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VI.
ОглавлениеFür eine Mittagspause war es leider noch zu früh und so entschloss ich mich, vom Bahnhof direkt zum Krav Maga Studio und zu Bernd zurückzufahren.
„Ich möchte zu gerne wissen, was in dem Koffer ist“, plauderte ich mit meinem jungen Gehilfen während der Autofahrt. Er war die letzte Zeit auffallend still gewesen und ich überlegte, ob es daran lag, dass der Bahnangestellte mir nach meinem gutgemeinten Gruß einige Bosheiten hinterhergerufen hatte. Auch er rief irgendetwas von ‚Anzeige wegen Beamtenbeleidigung‘ und ich fragte mich, warum die Leute dort so empfindlich waren.
Gisbert sah mich entsetzt an: „Das werden wir schon noch früh genug erfahren. Du willst doch wohl so kurz vor dem Ziel nicht doch noch in den Koffer hineinschauen? Domo curiositatis!“
„Ja, ja jetzt fängst du auch noch mit Griechisch an“, stöhnte ich. „Homo sirtaki.“ Ich bog auf den Parkplatz vor dem Krav Maga Studio.
„Domo curiositatis - bezähme deine Neugier“, ließ sich Gisbert vernehmen und stieg aus dem Wagen.
„Habt ihr den Koffer geöffnet?“ Bernd schaute von mir zu Gisbert und wir beiden schüttelten gleichzeitig den Kopf.
„Nein, genau wie du gesagt hast. Leider war er aber nicht mehr im Schließfach, sondern mittlerweile bei der Gepäckaufbewahrung. Die leeren nach zweiundsiebzig Stunden die Schließfächer und da...“
„Gut, dann wollen wir einmal sehen, womit wir es hier zu tun haben“, unterbrach mein Freund meine wichtigen Erklärungen. „Gehen wir in das Labor und schauen, was sich darin befindet, bevor wir den Koffer öffnen.“
Bernd schob das Gepäckstück in den kleinen Scanner. Sekunden später erschien auf dem Computerbildschirm das gewohnt krisselige und kaum zu erkennende Abbild des Koffers.
Mein Freund pfiff durch die Zähne: „Na da schau mal einer an. Gut, dass du deine Finger von den Schlössern gelassen hast, Jonathan.“
„Warum?“, erkundigte ich mich und blickte auf das Schwarzweißbild. Ehrlich gesagt konnte ich nicht viel erkennen.
„Deswegen hier.“ Bernd zeigte mit dem Finger auf eine kleine weiße Linie, die vom Rand des Koffers ins Innere führte. „Das ist ein kleines Kabel. Erkennst du es, Jonathan?“
„J... ja sicher. Ein Kabel, genau. Wenn du es sagst.“
„Du erkennst überhaupt nichts, stimmt’s?“, hakte Bernd nach und sah mich von der Seite an.
„Doch, doch.“ Und ich sah ja wirklich etwas. Dunkle und helle Linien und die ungefähre Form des Koffers. Konnte Bernd nicht endlich zum Punkt kommen und sein Ratespiel beenden?
„Könnte das eine Bombe sein?“, mischte sich der naseweiße Praktikant jetzt auch noch ein und ich stöhnte leise auf.
Bernd nickte: „Eine Sprengfalle. Versucht jemand das Schloss aufzubrechen, dann geht der ganze Koffer in die Luft. Hier“, er zeigte auf einige dunkle Flecke, „das könnte Sprengstoff sein und das hier sieht stark nach einer Pistole aus.“
„Na wunderbar“, äußerte ich mich. „Gut, dass wir den Koffer nicht geöffnet haben. Und gut, dass in Wesers Koffer mit dem Schlüssel keine Bombe war.“
Bernd holte den Alukoffer vorsichtig aus dem Scanner und verfrachtete ihn anschließend in den gläsernen Kasten, der wie ein kleiner Sarg aussah und innen über zwei Greifarme verfügte. Der Behälter war quasi bombensicher und konnte Explosionen bis zu einer bestimmten Stärke problemlos aushalten. Mit den Greifarmen ließen sich Zündmechanismen entschärfen. Außerdem bewahrte mein Freund in einem Wandschrank mehrere Schutzanzüge auf, die mich eher an monströse Raumanzüge erinnerten.
Ich trat zu dem Schrank und wollte ihn gerade öffnen, als Bernd mich fragend anblickte: „Was hast du vor, Jonathan?“
„Ich will mir einen Schutzanzug anziehen, fall der Koffer explodiert.“
Bernd lachte leise: „Keine Sorge, so weit sind wir noch nicht. Ich werde Sam hinzuholen, er soll sich mit den Zahlenschlössern beschäftigen. Vielleicht können wir den Koffer ja auch ohne Explosion öffnen.“ Er zog sein Handy heraus und drückte eine Kurzwahlnummer.
Zwei Minuten später beendete er das Telefongespräch mit Jennifer und wandte sich zu Gisbert und mir: „Sam kann in einer halben Stunde hier sein. Er lässt alles liegen und stehen und macht sich direkt auf den Weg. Aber ich habe gerade noch eine schlechte Nachricht von Jennifer erhalten: Herr Weser wurde überfallen und befindet sich im Elisabeth Krankenhaus. Sobald wir mehr über den Koffer wissen, solltet ihr zu Weser fahren und schauen, was da los war. Leider verfügt Jennifer nicht über mehr Informationen, die Schwester, die hier anrief, äußerte sich wohl nicht näher. Jedenfalls gab Weser mich im Krankenhaus als Kontaktperson an.“
„Weser wurde überfallen?“, fragte ich noch einmal nach. Wer sollte den dicken alten Mann überfallen und wann? „Warum nur? Und wann war das?“
Bernd stöhnte auf: „Jonathan, ich habe doch gerade erklärt, dass wir all das noch nicht wissen. Du und Gisbert ihr fahrt heute Nachmittag zum Krankenhaus und befragt den Mann.“
Ich überlegte gerade, mich bei Bernd noch zu erkundigen, wo der Überfall denn stattgefunden hatte, als Sam den Raum betrat. Er begrüßte uns und blickte dann auf den Koffer in dem Glaskasten.
„Das ist das gute Stück? Und die Schlösser sind mit Sprengladungen verbunden?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, trat er an den Schrank und holte einen der Schutzanzüge heraus. Ich beeilte mich, ebenfalls einen Anzug aus dem Schrank zu nehmen, aber Sam schüttelte den Kopf und schob mich zur Seite: „Ihr braucht keine Anzüge. Die Sache muss ich alleine machen, denn die Greifarme im Kasten kann ich dabei nicht benutzen. Um die Zahlenkombinationen einzustellen, brauche ich das Gefühl meiner Finger. Außerdem besteht doch offensichtlich keine Gefahr, solange man nicht versucht, die Schlösser aufzubrechen. Ihr solltet aber solange draußen auf dem Gang warten.“
Ich nickte und trat rasch durch die Tür. Dieser Raum war eine Art Bunker und selbst eine Explosion würde kaum nach außen dringen. Trotzdem überlegte ich, ob es vielleicht besser wäre, im Auto auf dem Parkplatz zu warten. Man konnte ja nie wissen ...
„Wo willst du hin, Jonathan?“, fragte Bernd, der gerade in den Gang trat.
„Ich glaube, ich habe etwas im Auto vergessen. Ich bin dann gleich wieder da.“
Bernd schüttelte den Kopf: „Du kannst ruhig hier warten. Ihr müsst doch später sowieso zu deinem Wagen, wenn ihr zu Weser ins Krankenhaus fahrt.“
Während Sam von innen die Tür sorgfältig verschloss, nickte ich resigniert. Im Falle einer Explosion wäre ich direkter Zeuge der Angelegenheit. Hoffentlich ein nachher noch lebender Zeuge. In diesem Moment gab es ein krachendes Geräusch und ich warf mich zu Boden. ‚Armer Sam, du warst immer ein guter Freund gewesen‘, dachte ich und wartete auf den Rauch der Explosion.
Dann hörte ich den kleinen Asiaten lachen: „Was machst du denn da am Boden, Jonathan? Erschreckt dich jetzt schon eine Türe, die gegen die Wand schlägt? Sorry, aber die Klinke ist mir aus der Hand gerutscht.“
Bernd und Gisbert beugten sich interessiert über den Koffer, während ich mich skeptisch im Hintergrund hielt. Sam hatte den Schutzanzug abgelegt und trug jetzt Schutzhandschuhe aus dünnem Latex. Nacheinander nahm er die Gegenstände aus dem Koffer und legte sie auf den Tisch. Dabei kommentierte er seine Funde: „Eine Heckler & Koch SFP9 SD Pistole mit Schalldämpfer. Sieht ziemlich neu aus.“ Dann stieß er einen leisen Pfiff aus: „Das ist Gelatinesprengstoff. Wow, da will aber jemand ein richtiges Feuerwerk zünden. Zehn Patronen mit je einhundertfünfundzwanzig Gramm. Und hier sind auch die entsprechenden Zünder mit Funkempfängern dazu. Und natürlich der Sender! Und voilà“, er hob einen gefalteten Plan in die Höhe, „dies ist ein detaillierter Plan des Kraftwerkes Fortuna in Düsseldorf. Zumindest wissen wir jetzt, was hier geplant wurde.“
Bernd betrachtete den Koffer und die auf dem Tisch liegenden Gegenstände eingehend. Auch er trug mittlerweile diese Schutzhandschuhe, wie sie von den Spezialisten der Polizei ebenfalls benutzt werden. „Ich untersuche noch alles eingehend auf Fingerabdrücke. Allerdings befürchte ich, dass ich wenig Glück habe, denn mir scheint, dass es sich bei den Leuten, mit denen wir es hier zu tun haben, um Profis handelt. Zunächst aber werde ich den Oberstaatsanwalt Eberson über unseren Fund informieren. Ich glaube, das ist ein Fall für das Landeskriminalamt. Außerdem sollte vielleicht auch die Ministerpräsidentin informiert werden. Aber die Entscheidungen trifft Eberson. Ich befürchte allerdings, dass wir in Kürze die Leute vom LKA im Haus haben werden ... Da kommt noch Einiges auf euch zu, Jonathan und Gisbert!“
Ich stöhnte. Nichts würde mir mehr Spaß machen, als stundenlang vom LKA verhört zu werden. Aber unter den Tisch konnten wir unseren Fund ja auch nicht kehren ...
„Ihr fahrt jetzt auf jeden Fall erst einmal ins Krankenhaus zu Herrn Weser“, bestimmte Bernd und ich spürte einen guten Teil Erleichterung, aus dem Gefahrenbereich des Sprengstoffes wegzukommen.
Sam sah Bernd fragend an.
„Weser wurde überfallen“, erklärte der dem Asiaten. „Näheres wissen wir allerdings noch nicht, weswegen Gisbert und Jonathan jetzt auch ins Krankenhaus fahren und sich schlau machen. Mich würde nicht wundern, wenn der Überfall irgendwie mit dem Koffer zusammenhängt. Wir treffen uns heute Nachmittag oben in der Bibliothek. Sam, wenn du willst, kannst du auch dabei sein.“
Sam nickte: „Gut, ich habe zwar noch etwas zu erledigen, werde aber zusehen, dass ich spätestens um fünf wieder hier bin. Wartet aber auf jeden Fall auf mich.“
Während ich in dem Parkhaus einen freien Platz suchte, zwinkerte ich meinem Gehilfen zu: „Weser ist ein ziemlich penetranter Geselle. Ich könnte mir vorstellen, ihm wollte einfach einmal jemand zeigen, dass er nicht immer so garstig sein sollte. Vielleicht einer der Nachbarn oder so ...“
Aus den Augenwinkeln beobachtete ich, wie Gisbert den Kopf schüttelte: „Das macht keinen Sinn und ist auch nicht logisch. Ich denke, Bernd wird mit seiner Vermutung richtig liegen.“
Jetzt lag es an mir den Kopf zu schütteln und im gleichen Moment erklang ein leises Knirschen, als ich mit dem rechten Kotflügel einen Pfeiler streifte. Dass die Auffahrten aber auch so eng sein mussten ... Außerdem hatte Gisbert mich durch seine unbedachte Äußerung abgelenkt. „Nein, junger Praktikant. Wie sollte denn der Eigentümer des Sprengstoffkoffers wissen, wo Weser wohnt? Oder dass es einen Herrn Weser überhaupt gibt? Glaube mir, meine Detektivspürnase sagt mir, dass irgendein Nachbar den Alten verprügelt hat.“
„Und wenn in Wesers Koffer eine Adresse von ihm war. Oder Papiere mit seiner Anschrift?“, bohrte der Besserwisser weiter. Aber das konnte natürlich auch sein.
„Das wird uns Weser gleich bestimmt erzählen“, schloss ich die Diskussion und konzentrierte mich auf das Einparken.
Während wir das Krankenhaus betraten, blickte ich auf meine Uhr. Noch war es nicht zu spät für ein kurzes Mittagsmahl. Während ich mich an der Information nach der Zimmernummer erkundigte, fragte ich auch gleich nach einem Restaurant.
„Restaurant, nein. Aber es gibt hier ein Bistro“, wurde mir erklärt und gleich darauf folgte die Wegbeschreibung.
Ich klopfte Gisbert leicht auf den Arm: „Wie wär’s, gehen wir noch kurz etwas essen?“
„Wo denn? Willst du jetzt zu deiner Frittenbude fahren?
„Nein, die haben hier so ein Bistro. Zu Curry - Erwin lade ich dich ein andermal ein. Du musst ja unbedingt den ‚Lärpers Spezial‘ - Teller probieren. Da freust du dich doch schon drauf?“
„Ja, bestimmt. ‚Lärpers Spezial‘. Gut, lass uns hier ins Bistro gehen, mir knurrt der Magen.“
„Aha“, stellte ich fest, „heute Morgen nicht so üppig gefrühstückt?“
Wir entschieden uns für ein Wok - Gericht, das frisch zubereitet wurde. Als ich dem Koch beschied, mit dem Fleisch für mein Essen nicht so sparsam zu sein, blickte der mich allerdings merkwürdig an. Doch wenn man schon die freie Auswahl der Zutaten hat, warum sollte dann Gemüse überwiegen?
Während der Fahrt mit dem Aufzug auf Wesers Etage, fragte ich mich ständig, was denn hier fehlte und als sich die Türen öffneten wurde es mir bewusst: Die Aufzugmusik! Ein fröhliches Hintergrundlied würde die eintönige Fahrt doch bestimmt bereichern. Obwohl andererseits: Bei so viel Kranken und Elend könnte dies auch fehl am Platze sein.
„Jonathan, komm schon“, hörte ich Gisbert rufen und Sekunden später stoppte seine Hand die sich schließenden Türen. „Sag einmal, träumst du? Dies hier ist die Etage, auf der Herr Weser untergebracht ist.“
Weser lag in einem Dreibettzimmer. Sein Kopf war verbunden und über einen Schlauch wurde er mit irgendeiner Flüssigkeit versorgt. Der Alte schien tief zu schlafen und selbst als ich feste an seiner Schulter rüttelte, wachte er nicht auf. Ob der dicke Mann am Ende gestorben war? Ich legte ein Ohr an seinen Mund und lauschte. Nichts. Dann fiel mir der Trick mit dem Spiegel ein und ich suchte in meinen Taschen. „Gisbert hast du einen Spiegel bei dir?“
Mein Gehilfe schüttelte den Kopf. „Wofür brauchst du einen Spiegel, Jonathan? Nein, so etwas trage ich nicht bei mir.“
„Wofür? Mir scheint, Weser ist tot. Schau einmal, wie der daliegt. Und atmen höre ich ihn auch nicht.“
Der vorlaute Praktikant deutete auf einen Monitor neben dem Bett, auf dem mehrere Kurven zu sehen waren, die durch einen schwarzen wandernden Balken unterbrochen wurden. „Herr Weser lebt“, erklärte er mir mit überzeugter Stimme. „Das kann man auf dem Monitor erkennen. Wenn er tot wäre, dann würden nur gerade Linien angezeigt werden.“
„Aha, Mister Schlaumeier. Du solltest vielleicht Medizin studieren, wenn du das alles so gut kennst“, murmelte ich und hoffte, dass die anderen beiden Patienten unseren Dialog nicht mitbekommen würden. Trotzdem wollte ich mich selbst noch einmal von Wesers Zustand überzeugen und beugte mich erneut zu dem Gesicht des Dicken herunter.
Plötzlich piepste der merkwürdige Monitor lautstark auf und jetzt zeigten sich auch gerade Linien.
Weser war offensichtlich gestorben.
Ich wollte ihm gerade die Bettdecke über den Kopf ziehen, als eine Schwester und ein Arzt mit raschen Schritten den Raum betraten.
„Weg von dem Mann, rasch“, rief die Krankenschwester, die auf mich einen sehr rabiaten Eindruck machte. Dann blickte sie auf mein Jackett und ein breites Grinsen schlich sich auf ihr Gesicht. „Fehlalarm, Herr Doktor“, meinte sie dann zu dem Mann im weißen Kittel und deutete auf eine Schnur, die sich an einem der Knöpfe meiner Jacke verheddert hatte. „Der junge Mann hat den Stecker herausgezogen.“
„Aber nicht absichtlich“, protestierte ich, während die Schwester das Gerät wieder mit Herrn Weser verband. Augenblicklich hörte der schreckliche Ton auf und die gezackten Linien erschienen wieder.
Weser lebte wohl doch noch.
Der Arzt schüttelte den Kopf, murmelte etwas, das ich nicht verstand und verließ fluchtartig den Raum.
„Was hat der Herr Weser denn?“, fragte ich die Krankenschwester. Die Gelegenheit war günstig, Näheres über die Verletzungen des Alten und den Überfall zu erfahren.
„Und wer sind sie?“, fragte die Frau, anstatt mir eine vernünftige Antwort zu geben.
„Mein Name ist Jonathan Lärpers und ich bin Privatdetektiv. Herr Wese...“
„Untersuchen sie den Fall?“, unterbrach sie mich.
„Was ist denn mit Weser geschehen?“
„Der Mann wurde wohl zusammengeschlagen. So steht es jedenfalls in den Papieren. Ein Nachbar soll zufällig dazugekommen sein und hat ihm vermutlich damit das Leben gerettet. Herr Weser hat zahlreiche Verletzungen im Gesicht und ein paar angeknackste Rippen. Er wird aber in den nächsten Tagen wieder nach Hause können. Und jetzt gehen sie bitte, denn der Patient schläft und soll auch nicht gestört werden. Wir haben ihm ein starkes Sedativum geben müssen.“
Ich nickte verstehend: „Ja, wegen der Schmerzen nehme ich einmal an ...“
Doch die Schwester schüttelte den Kopf und schob mich in Richtung Tür. „Nein, nicht wegen der Schmerzen. Herr Weser war einfach zu penetrant und krakeelte die ganze Zeit herum. Um nicht mit der gesamten Station Ärger zu bekommen, mussten wir ihn schließlich ruhigstellen.“
Da wir bei Weser im Krankenhaus nichts erreicht hatten und es noch früh genug war, beschloss ich, den hilfsbereiten Nachbarn aufzusuchen. Nachdem ich die Kaffeekasse der Station ordentlich aufgefüllt hatte, zeigte sich die Schwester sogar bereit, mir den Namen und die Anschrift des Mannes zu nennen. Der Nachbar hieß Friedgott Angerls und wohnte Weser nahezu genau gegenüber. Sein zufälliges Auftauchen hatte den Angreifer offensichtlich vertrieben.
Bei der angegebenen Adresse handelte es sich um ein ziemlich altes Fachwerkhaus, das ebenso wie Wesers Heim, wohl schon einmal bessere Zeiten gesehen hatte. Neben einer kleinen Einfahrt reihten sich mehrere alte Gebäude aneinander und das Haus machte auf mich den Eindruck, als würde es nur aus einer halben Dachschräge bestehen. Pikanterweise wurden die Gebäude lediglich durch die schmale Gasse von einem Hotel, das ich einst als Umschlagplatz für Drogen kennengelernt hatte, getrennt. Damals herrschte dort eine Triade und die Chinesen waren letztlich auch dafür verantwortlich, dass mein Büro in Flammen aufging. Der Auftrag, den ich als noch selbständiger Detektiv angenommen hatte, nahm damals unerwartete Dimensionen an und nur dank Bernd und seiner Freunde waren Christine und ich einigermaßen unbeschadet aus der Sache herausgekommen. Jedenfalls konnte die Polizei dank unserer Hilfe den Drogenring zerschlagen und einen einzigartigen Sieg über das organisierte Verbrechen feiern. Vor einiger Zeit erfuhr ich, dass das Hotel dann später von einer anderen chinesischen Familie übernommen worden war.
„Hier können sie nicht parken“, wurde ich von einem Mann in Unterhemd begrüßt, kaum dass ich den Wagen verlassen wollte.
„Warum nicht?“ Ich blickte mich um, konnte aber kein entsprechendes Schild entdecken. „Hier ist doch kein Parkverbot?“
„Aber das ist hier eine Einfahrt. Sehen sie, da geht es zu den Häusern und sie stehen direkt vor der Einfahrt. Und da ist auch das Schild ‚Einfahrt freihalten‘. Sie müssen also die Einfahrt freihalten, so steht es geschrieben!“
Ich nickte. Nur dass diese ‚Einfahrt‘ schon nach gut einem dreiviertel Meter von einer fest montierten Holzwand abgesperrt wurde. „Aber hier kann doch gar kein Wagen hineinfahren, wegen der Holzwand dort“, klärte ich die Situation und lächelte den Mann an. Er mochte gut einen Kopf oder mehr kleiner sein als ich, war unheimlich fett und besaß nur wenige schüttere Haare.
„Nun grinsen sie nicht so blöd, wenn sie hier stehenbleiben, rufe ich die Polizei. Hier ist eine Einfahrt und die ist freizuhalten!“ Er wedelte mit der Hand herum, kramte in seinen Taschen und hielt plötzlich ein kleines Smartphone in der Hand. „Nun, fahren sie weg oder nicht?“
Ich resignierte und stieg wieder in meinen Wagen. Hoffentlich handelte es sich jetzt nicht um diesen Nachbarn von Weser, der den Angreifer vertrieben hatte. Das war kein guter Start für eine Befragung.
Nachdem ich mein Fahrzeug ein paar Meter weiter in eine Parklücke gezwängt hatte, kehrte ich zu dem Dicken zurück, der immer noch auf dem Gehweg stand und sich jetzt mit Gisbert unterhielt. In diesem Moment fuhr ein Wagen vor die Einfahrt. Der Mann blickte wohlwollend auf das parkende Fahrzeug.
„Na, der kann jetzt aber auch nicht dort stehen bleiben“, meinte ich und winkte der aussteigenden Frau zu: „Das ist eine Einfahrt hier, da können sie nicht stehenbleiben. Der Mann da ruft sonst die Polizei.“
Die Frau lächelte und schloss den Wagen ab. „Ich kann schon hier stehen“, grinste sie und gab dem Dicken einen Kuss auf die unrasierte Wange. „Ich wohne hier, das ist unsere Einfahrt.“
Ich hob verstehend die Hand. Was interessierten mich die merkwürdigen Besitzverhältnisse und Rituale der Eingeborenen hier überhaupt. Weser war schon merkwürdig, aber dieses Pärchen schien ihm in nichts nachzustehen.
„Kenn sie den Herrn Angerls?“, fragte ich, anstatt mich auf irgendwelche Diskussionen einzulassen.
Der Dicke sah seiner Frau hinterher, die in Richtung Haus verschwand. „Meinen sie Friedgott Angerls?“
„Ja genau, der wohnt doch hier, oder?“
„Das kommt darauf an“, gab er langsam von sich. „Wer will denn etwas von Herrn Angerls?“
Ich dachte nicht daran, mich mit langwierigen Erklärungen aufzuhalten. Was ging den Dicken an, warum wir hier waren? Doch der voreilige Praktikant mischte sich erneut und ungefragt ein.
„Es geht um Herrn Weser“, erklärte er. „Herr Angerls hat dem Herrn Weser vermutlich das Leben gerettet, indem er einen Angreifer verscheucht hat.“
„Ist gut, Gisbert“, ermahnte ich den Praktikanten, „das geht niemanden etwas an.“
„Oh doch“, ließ sich der Dicke jetzt vernehmen. „Ich bin Friedgott Angerls. Das geht mich sehr wohl etwas an! Warum haben sie denn nicht gleich gesagt, dass es um diesen merkwürdigen Alten geht?“
„Sie haben mich ja nicht zu Wort kommen lassen und direkt von dem Parkplatz hier verscheucht“, erwiderte ich. Die ganze Sache hätte eigentlich längst schon erledigt sein können. Was wohnten hier doch für merkwürdige Menschen!
„Das ist kein Parkplatz“, beharrte der Typ jetzt. „Das ist eine Einfahrt und dort steht ein gelbes Schild mit ‚Einfahrt freihalten‘ drauf. Da können sie nicht einfach parken. Haben sie das denn immer noch nicht verstanden?“
Ich seufzte auf. Der dicke Mann schien keine anderen Sorgen, als diesen dämlichen Parkplat... pardon: als diese dämliche Einfahrt zu haben. „Es geht um Herrn Weser. Sie ha...“
„Ja das sagte ihr Sohn doch schon“, unterbrach er mich und sank um einige Punkte auf meiner Beliebtheitsskala. Nicht, dass er dort schon ziemlich hoch angesiedelt gewesen wäre.
„Können sie den Mann beschreiben, der Weser angegriffen hat? Wann war das denn genau? Wie ging alles vonstatten?“
„Sind sie von der Polizei?“, knurrte er jetzt und legte eine Hand auf den Kotflügel seines Wagens. Oder des Wagens seiner Frau. Wer wusste das schon.
„Nein, ich bin Privatdetektiv. Mein Name ist Jonathan Lärpers und dies hier ist nicht mein Sohn, sondern unser Praktikant Gisbert Orbach von der Detektei ‚Argus‘. Herr Weser hat unseren Chef als seine Vertrauensperson im Krankenhaus angegeben und deswegen kümmern wir uns jetzt um die Sache.“
„Sie sind nicht von der Polizei?“
„Nein, das sagte ich doch gerade“, stöhnte ich und hoffte dieses Gespräch bald hinter mir zu haben.
„Ja kümmert sich die Polizei denn nicht um die Sache? Es wird ja immer gefährlicher hier. Jetzt werden wir schon am helllichten Tag hinterrücks überfallen. Man ist ja nirgendwo mehr sicher!“
Ich griff zu einem kleinen Block und machte mir ein paar Notizen. „Tagsüber also. Wissen sie noch, wann und um welche Uhrzeit?“ Auf seine Fragen ging ich lieber gar nicht erst ein.
Der Dicke überlegte angestrengt. „Warten sie, gleich hab ich’s.“
Ich wartete und sah den Mann dabei an. Man konnte richtig erkennen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete und als er seine Finger zum Rechnen zu Hilfe nahm, stahl sich ein Lächeln auf das unrasierte Gesicht. Schließlich kratzte er sich unter dem linken Arm und meinte: „Das war heute Morgen. Muss so um neun Uhr herum gewesen sein, da meine Frau weggefahren ist. Ich habe sie hier noch verabschiedet und als sie fort war, wollte ich wieder ins Haus gehen. Warum soll ich auch auf der Straße herumstehen? Ich kann auch vom Haus sehen, ob hier jemand parkt. Dann aber habe ich etwas bei diesem Weser gehört, auf dem Weg da hinten, und bin hingegangen.“
Prima, jetzt kamen wir der Sache näher. Mich interessierte zwar nicht, wer weggefahren war und von wem er sich verabschiedet hatte, aber die Uhrzeit brachte mich einen kleinen Schritt weiter. ‚Neun Uhr‘ notierte ich und sah den Dicken an, der sich jetzt abwechselnd unter beiden Achseln kratzte. Zum Abschied würde ich ihm jedenfalls keine Hand reichen.
„Und dann haben sie einen Mann gesehen?“, mischte sich Gisbert jetzt ein und ich hätte vor Wut platzen können. Das hier war meine Befragung und die lief bis jetzt ganz gut.
„Ich kam über die Straße und musste noch um die Ecke herumgehen. Sehen sie, da wo die Hecke so merkwürdig gewachsen ist ... Jedenfalls habe ich natürlich erst einmal vor dem Überqueren der Straße nach links und rechts geschaut. Das ist ja mittlerweile ein Verkehr hier, das können sie kaum glauben. Und keiner hält sich an das Tempoligitt, jede...“
„Tempolimit. Limitierung der Geschwindigkeit“, stellte ich richtig und nutzte die Unterbrechung, um das Gespräch wieder in die richtige Richtung zu lenken. Gisbert mit seiner dummen Fragerei verleitete den Mann nur, unnötige Geschichten zum Besten zu geben. Und jetzt meldete sich der vorlaute Praktikant auch noch ungefragt: „Limit kommt von dem französischen ‚limite‘ und lateinischen ‚limes‘ und bezeichnet eine obere oder untere Grenze, wobei ‚limes‘ eher für ‚Grenzweg‘, ‚Grenze‘ oder ‚Grenzwall‘ steht. Der Limes stellte damals die Außengrenze des Römischen Reiches dar.“
Der dicke Nachbar blickte Gisbert irritiert an: „Ihr Sohn weiß aber eine ganze Menge“, stellte er dann tonlos fest.
„Das ist nicht mein Sohn. Und was war nun mit dem Mann?“
Jetzt schaute der Dicke wieder auf mich: „Was für ein Mann, wovon reden sie? Und wenn sie hier parken, dann rufe ich die Polizei. Sehen sie denn das Schild dort nicht? ‚Einfahrt freihalten‘!“
Ich stöhnte erneut gequält auf. War dieser Kerl jetzt schlimmer als Weser? Lag es vielleicht an der Luft in diesem Stadtteil, dass sich die Menschen so verhielten? „Der Mann, der Weser überfallen hat“, erklärte ich verzweifelt.
„Ach so, das müssen sie auch sofort sagen. Aber sie lassen mich ja nicht ausreden ... Also, ich komme da um die Ecke, also um die Hecke, ähm die Ecke mit der Hecke, und sehe, wie so ein Kerl auf den alten Weser einprügelt. Weser rief verzweifelt um Hilfe, aber nicht sehr laut. Das war aber genau das, was ich vorher hörte, bevor ich vorsichtig die Straße überquert habe, nachdem ich nach links und rechts geschaut hatte.“
„Und wie sah der Mann aus?“ Ich hielt meinen Stift bereit, um mir Notizen zu machen.
„Wie ein Mann halt aussieht. Männlich. Viel konnte ich aber nicht erkennen, da er sofort als er mich sah, von Weser abließ und den Weg entlang flüchtete.“
„Wie groß war der Mann, was würden sie schätzen?“, mischte sich Gisbert erneut ein und ich überlegte den Störenfried zum Auto zu schicken.
„Ich denke, vielleicht so groß wie dein Vater. Nein, eher etwas kleiner. So viel vielleicht.“
Der Dicke hielt Daumen und Zeigefinger übereinander und maß damit vielleicht fünf Zentimeter ab. Ich notierte, dass der Angreifer ungefähr ein Meter fünfundsiebzig groß gewesen sein musste.
„Er hatte lange Haare“, fuhr der Dicke fort. „Nicht ganz schulterlang. Und er trug eine Mütze. So ein Ding, wie sie Leute auf einem Boot tragen.“
„Eine Kapitänsmütze?“, hakte ich nach. Das wäre ein Detail, das uns weiterbringen könnte. Wer lief hier schon mit solch einer Mütze herum?
„Nein, eher so eine ... so eine ...“ Der Mann verfiel in eine Art Trance oder Wachkoma oder er überlegte einfach nur. „Pudelmütze“, gab er schließlich von sich. „Nur ohne Pudel.“
„Einen Beanie?“, meldete sich Gisbert zu Wort. Ich wunderte mich, dass er so lange den Mund gehalten hatte.
„Bikini?“, fragte der Dicke auch prompt und schüttelte den Kopf. „Der war ganz normal angezogen. Warum sollte ein Mann im Bikini herumlaufen? Obwohl“, er zog sein Unterhemd hoch, deutete dann auf seinen Bierbauch und die Männerbrüste, die mit Sicherheit vom Bierkonsum herrührten, und lachte: „Ich könnte bald auch im Bikini herumlaufen.“ Immer noch lachend zog er das Hemd wieder herunter und kratzte sich ausgiebig unter der linken Achsel. „Nein, der trug eine Jeans und ein T-Shirt. Da bin ich mir sicher.“
„Und welche Farben hatten die Sachen?“ Jetzt war es wieder an mir, die Fragen zu stellen.
„Keine Ahnung. Blau und Schwarz, glaube ich. Aber ich habe ihn ja auch nur von hinten gesehen. Na ja - vielleicht auch ganz kurz von vorne. Ja, jetzt bin ich mir sicher: Er trug einen Vollbart. Einen roten Vollbart. Ja, da bin ich mir ganz sicher.“
Ich notierte mir alles, befürchtete allerdings, dass wir mit dieser Beschreibung nicht viel würden anfangen können. Aber vielleicht fand Jennifer jemanden in einer der Datenbanken oder im Internet, auf den diese Angaben passten.
„Und dann? Wie ging es dann weiter?“, erkundigte ich mich. Es wurde Zeit, dieses Gespräch zu beenden und zum Büro zu fahren. Ein Blick auf die Uhr sagte mir zwar, dass bis zu unserem Treffen in der Bibliothek noch genügend Spielraum blieb, trotzdem gab es keinen Grund, hier herumzutrödeln.
„Der Mann rannte weg und Weser lag am Boden. Er röchelte und schließlich erbrach er sich. Glauben sie mir, das war kein schöner Anblick, wie der Alte da so in dem stinkenden Zeug lag. Ich habe ihn dann gefragt: ‚Wie geht’s, Herr Weser?‘, doch er hat nicht geantwortet. Dann kam so eine Frau mit einem kleinen Kind an der Hand und die hat dann einen Krankenwagen und die Polizei gerufen.“
„Das Kind hat den Krankenwagen gerufen?“, fragte ich.
„Nein, die Mutter natürlich. Aber ich bin dann wieder nach Hause gegangen und habe ferngesehen. Bis plötzlich die Polizei bei mir geklingelt hat. Die dachten doch wirklich, ich hätte den Weser zusammengeschlagen. Aber warum sollte ich das tun? Weser ist zwar nicht sonderlich nett, aber wir waren immer gute Nachbarn. Das habe ich auch der Polizei erklärt. Und dann habe ich gesehen, dass die hier mit ihrem Polizeiwagen vor der Einfahrt standen. ‚Das geht aber nicht‘ habe ich gesagt. ‚Das ist eine Einfahrt und da steht ein Schild mit Einfahrt freihalten drauf. Und wenn sie hier weiter parken, rufe ich die Polizei‘, habe ich gesagt.“
„Gut, gut“, nickte ich und wandte mich zum Gehen. „Danke für ihre Hinweise.“ Dann fiel mir noch etwas ein und ich musste fast laut lachen. „Das Schild da“, ich deutete auf das gelbe Schild an einem Zaun, „ist ein wenig zu klein. Man kann es ja kaum sehen. Kein Wunder, dass hier schon einmal jemand parkt. Sie sollten es durch ein größeres ersetzen. So mindestens ein Meter mal zwei Meter, dann übersieht es auch niemand.“
Der Dicke blickte abwechselnd zum Schild und dann wieder zu mir. Schließlich nickte er: „Ja, da haben sie Recht. Danke für den Tipp. Ich werde mich gleich morgen früh darum kümmern. Das ist ja eine Einfahrt und kein Parkplatz. Danke nochmal!“
Leise vor mich hin lachend, rutschte ich hinter das Lenkrad und beobachtete Gisbert, wie er über die Straße kam und dabei fast von einem Wagen angefahren wurde. ‚Immer nach links und rechts gucken‘, dachte ich bei mir und schüttelte leicht den Kopf.