirren und vergammeln, dort, wo diese architektonische Saufrechheit von einem Bahnhofsgebäudespitzenmißgriff der Erde Antlitz aufs himmelschreiendste verschandelt und, die Worte sind bedächtig gewählt, entsetzlich entstellt, ja hohnlachend zur Schnecke macht.

Ich hatte also kein Hotel gefunden, weil dem untrüglichen Anschein nach kein Hotel zu finden war. »Ich muß nach Frankfurt«, antwortete ich dem Taxifahrer, und er zog die rechte Augenbraue hoch. »Das ist aber weit.« – »Ich weiß«, sagte ich demütig und wies mich mit einem Hunderter aus. »Na gut, steigen Sie ein«, sagte er, »aber ich kenn’ mich in Frankfurt nicht aus. Ich fahr’ nur bis zum Bahnhof.« – »Ich wohne bloß zwei Kilometer vom Bahnhof entfernt, ich zeig’ Ihnen dann den Weg.« Er sagte nichts.

Am Frankfurter Hauptbahnhof, nach etwa sechzig Euro, endete die wortlose Fahrt. »Entschuldigung«, sagte ich, »wir müssen noch ein Stück weiter.« – »Ich kenn’ mich nicht aus«, sagte der Taxifahrer und drückte eine Taste am Taxameter. »Bitte«, ich fischte den Hunderter aus der Jackentasche, »nur schnell zweimal rechts und drei Minuten die Mainzer Landstraße runter.« – »Die was?« – »Die Mainzer Landstraße bis zur Galluswarte, dann sind wir fast da.« – »Sie haben gesagt: direkt am Bahnhof.« – »Ja, na ja, es ist wirklich praktisch am Bahnhof, das dauert nur ein paar Minuten.«

Der Hunderter in meiner rechten Hand bewegte ihn dazu, den Gang wieder einzulegen. Als wir auf die Mainzer Landstraße eingebogen waren, fragte er: »Und?« – »Gleich. Da hinten.« Ich wies mit dem Zeigefinger geradeaus. Hundert Meter weiter hielt er an. »Ich fahr’ keinen Meter mehr, ich kenn’ mich hier nicht aus.« – »Ich bitte Sie, es ist nicht mehr weit. Wir sind gleich da.« – »Das sagen Sie.« – »Glauben Sie mir doch!«

Erneut rollte der Wagen an, und im gleichen Atemzug stieß der Mann am Steuer einige dunkle, unverständliche Laute aus, was mich dazu animierte, ihm nachdrücklich Mut zuzusprechen. »Sie haben gesagt: am Bahnhof«, giftete er zurück, und als ich ihm ein mattes »Ja« entgegnete, stieg er, die Galluswarte war noch immer nicht zu sehen, in die Eisen.

»Schluß jetzt! Ende der Dienstfahrt! Raus!«

Was macht Hanau bloß aus den Menschen? Sie werden doch gut bezahlt. Von mir.

Die Poesie des Biers

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