Читать книгу Gefahren - Abwehr - Jürgen Ruhr - Страница 5
II.
ОглавлениеGisbert stellte sich als ein ruhiger Geselle heraus, der kaum ein Wort zu viel verlor. Vielleicht lag es aber auch daran, dass meine Laune in Hinblick auf die Begegnung mit Weser schon nach kurzer Zeit fast am Nullpunkt anlangte und ich auch keinen Hehl daraus machte. Da half auch die Vorfreude auf Wesers Bemerkungen bezüglich des Praktikantenoutfits nichts.
Ich klingelte erneut und blickte auf meine Uhr. Zehn Uhr achtundfünfzig. Wir waren pünktlich. Aber niemand öffnete. Befand sich Weser überhaupt im Haus?
Ich blickte an dem alten Fachwerkhaus hoch, das mit der Giebelseite an einem kleinen Fußweg stand. Zur Straße hin schottete eine ungepflegte überdimensionierte Mischhecke das Grundstück ab. Alles sah immer noch so ungepflegt aus, wie ich es in Erinnerung hatte. Bei Weser schien die Zeit stillzustehen. Einmal, als Chrissi und ich, wegen Recherchen hier bei ihm gewesen waren, hatte der alte Mann aus einem der oberen Giebelfenster geschaut und uns beobachtet. Aber diesmal stand dort kein Herr Weser. Alles schien verlassen und leer. Hatte der Mann unseren Termin vergessen?
Wieder drückte ich den Klingelknopf und wartete eine Weile.
Und wieder geschah nichts. Inzwischen rückte der große Zeiger meiner Uhr bedenklich auf die Fünfzehn. Offensichtlich war der alte Mann wirklich nicht zu Hause.
„Wir verschwenden nur unsere Zeit“, knurrte ich und meine Laune sank weit unter den Nullpunkt.
„In magnis et voluisse sat est“, meinte mein junger Praktikant und grinste mich an. Fast hätte ich ihm gezeigt, was ein echter Uppercut ist, erinnerte mich dann aber an Bernds Worte und fragte lediglich: „Was für eine magische SAT?“
Gisbert lachte und wiederholte: „In magnis et voluisse sat est. Das bedeutet: Im Großen ist es auch genug, gewollt zu haben. Wir haben es halt versucht ...“
Ich stöhnte auf. Wen interessierte jetzt schon dieser dämliche lateinische Quatsch? „Klugscheißer“, gab ich von mir und sprach diesmal wesentlich lauter und deutlicher als zuvor im Krav Maga Studio. Jennifer sollte schnellstmöglich ihren Besserwisser - Praktikanten zurückerhalten. Ich plante gerade zum Studio zurückzufahren und Gisbert dort abzuliefern, als sich mir ein Gewehrlauf in die Schulter drückte. Das Gefühl hielt nur wenige Sekunden an, dann vernahm ich eine Stimme hinter mir: „Wollen sie zu mir? Ich bin nicht zu Hause.“
Langsam drehte ich mich um, immer darauf gefasst in die Mündung einer Waffe zu blicken. In Gedanken ging ich alle Arten von Langwaffen durch, die in Frage kommen könnten. Die Berührung fühlte sich ungewöhnlich an. Es musste sich um eine großkalibrige Waffe handeln, vermutlich sogar um eine Schrotflinte. Wer um alles in der Welt lief hier am helllichten Tag mit einer Schrotflinte durch die Straßen?
Aus dem Augenwinkel erkannte ich, dass sich mein zwangsläufiger Partner ebenfalls umdrehte, wobei er wesentlich sorgloser wirkte als ich. Aber Gisbert war ja auch kein ausgebildeter Detektiv und Personenschützer. Während der Drehung hob ich langsam meine Hände auf Schulterhöhe, um keine voreilige Aktion zu provozieren.
‚Privatdetektiv am helllichten Tag von durchgeknalltem Amokläufer erschossen‘, sah ich die Schlagzeile in den Medien schon vor mir. Dann erblickte ich in vielleicht einem Meter Entfernung einen alten, dicken Mann, der sich auf seinen Gehstock stützte.
Herr Weser.
Rasch nahm ich meine Hände wieder herunter und schielte zu dem Praktikanten. Gut, der hatte mein Verhalten zum Glück nicht mitbekommen und grinste jetzt den alten Mann freundlich an.
„Potius sero quam numquam“, gab er immer noch grinsend von sich und blickte dann zu mir herüber: „Lieber spät als niemals“, übersetzte er dann freundlicher Weise und erntete von mir nur ein böses Knurren, gefolgt von einem leisen ‚Oberklugscheißer‘, was Weser aber nicht hören konnte. Ich kannte ja dessen Art und wollte den Alten nicht jetzt schon verärgern.
Plötzlich drang Wesers Stimme an mein Ohr: „Also, was ist? Sind sie stumm oder sprechen sie unsere Sprache nicht? Ich bin nicht zu Hause. Wollen sie jetzt zu mir oder nicht?“
Ich fasste mich. Einem ausgebildeten Krav Maga Kämpfer, Privatdetektiv und Personenschützer fällt es nicht schwer, eine Situation von einer Sekunde zur anderen zu erfassen und angemessen zu reagieren.
„Herr ... Herr Weser, also ich ... ich, also“, begann ich, wurde aber von meinem voreiligen Praktikanten unterbrochen.
„Guten Tag, Herr Weser. Natürlich wollen wir zu ihnen.“
Weser beäugte uns misstrauisch. „Wer sind sie überhaupt? Glauben sie denn, es kann jeder so einfach zu mir wollen? Dazu brauchen sie einen Termin. Sind sie von einer Sekte, oder wollen sie mir etwas verkaufen?“
Bevor Gisbert mir jetzt wieder über den Mund fahren konnte, erklärte ich schnell: „Sekte, also eher ...“
„Mit Sekten will ich nichts zu tun haben“, unterbrach mich der Alte und hob drohend den Stock, den ich zuvor für eine Schusswaffe gehalten hatte. Aber wie ich als Kämpfer ja wusste, konnte auch ein Stock zur gefährlichen Waffe werden ...
„Nein, wir sind von keiner Sekte und wir wollen ihnen auch nichts verkaufen“, erklärte Gisbert jetzt und mir gingen zum ersten Mal konkrete Mordgedanken durch den Kopf. Was bildete sich dieser siebzehnjährige Schnösel eigentlich ein? Ich war hier der Chef und er lediglich der Praktikant. Er sollte zuhören, beobachten und lernen und nicht seinem Chef ins Wort fallen. Ein böser Blick von mir sollte Gisbert zur Ruhe bringen. Jetzt konnte er einmal beobachten, wie man mit so schwierigen Menschen wie diesem Herrn Weser umgehen musste.
„Herr Weser! Wir sind von keiner Sekte und wollen ihnen auch nichts verkaufen“, begann ich meine kurze Erklärung, wurde von dem dicken Alten aber direkt wieder unterbrochen.
„Ja, das sagte dieser adrette junge Mann schon. Sind sie ein Papagei, dass sie ihm alles nachquatschen?“ Weser lachte meckernd: „Sie in ihrer hellblauen Hose und der grünen Jacke sehen wirklich so aus wie ein Paradiesvogel. Fehlt noch ein Wenig Gelb oder Rot ...“
„Mein Name ist Gisbert Orbach“, drängte sich der Grünschnabel wieder in den Vordergrund und wagte es sogar dem Alten seine Hand hinzuhalten. Doch jetzt wurde es mir zu viel. Ich drückte seinen Arm herunter und hielt nun meinerseits Weser die Hand hin. „Ich bin es doch, Jonathan Lärpers“, erklärte ich mit einem freundlichen Lächeln. „Von der Detektei Argus.“
Weser sah mich fragend an, nahm aber nicht die dargebotene Hand. Dann nickte er: „Ja, jetzt erkenne ich sie an dem dämlichen Grinsen. Herr Läkters. Sie haben da aber etwas im Gesicht, was sie ziemlich fremd aussehen lässt ... Und was soll das mit dem Argusauge sein?“
„Detektei Argus“, erklärte ich und bekam wieder dieses mir bekannte Gefühl, das zwischen Ohnmacht und Wut rangierte. Erleichterung würde mir nur der Tod des Alten verschaffen.
„Aber können wir nicht erst einmal in ihr Haus gehen? Wir müssen doch nicht alles hier auf der Straße besprechen.“
Wieder blickte mir Weser ins Gesicht. Es vergingen einige schweigende Minuten, dann schüttelte er den Kopf: „Was wollen sie in meinem Haus? Und außerdem ist das hier keine Straße, sondern ein Gehweg. Was wollen sie überhaupt von mir?“
Immer noch stand ich mit dem ausgestreckten Arm vor ihm, zog aber schließlich meine Hand zurück. In diesem Moment wollte Weser allerdings danach greifen und meinen freundlichen Gruß erwidern, griff allerdings ins Leere.
Gisbert, der wohl nur auf diese Gelegenheit gewartet hatte, ließ seine Hand wieder vorschnellen und schüttelte nun seinerseits die Pranke des alten Mannes. „Wir sind wegen ihres Koffers hier“, erklärte er und schwebte jetzt nahe vor dem Punkt, an dem ich ihn niederschlagen würde. Bernd hin oder her.
„Mein Koffer? Was ist mit meinem Koffer?“, fragte Weser und blickte irritiert von einem zum anderen.
Gisbert, der sich offensichtlich kein bisschen um das Verhältnis Chef und Praktikant scherte, erklärte nun geduldig: „Ihnen ist doch am Flughafen Düsseldorf ein Koffer abhandengekommen und sie haben unseren Chef, Bernd Heisters, angerufen, dass wir ihnen bei der Wiederbeschaffung behilflich sind.“
Jetzt war eigentlich der Moment gekommen, in dem ich meinen treuen Revolver zücken und diesen penetranten Praktikanten erschießen sollte. Doch ich hielt mich zurück und verfluchte lediglich im Stillen Bernd, der mir dieses Bürschchen aufgebürdet hatte.
„Ja, mein Koffer“, vernahm ich Wesers Stimme. „Aber warum kommen sie nicht mit mir ins Haus? Wir müssen doch nicht alles hier auf der Straße besprechen. Warum sagen sie denn nichts, Herr Lumpers? Sie scheinen durch geistige Abwesenheit zu glänzen!“
„Gehweg“, stieß es aus mir hervor. Eigentlich wollte ich das gar nicht sagen.
„Gehweg?“, echote Weser fragend und ich nickte: „Gehweg. Nach ihren eigenen Worten ist dies keine Straße, sondern ein Gehweg.“
Weser nickte und kramte umständlich in seinen Taschen: „Ja natürlich, Gehweg. Wieso reden sie auch immer von Straße, Leppers?“
Ich stöhnte, während Weser das alte Tor aufschloss, das endlich den Weg zu seinem Haus freigab. Die wild wuchernde Hecke und das Tor machten aus dem kleinen Grundstück den idealen Hochsicherheitstrakt.
„Nun kommen sie doch endlich herein, ich kann das hier ja nicht ewig aufstehen lassen“, murrte der alte Mann und schloss anschließend hinter uns sorgfältig wieder ab. Sollte jemand versuchen einzubrechen, so würde derjenige sich die Zähne daran ausbeißen.
Endlich führte Weser uns in das Wohnzimmer. Wieder entrang sich meiner Kehle ein Stöhnen. Seitdem ich das letzte Mal hier gewesen war, hatte sich nichts verändert: Immer noch dominierten die klobigen und aus der Mode gekommenen Eichenmöbel den Raum. Ich blickte mich um. Nein, etwas war anders. Ich rieb mir die Augen. Wesers Fernseher, der auf einem kleinen Schränkchen gegenüber der Sitzecke stand, war damals schon antiquiert gewesen. Jetzt aber prangte an dem Platz ein ziemlich großes Röhrengerät, das schon bessere Zeiten gesehen hatte. Im Zeitalter von Flachbildgeräten, HDTV und curved Fernsehern war das hier eine echte Antiquität.
Weser bemerkte meinen Blick und meinte stolz: „Ja, da stauen sie, was Lüllers? Das ist ein siebenundzwanzig Zoch Gerät, also neunundsechzig Zentimeter in der Dogalen. So etwas hat nicht jeder ...“
„Das stimmt“, gab ich zu, „so etwas hat nicht jeder. Heutzutage nicht mehr.“
Gisbert, der inzwischen auf einem Sessel Platz genommen hatte, konnte sich natürlich einer Bemerkung nicht enthalten: „Sie meinen bestimmt Zoll, Herr Weser. Und neunundsechzig Zentimeter in der Diagonalen. Das ist von schräg unten links nach schräg oben rechts. Oder von schräg oben links nach schräg unten rechts, oder von schräg oben rech...“
„Ja danke Mister Superklugscheißer“, unterbrach ich den Praktikanten. „Das wissen wir alles selber!“
Gisbert sah mich merkwürdig an, fuhr aber in seinen Ausführungen ungerührt fort: „Und neunundsechzig Zentimeter sind exakt siebenundzwanzig Komma eins - sechs - fünf - vier Zoll.“
Ich kochte. Wir waren nicht hier, um über Uraltfernseher zu debattieren, sondern um diesen dämlichen Koffer wiederzufinden. „Gisbert, das interessiert wirklich niemanden.“
Weser schüttelte den Kopf: „Doch, Herr Leuckes, das ist hochinteressant. Ich bin ja froh, endlich einmal mit einem Fachmann zu sprechen. Offensichtlich sind sie auch großer Fernsehfan, Herr Orbach!?“
„Ich werde zwar bald Rechtswissenschaften studieren, interessiere mich aber für jegliche Technik. So wie es vielleicht jeder halbwegs an seiner Lebensumgebung interessierte Mensch auch tun sollte“, strunzte der Praktikant und bekam im Geiste von mir den Titel ‚Mister Superschleimer - Besserwisser‘.
„Sehen sie, Herr Lümpels, da sollten sie sich ein Beispiel dran nehmen“, wandte Weser sich jetzt an mich und lächelte gleichzeitig dem jungen Mann zu. „Selbst ich als alter Mann verfüge ja über fundiertes Technikwissen!“
„Nec me ulla res delectabit, licet sit eximia et salutaris, quam mihi uni sciturus sum“, gab Gisbert jetzt mit einem Grinsen von sich. „Das heißt so viel wie ...“
Weser wedelte mit der Hand: „Warten sie, warten sie.“ Er hob den Blick zur Decke und ich folgte ihm mit den Augen. Eine lustige Girlande aus Spinnweben schaukelte leicht hin und her.
Die Sekunden vergingen.
„Ich hab‘s“, gab Weser schließlich von sich. „Nichts Edles und Heilsames bereitet mir allein Freude und Wissen.“
„Fast richtig, lieber Herr Weser“, bestätigte Gisbert. „Genau übersetzt heißt es aber: Nichts, und sei es noch so edel und heilsam, kann mir Freude bereiten, wenn ich es für mich allein wissen soll.“
„Bravo, junger Mann“, begeisterte sich Weser. „Wie ist es aber hiermit: Fas est et ab hoste doceri?“
Gisbert blickte nun ebenfalls zur Decke, brauchte aber nur einen Bruchteil der Zeit, die Weser zum Überlegen genutzt hatte. „Recht ist es, auch vom Feind zu lernen“, übersetzte er schließlich mit einem breiten Grinsen.
„Bravo, bravo! Ganz ausgezeichnet, junger Mann. Sie scheinen ihre Hausaufgaben aber gemacht zu haben. Und dieser hier: Istis dice…“
„Halt, halt“, unterbrach ihn der Praktikant, „jetzt bin ich dran: Non vitae sed scholae discimus.“
Weser klatschte lachend in die Hände. Diesmal blickte er nicht zur Decke und zu seinen Spinnweben, sondern lieferte direkt die Lösung: „Nicht für das Leben, sondern für die Schule lernen wir. Aber wer hat’s gesagt? Nun, junger Mann, wissen sie das auch?“
„Natürlich. Das Zitat stammt von Lucius Annaeus Seneca.“
„Ausgezeichnet, ausgezeichnet!“ Weser konnte sich vor Freude kaum noch halten, während ich überlegte, ob mein Revolver auch komplett geladen war. Schließlich wollte ich nicht, dass mir die Kugeln ausgingen, wenn ich diese beiden Idioten jetzt erschießen würde …
„Seneca verwendete ihn in einem Brief an seinen Schüler Lucillius.“ Gisbert schien in seinem Element zu sein. Jetzt galt es diesem Unsinn ein Ende zu bereiten, sonst säßen wir heute Abend noch hier.
„Prima, prima meine He…“, hob ich zu sprechen an, wurde aber von Weser unterbrochen.
„Homines, dum docent, discunt“, verkündete der alte Mann und hob dabei theatralisch die Arme. Ich kam mir vor wie bei einer schlechten Schüleraufführung.
„Beim Lehren lernen die Menschen“, sprudelte es auch sogleich aus Gisbert hervor und diesmal trat der dicke Weser zu dem sitzenden Jungen, streckte ihm seine rechte Hand mit der Innenfläche hin und meinte: „Fiff me five.“
Gisbert klatschte lachend ein.
„Error human isst“, gab ich jetzt meine mühsam zusammengekratzten Lateinkenntnisse zum Besten. Was die beiden konnten, bereitete doch einem Jonathan Lärpers keine Mühe.
„Errare humanum est“, erklang es von Weser und Gisbert gleichzeitig und beide sahen mich kopfschüttelnd an.
„Können wir dann endlich zum Thema kommen?“, wollte ich wissen und nahm jetzt ebenfalls auf einem der Sessel Platz.
„Eines noch“, verkündete Weser und blickte den Praktikanten verschmitzt an: „Fällt ihnen zu dem Spruch von Herrn Liepers noch etwas ein?“
Gisbert nickte ernst: „Die Redewendung ist nicht vollständig, sondern müsste korrekt lauten: Errare humanum est, sed in errare perseverare diabolicum. Irren ist menschlich, aber auf Irrtümern zu bestehen ist teuflisch. Der Spruch stammt aber nicht von Seneca, sondern geht auf den Kirchenvater Sophronius Eusebius Hieronymus zurück.“
„Sehr gut, sehr gut“, begeisterte sich Weser. „Sie sind ja das reinste wandelnde Lexidon.“
„Lexikon“, korrigierte ich jetzt grinsend und schob direkt hinterher: „Herr Weser wir sind nicht wegen irgendwelcher veralteten Sprüche hier, sondern wegen ihres verschwundenen Koffers. Vielleicht laden sie den jungen Mann ja einmal zu sich ein, dann können sie so viel über tote Dichter und Sprachen reden wie sie wollen. Jetzt setzen sie sich aber endlich und lassen sie uns zum Thema kommen!“
„Darf ich ihnen etwas zu trinken anbieten?“, fragte Weser ungerührt meiner Worte. „Einen Saft vielleicht, Herr Lüfters?“
„Ja“, nickte ich. „Ein Saft wäre jetzt genau das Richtige.“ Vor lauter Lateinquatsch war mir die Kehle ganz trocken geworden.
„Das sieht ihnen ähnlich“, ließ sich der Dicke jetzt vernehmen. „Wieso wollen sie immer das trinken, was ich nicht im Haus habe?“
„Aber … aber sie haben mir“, stammelte ich und es verschlug mir die Sprache. Wenn er keinen Saft im Haus hatte, warum bot er ihn mir erst an? „Was haben sie denn?“
„Wasser. Klares, gesundes Wasser.“
„Gut, denn nehme ich auch ein Mineralwasser“, seufzte ich und sehnte mich zurück an meinen Strand in Spanien. Noch ein paar Stunden bei diesem furchtbaren Menschen hier und vier Wochen Erholung wären für die Katz gewesen.
Weser verschwand in der Küche, die ebenfalls mit diesen klobigen und hässlichen Eichenmöbeln vollgestopft war. Sekunden später hörte ich den Wasserhahn rauschen.
„So, hier. Sehr zum Wohle.“ Weser reichte dem Praktikanten und mir Gläser mit Wasser. Skeptisch schaute ich mir das Getränk an. Von ‚Sprudel‘ konnte da keine Rede sein. Oder verfügte der alte Mann nur über stilles Wasser? „Ohne Kohlensäure?“, fragte ich deshalb auch und betrachtete mehrere kleine bräunlich - graue Stücke, die am Boden des Glases lagen. Ich hätte schwören können, dass es sich dabei um Kalk handelte. Aber das konnte doch eigentlich nicht sein, oder? Vielleicht wurde das Glas nicht ordentlich ausgespült.
Vorsichtig nahm ich einen Schluck. Die Brühe war lauwarm und schmeckte im günstigsten Fall ‚merkwürdig‘.
„Kohlensäure?“ Weser schüttelte ungläubig den Kopf. „Das ist Leitungswasser, da ist keine Kohlensäure drin!“
„Herr Weser, wir sind wegen ihres Koffers hier. Er ist ihnen am Flughafen in Düsseldorf abhandengekommen. Das stimmt doch, oder ist er schon in Polen verschwunden?“ Vielleicht wurde ja doch mein Einsatz vor Ort erforderlich. Und wenn schon nicht Dublin, dann wenigstens Lublin in Polen.
„Ja, das wissen sie ja schon alles. Der Koffer ist in Düsseldorf verschwunden. Ich habe da so am Gepäckband gestanden aber mein Koffer kam einfach nicht. Dann war ich ganz alleine. Ohne Koffer.“
„Gut“, bestätigte ich ein wenig enttäuscht. Also doch Düsseldorf. „Wie sah der Koffer denn aus?“
„So wie ein Koffer halt aussieht. Kofferartig.“
Jetzt mischte sich unnötigerweise wieder das Praktikantenbürschchen ein: „Welche Farbe hatte der Koffer denn und wie groß war er ungefähr?“
Das wären auch meine nächsten Fragen gewesen.
„So silbern“, erklärte Weser. „Wie Alukoffer halt aussehen. Und er war so groß.“ Weser riss die Arme auseinander und stieß dabei mein Wasserglas um. Lauwarmes Leitungswasser, reichlich ausgestattet mit Kalkresten, ergoss sich über meine Hose. Entgeistert blickte ich auf meine nassen Hosenbeine.
„Oh, das tut mir aber Leid“, seufzte der Alte grinsend, machte aber keine Anstalten ein Handtuch oder etwas Ähnliches zu holen. Zum Glück war das Glas nicht zersprungen und ich musste an meinen Spiegel denken. Hatte man eigentlich auch Unglück, wenn so ein Spiegel nur von der Wand fiel? Es kam mir fast so vor, denn vielleicht war dies hier alles die Strafe dafür, dass er heruntergefallen war. Mit der bloßen Hand wischte ich über den feuchten Stoff, bewirkte aber nichts.
„Fällt ihnen sonst noch etwas zu dem Sch... Koffer ein? Was war denn eigentlich da drin?“, erkundigte ich mich schlecht gelaunt. Es wurde Zeit, das Weite zu suchen.
Weser räusperte sich und setzte eine verschwörerische Mine auf: „Ich musste ja nach Polen reisen, weil eine entfernte Tante von mir gestorben war und ich zu den Miterben gehöre. Wir haben uns in dem Haus der Tante getroffen und alles aufgeteilt, was wir gebrauchen konnten. Allerdings war das hauptsächlich alter Krempel, die Tante musste ein wenig verschroben gewesen sein. Ich habe mich entschieden, einige Vasen und hauptsächlich Heiligenbilder und so etwas mitzunehmen. Vielleicht sind die Sachen ja sogar wertvoll und ich kann sie irgendwo verkaufen. Aber jetzt sind sie weg, verschwunden mit meinem Koffer zusammen. Mehr weiß ich aber auch nicht.“
„Gut, schönen Dank, Herr Weser. Für alles“, fügte ich mit einem Blick auf meine Beinkleider hinzu und erhob mich. „Wir kümmern uns darum. Sobald ich etwas Näheres erfahren habe, melde ich mich wieder bei ihnen.“
Zum Glück tat es mir der Praktikant nach und wir folgten Weser zur Haustür. „Ich habe auch Kaffee“, fiel dem Mann im Hausflur plötzlich ein. „Kennen Sie schon meinen Kaffeeautomaten?“
„Herr Weser, wir gehen jetzt. Immerhin muss ich ja noch ein wenig arbeiten. Und ihre Kaffeemaschine kenne ich schon, es sei denn sie besitzen inzwischen eine neue. Aber dazu kommen wir dann vielleicht ein andermal.“ ‚Oder besser nie‘, fügte ich in Gedanken hinzu.
Wir verabschiedeten uns, wobei Weser mich kurz zur Seite nahm. Ich dachte, jetzt will er mir irgendetwas über den Praktikanten sagen, doch der Alte raunte mir zu: „Im Vertrauen, Herr Lösers. Warum tragen sie diesen schrecklichen Bart? Müssen sie etwas überdecken im Gesicht? Haben sie am Ende Hämorrhoiden am Mund?“
„Hämorrhoiden?“, fragte ich und sah Weser fragend an. Was meinte der Alte denn jetzt wieder?
„Ja, diese Bläschen, die man schon mal am Mund hat.“
„Sie meinen Herpes“, stellte ich klar. „Nein, Herr Weser. Das habe ich nicht. Der Bart ist eine reine Männerzierde.
„Wenn ihr Rasierer defekt ist, kann ich ihnen gerne einen von meinen leihen. Ich habe mehrere davon“, bot er großzügig an, während er mich durch das Tor schob und es krachend hinter mir zuschlagen ließ. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss und Weser war verschwunden. Ich atmete erleichtert auf.
„So, jetzt ab ins Büro. Du kannst dann ja Jennifer wieder zur Hand gehen. Ich wandte mich Richtung Straße, als uns eine Mutter mit ihrer kleinen Tochter entgegenkam. Vorlaut verkündete die Göre, als sie mich erblickte: „Du Mama, hat der Onkel da in die Hose gemacht?“
Die Mutter sah mich kopfschüttelnd an und erklärte ihrer Tochter so laut, dass wir es auch bestimmt verstehen mussten: „Ja, der Mann scheint Pippi in die Hose gemacht zu haben. So etwas passiert dir aber nicht mehr, du bist ja schon ein großes Mädchen.“ Immer noch kopfschüttelnd schob sie das kleine Mädchen in einem großen Bogen an uns vorbei.