Читать книгу Das perfekte Wirtshaus - Jürgen Roth - Страница 27
Dialektischer Durst
ОглавлениеEs gibt ja bundesweit, ob auf dem Land oder in der Stadt, nahezu keine Wirtschaft mehr, in der man, egal, ob man sie zur durstlöschendsten Zeit um 14.23 Uhr, zwecks Frühschoppenaufmunterung oder zum hirnkrampflösenden Abendbierausklang betritt, nicht berieselt, belästigt, akustisch besabbert wird. Denn es gehört zur akuten modernen Conditio humana wie der Reformstau und die flächendeckende neoreligiöse Demenz die scheinbar durch nichts mehr einzudämmende Verlärmung der Existenz selbst dort, wo der gebeutelte einzelne durchaus mal zu sich kommen, einem Gedanken nachhängen und darob den Rand halten könnte.
Da der moderne Mensch seinerseits offenbar alles vermag, außer die Klappe zu halten, die er mitunter allein sachte zu öffnen sich anschicken sollte, wenn er einen Schluck Wein, einen Nipper Wasser, einen Hieb Wodka oder einen Schwall Bier durch jene in sich hineintransportieren möchte, vermag er es nicht mehr, einfach für sich zu sein, wo allein und still und vergnügt oder traurig zu sein nach Karl Kraus einzig wirklich möglich ist: in der dezenten Öffentlichkeit eines Gasthauses.
Doch, so dialektisch diffizil ist die Lage. Je unbarmherziger dem einzelnen vor Augen geführt wird, daß er nutzlos ist wie eine Gerstenspelze, alleingelassen, verworfen, weggeworfen, desto mehr verlangt es ihn nach simulierter Geselligkeit, und deshalb nimmt er es, mitten ins allgemeine Kuddelmuddel des dummen spätkapitalistischen Lebens geworfen, unwidersprochen oder sogar insgeheim dankbar hin, selbst dann, wenn er endlich für sich sein könnte, in der am besten angenehm leeren Wirtschaft, mit Technojazz und Tahiti-HipHop zugespachtelt zu werden, ohne Unterlaß und von Jahr zu Jahr in stramm anschwellender Lautstärke. Die Welt, die einem nichts mehr sagt und in der man nichts mehr zu sagen hat, sie töne.
Daß es kein richtiges Leben im falschen gebe, besagt ein allzu bekanntes Bonmot von Theodor Wiesengrund Adorno, ein, näher betrachtet, nicht gerade einleuchtendes zumal übers, genauer, Wohnen im Spätkapitalismus. Adorno war kein großer Kneipengänger, seinen Wein- und Champagnerdurst befriedigte er eher privat. Lediglich den morgendlichen Cognacbrand bekämpfte er zusammen mit seinen Spionen aus den Reihen des SDS im Frankfurter Café Laumer. Getarnt waren diese Flüssigkeitszufuhren als »Frühstück«.
Mehr als dreißig Jahre später kann einem in einem Odenwälder Dörfchen mit dem schönen Namen Winkel allerdings aufgehen, daß Durst und Dialektik, dieser manchmal selbst vom Odenwald- und speziell Amorbach-Fan Adorno geringfügig überstrapazierte Denkmodus oder -habitus, durchaus verschwistert sein mögen – nicht weil zuweilen mit Abnahme des Pegelstandes etwa im Bierglas das Bedürfnis nach einem weiteren und womöglich noch großzügiger bemessenen Bierpokal seltsamerweise wächst, sondern weil in Winkel, jenem an einem der malerischsten Berghänge Zentraleuropas gelegenen Ort, eine altmodische Ausflugsrestauration schlicht und herzergreifend Zum Wiesengrund heißt. Und in der hocken am Freitagabend drei bis acht vorsichtig plaudernde Gestalten unbestimmter Herkunft herum, und während sie weder grölen noch Parolen schmettern, tröpfeln aus unsichtbaren Lautsprecherboxen ganz behutsam doofe Treuherzschlager, die Begleitgesänge deutschen Tums und deutscher Barbarei.
Im Vergleich zu der alltäglichen Erfahrung, die man macht, wenn man seinem Durstgefühl folgt, ist das nahezu plausibel, nein: gefällt das regelrecht. Man bleibt sitzen und bestellt ein viertes Glas, eines schon beinahe über den Durst. Das ist gewiß ein gewissermaßen dialektischer, ein verzwickter Vorgang, eine annäherungsweise adornitisch komplexe, gleichwohl prima praktische Erkenntnis, hab’ ich den Eindruck. So weit hat uns die Welt mittlerweile gebracht. Oder eben mich. O Wirrnis!