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Inszenierte Rebellion

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Nach der Entmachtung Mubaraks am 11. Februar 2011 sind die Aktivisten des Volksaufstandes beziehungsweise die Revolutionäre, wie man sie in Ägypten nennt, eine Weile noch Helden, auch für das Militär, das sie hin und wieder sogar als edle Söhne und Töchter Ägyptens preist. Ahmed Maher von der Protestbewegung 6. April und einer der wichtigsten Wortführer der Revolution erinnerte sich gegenüber einem Reporter der New York Times an seine erste Begegnung mit den Armeeführern vom Obersten Rat der Streitkräfte (SCAF): »Sie waren merkwürdig nett und lächelten und versprachen uns viele Dinge. Sie sagten: ›Ihr seid unsere Kinder, ihr habt das getan, was wir seit Jahren schon tun wollten.‹« Das Treffen fand drei Tage nach dem Sturz Mubaraks statt. Bei weiteren Treffen eine Woche später und einen Monat später hätten die Armeeführer wieder gelächelt und dieselben vagen Zusicherungen gemacht.

Die hochrangigen SCAF-Offiziere werden für die Übergangszeit die neuen Machthaber im Land. Sie bilden eine Übergangsregierung, die aber in Kernfragen nur der Erfüllungsgehilfe der Armee ist. Das Parlament wird aufgelöst, Mubaraks einstige Regierungspartei verboten. Der Oberste Rat der Streitkräfte ernennt neue Minister und setzt sie wieder ab. Er erlässt Gesetze – ganz undemokratisch, denn sie werden einfach formuliert und den Menschen vorgesetzt. Vieles von dem ist in solch einer Übergangsphase nicht anders möglich. Aber die Aktivisten beschleicht das Gefühl, dass sie zum Spielball geworden sind. Sie und andere Kräfte des Umbruchs sind komplett vom Wohlwollen der Armee abhängig, die sie immer wieder zappeln lässt. Es kommt zu neuen Protesten, im Sommer 2011 wird auf dem Tahrir-Platz für ein paar Wochen wieder ein Protestcamp errichtet. Eine Formulierung, die man ab jetzt ständig hört, lautet: »Die Revolution ist noch nicht zu Ende, sie geht weiter.«

Jeder macht sich seinen eigenen Reim auf den Schwebezustand, in dem sich das Land befindet. Die Zeitung Al-Masry Al-Youm schreibt im Juni, dass es mindestens 200 Revolutionskoalitionen im Land gibt. Mehr als 60 Parteien wurden neu gegründet. Vielleicht ist es das, was Robert Springborg meinte, als er sagte, dass die politischen Kräfte auf absehbare Zeit zersplittert bleiben würden. Aber diese Fragmentierung hat auch damit zu tun, dass sich plötzlich fast jeder im Land für Politik interessiert. Im Cilantro Café im Kairoer Viertel Zamalek treffe ich Ghada Arafa. Die 29-jährige Projektmanagerin in einem IT-Unternehmen erzählt, dass sie ihr ganzes Leben lang unpolitisch und passiv verharrte. »Ich war nie eine aktive Bürgerin. Aber jetzt habe ich mich über meine Rechte informiert und über meine Verantwortung, und ich möchte dieses Wissen weitergeben.« Innerhalb weniger Tage mobilisiert sie per SMS und E-Mail rund 300 Freiwillige. Auf Workshops in Nachbarschafts- und Jugendzentren bereiten die Freiwilligen interessierte Wähler auf die kommenden Wahlen vor, besonders in Armenvierteln. Sie erzählen den Leuten zwar nicht, was sie wählen sollen, aber worauf sie achten müssen, wenn sie zum Beispiel Wahlprogramme lesen oder den Kandidaten zuhören. Die Resonanz ist überwältigend, besonders bei den sogenannten einfachen, eher ungebildeten Leuten. »Im Bassatin-Viertel sagten die Leute, wir sollen unbedingt wiederkommen. Sie würden dann ihre Familien und Nachbarn mitbringen.«

Auch in die Muslimbruderschaft kommt Bewegung. Mitglieder verlassen die Organisation oder werden ausgeschlossen, weil sie sich der strengen ideologischen Disziplin widersetzen. So wie Islam Lotfy, der ja bereits am 28. Januar von Mohammed Mursi persönlich dafür gescholten wurde, dass er sich der Revolution angeschlossen hatte. Im Frühsommer treffe ich mich mit ihm im Café Groppi am Talaat-Harb-Platz. Das von dem Schweizer Giacomo Groppi vor gut hundert Jahren eröffnete Kaffeehaus war einst eine der feinsten Adressen des kosmopolitischen Kairo, bevor es immer trister und schäbiger wurde und später dann ganz schließt. Das Café Groppi eignet sich hervorragend für Interviews, weil es so zentral liegt und oft leer ist. Und so schildert mir hier Islam Lotfy, der frühere Muslimbruder, dass die Revolution auch sein Islam-Verständnis veränderte, vor allem mit Blick auf das Verhältnis von Staat und Religion: »Es ist nicht die Aufgabe des Staates, den Islam attraktiv für die Menschen zu machen. Er muss für Freiheit und Demokratie sorgen, damit die Leute frei leben und denken können. Dann entscheiden sie selber, was für sie attraktiv ist.« Lotfys Auffassungen sind für die alten Ideologen der Bruderschaft undenkbar. »Wenn es eine Verfassung gibt, auf die sich die Bürger demokratisch einigten, wenn es Rechtsstaatlichkeit gibt und alle Menschen vor dem Gesetz gleich sind, wenn sie den frei wählen, der sie repräsentieren soll – dann ist es mir völlig egal, ob ich von einem Muslim oder einem Christen oder von einer Frau regiert werde. Meinetwegen von einem Affen.« Der damals 33-jährige Anwalt lacht und fügt hinzu: »Wenn er sich an die Verfassung hält.«

Zu jener Zeit laufen im Land atemberaubende Denkprozesse ab, es ist, als hätte jemand das Fenster geöffnet und frische Luft hereingelassen. Aber die Muslimbruderschaft hat keine Lust mehr auf ideologische Grabenkämpfe. Mit starrem Tunnelblick visiert sie bereits ihr wichtigstes Nahziel an: die Parlamentswahlen im Winter 2011, bei denen sie als am besten aufgestellte Kraft mit einem überwältigenden Erfolg rechnet. Immer öfter fällt sie den anderen Regimegegnern in den Rücken.

Gleichzeitig misstrauen die meisten Aktivisten spätestens seit dem Sommer auch dem Militär. Sie spüren, dass sie an den Rand gedrängt werden sollen. Etliche hoffen auf eine Fortsetzung der Revolution, sie haben Angst, dass alles umsonst gewesen sein könnte. Als sich Ende November aus einem Protest auf dem Tahrir-Platz tagelange Straßenschlachten mit Sicherheitskräften in der benachbarten Mohammed-Mahmoud-Straße entwickeln, reagieren die Sicherheitskräfte mit außergewöhnlicher Brutalität, mehr als 40 Demonstranten werden getötet. Auf die Sympathie oder gar die Solidarität der Muslimbruderschaft können die Aktivisten nicht mehr hoffen. Führende Muslimbrüder beschimpfen die Protestierenden als Unruhestifter, die nichts als Chaos verursachen und die Wahlen gefährden würden.

Die Aktivistengruppen und auch viele Oppositionelle fordern ein Ende der Militärherrschaft und tatsächlich auch eine Verschiebung der Wahlen. Aber ihre Stimmen finden immer weniger Widerhall. Viele Ägypter haben es inzwischen satt, im Fernsehen ständig Gewalt und Chaos zu sehen. Die Musik spielt immer öfter woanders, zum Beispiel in den Hinterzimmern der Macht. »Ich denke, dass es längst einen Deal zwischen dem Obersten Militärrat und den Islamisten gibt«, sagt der prominente liberale Aktivist Shady ElGhazaly Harb am 9. Dezember 2011 dem Time Magazine. »Der Militärrat möchte, dass die Islamisten die Macht übernehmen. Er möchte den Ägyptern mit der Muslimbruderschaft und den Salafisten Angst machen, so dass er schließlich einen vom Militär als Präsidentschaftskandidaten durchdrücken kann. Dann ist die Revolution wirklich zu Ende.«

Eigentlich präsentierte sich das Militär ja immer als Bollwerk gegen die Islamisten, als Kraft der Mitte, deren Aufgabe es ist, das Land zusammenzuhalten und vor radikalen Einflüssen zu schützen. Aber in der Realität passiert jetzt etwas anderes: Das Militär wird zum Steigbügelhalter der Muslimbruderschaft auf ihrem Weg zur Macht.

Das wird bereits im März 2011 deutlich, als der Hohe Rat der Streitkräfte Verfassungsänderungen präsentiert und in einem Referendum über sie abstimmen lässt. Die geänderten Paragrafen legen unter anderem fest, dass es das neue Parlament sein wird, das die nächste, komplett neue Verfassung schreiben lässt. Die Islamisten sind begeistert, für sie würde ein Traum in Erfüllung gehen, sie fühlen sich stark. Im Lager der Säkularen sind viele erschüttert. Sie verstehen nicht, wieso ausgerechnet das Militär sehenden Auges dafür sorgt, dass Ägypten höchstwahrscheinlich eine islamistisch geprägte Verfassung erhält. Sie fordern, dass die Reihenfolge geändert wird: zuerst eine neue Verfassung, die die Interessen aller Ägypter berücksichtigt, dann Parlaments- und Präsidentenwahlen.

Beim Referendum werben die Islamisten massiv für ein Ja zur Verfassungsänderung, aber auch die staatlichen Medien und viele private armeetreue tun dies. Entsprechend fällt das Ergebnis aus. 77 Prozent der teilnehmenden Wahlberechtigten sind mit den Verfassungsänderungen einverstanden.

Ein paar Tage später macht das Militär den Islamisten überraschend das nächste Geschenk. Es veröffentlicht eine weitere Verfassungserklärung, die sofort gilt, diesmal ohne Volksabstimmung. Anders als zuvor ist es nun plötzlich sogar erlaubt, Parteien zu gründen, die einen religiösen Bezug haben. Besser kann es für die Islamisten gar nicht kommen. Und wieder sind die säkularen Kräfte schockiert. Sie leiden zudem darunter, dass das Militär auf eine schnelle Ausrichtung der Parlamentswahlen besteht. Auch davon profitiert die Muslimbruderschaft, die ja anders als viele andere Kräfte bereits gut organisiert ist und einen hohen Bekanntheitsgrad genießt.

Doch das Militär schafft den Islamisten nicht nur relativ komfortable Rahmenbedingungen. Zusammen mit den Kräften des alten Regimes in Medien und Justiz schwächt es auch etliche ihrer Konkurrenten. Vor allem dämonisiert es immer öfter die Wortführer der Revolution. Es habe damit schon begonnen, als die Revolution noch in vollem Gange war, erzählt Bothaina Kamel: »In einem persönlichen Gespräch hat mir Armeegeneral Ismail Etman während der Revolution auf dem Tahrir gesagt, dass er die Revolutionäre für gekaufte Agenten hält. Das war die Meinung eines Vertreters des Militärrats schon während der Revolution.« Die Oppositionspolitikerin schildert dies im Juli 2011 auf einer Pressekonferenz der Protestbewegung 6. April. Kurz zuvor hatte der Oberste Rat der Streitkräfte die Erklärung Nr. 69 veröffentlicht. Darin beschuldigen die Generäle die Bewegung 6. April, die Fortschritte beim demokratischen Umbau des Landes zu sabotieren. Im Fernsehen wird General Al-Roweiny noch deutlicher. Die Menschenrechtsgruppen wie auch die Bewegung 6. April, das seien Agenten des Auslands, die dafür bezahlt würden, Ägypten ins Chaos zu stürzen. Feindliche Agenten, Chaos – das kommt den Ägyptern bekannt vor. Propaganda dieser Art haben sie schon unter Mubarak gehört. »Das alles beweist«, sagt Bothaina Kamel, »dass das Mubarak-Regime weiter existiert und dass uns jetzt die Konterrevolution regiert.«

Die populäre Aktivistin Asmaa Mahfouz, die mit einem eindrucksvollen, mutigen Onlinevideo im Vorfeld des Volksaufstandes zur Mobilisierung der Massen beitrug, geht noch einen Schritt weiter und bedankt sich sarkastisch beim Militär: »Die Erklärung Nummer 69 hat mich sehr gefreut. Sie hat bewiesen, dass das Mubarak-Regime noch am Leben ist. Sie zeigt uns allen, dass der Sturz Mubaraks nur eine Show für die Leute war.« Es hat längst etwas begonnen, das am Ende zu einer völligen Umdeutung der Revolution führen wird, angetrieben von regimetreuen Medien, Politikern und vom Militär. Aus jenen, die den Volksaufstand auslösten und die auch das Militär eine Zeit lang als Helden bezeichnete, werden später Volksverräter.

Im Sommer 2011 erheben die Aktivisten und andere Regimekritiker deshalb ihre Stimme immer lauter gegen die Armee und gegen ihren Oberbefehlshaber, Feldmarschall Tantawi. Das ist ein Tabubruch. Immerhin wurde erst im April ein Blogger zu drei Jahren Haft verurteilt, weil er das Militär kritisiert hatte. Die Armee setzt Journalisten unter Druck, vor Militärgerichten finden Prozesse gegen Zivilisten statt. Zu aggressivem, harten Hip-Hop-Sound singt der Rapper Rami Donjewan: »Wie geht’s Dir, Marschall Tantawi? Ich hoffe, Du begreifst, dass das Volk erwacht ist und jetzt zu Dir kommt! Wer einmal eine Revolution gemacht hat, kann sie jederzeit wiederholen. Marschall Tantawi, wo sind die Gerichtsprozesse, die Rechte der Armen, der Toten, der Märtyrer? Das Blut meines Bruders ist kostbar. Keiner kann uns bedrohen!« Aber das Volk ist nicht wieder erwacht, im Gegenteil. Viele Ägypter verstehen nicht mehr, was da gerade passiert. Es soll doch Parlamentswahlen geben, einen neuen Präsidenten, eine neue Verfassung, das Militär kümmert sich um einen geordneten Übergang, was um alles in der Welt wollen diese ewigen Kritiker denn noch?

Von Ende November 2011 bis Mitte Januar 2012 finden die Parlamentswahlen statt. Die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Muslimbruderschaft wird stärkste Kraft, sie erringt fast die Hälfte aller Stimmen. Wenn man die Salafisten hinzurechnet, dann sind im neuen Parlament rund zwei Drittel aller Volksvertreter Islamisten. Die Muslimbrüder haben die erste Hürde genommen und glauben, dass sie niemand mehr aufhalten kann – außer dem Militär. Aber vielleicht will das Militär sie gar nicht aufhalten, jedenfalls noch nicht. Vielleicht möchte die Armee die Muslimbruderschaft vorführen und krachend scheitern lassen. Womöglich stimmt es auch nicht, dass die Militärs die Übergangsphase verpatzen und lauter Fehlentscheidungen treffen, wie oft behauptet wird. Vielleicht läuft im Gegenteil ja sogar vieles genau so ab, wie die Armee es sich erhofft hat.

Am Tag der Verkündung des Wahlergebnisses Anfang 2012 gibt es ein paar einzelne Beobachter, die vermuten, dass das neue Parlament nur eine kurze Lebensdauer haben würde. Das vom Militär erlassene Wahlgesetz würde in einigen Punkten nicht verfassungskonform sein. Fünf Monate später beschließt das Verfassungsgericht tatsächlich die Auflösung des Parlaments – weil das Wahlgesetz, das unter dem Militär in Kraft gesetzt wurde, nicht rechtens war. Es wird immer deutlicher, auf welche Konstellation das Machtgefüge im Land hinausläuft: auf der einen Seite die machttrunkene, aber angeschlagene Muslimbruderschaft, auf der anderen Seite die Armee und die Kräfte des alten Regimes. Ein ägyptischer Aktivist postet eine Fotomontage auf Facebook. Sie zeigt einen Kampf zwischen Godzilla und King Kong. Es ist das, womit er rechnet, ein Kampf der Giganten.

Die Wähler haben der Muslimbruderschaft nicht diesen haushohen Sieg bei den Parlamentswahlen beschert, weil sie so scharf auf die Ideologie der Islamisten sind. Allerdings hielten sie die Muslimbruderschaft für weniger korrupt als das alte Regime. Die Muslimbrüder waren auch jene, die in den Jahrzehnten der Mubarak-Herrschaft viele soziale Dienste anboten, um die der Staat sich nicht kümmerte. Sie brachten gebrechliche alte Menschen zum Arzt, sie boten kostenlose medizinische Behandlung für mittellose Patienten an. Witwen erhielten von ihnen Kleinkredite, um ein kleines Gewerbe aufzubauen, mit dem sie ihre Familien ernähren konnten. Unter anderem dafür wurde die Muslimbruderschaft bei den Parlamentswahlen gewissermaßen belohnt. Viele Wähler dachten auch: Was soll schon schlecht daran sein, gottesfürchtige Menschen zu wählen? Die Freiheits- und Gerechtigkeitspartei der Bruderschaft profitierte somit von ihrem religiösen Image.

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